Lerimont nickte und man sah die Zustimmung in den Gesichtern von Koros und den anderen Seemännern. Sie waren an den Gewinnen des Handelshauses Leri beteiligt, da der Handelsherr zu recht davon ausging, dass dies die Motivation steigere, sich für den Erfolg deines Geschäftes einzusetzen.
Leriana deutete in Richtung der Mulde. „Drei Tausendlängen vom Ufer und die Tiefe beträgt dort kaum dreißig Längen. Noch weniger, da die Korallenbänke in die Höhe ragen.“
Lerimont lächelte. „Du bist nun die Führerin des Schiffes und du entscheidest. Was ist dein Wille, Kind?“
Leriana fand es ein wenig unpassend, dass der Vater sie, praktisch im gleichen Atemzug, als Schiffsführerin und als Kind ansprach, auch wenn dies den Tatsachen entsprach. Doch für den Vater würde sie stets das Kind bleiben, gleichgültig, in welchem Alter und in welcher Funktion sie sich befand. „Wir fahren aufgetaucht, ankern über der Mulde und ernten den Kristallstock.“
Koros klatschte in die Hände, was innerhalb des Wassers eher gemächlich wirkte und einen dumpfen Laut verursachte. „Ihr habt Sanari Leriana gehört, Seemänner der An-Nerriva. Löst das Geschirr und dann alles an Bord. Wollos, betätige das Schallhorn. Drei unserer Männern sind noch draußen und sollen wissen, dass sie nun zum Schiff zurückkehren müssen.“
Während das Ladegeschirr gelöst wurde, betätigte Wollos das Unterwasserschallhorn. Der seltsam quäkende Laut trug sehr weit und als alles Arbeitsgerät wieder an Bord war, trafen die anderen drei Schwimmer ein, deren Erkundungen erfolglos geblieben waren. Umso größer war deren Freude, als sie von Lerianas Entdeckung erfuhren.
Die Antriebswelle wurde bemannt, die Anker eingeholt und dann ließ Leriana langsam Pressluft in die Ballasttanks blasen. Gemächlich stieg die An-Nerriva zur Oberfläche empor.
Das Wasser reichte nun noch zur Hälfte der Bugverglasung und man konnte im oberen Teil die nahe Insel sehen. Leriana hatte nur selten festes Land betreten und sah neugierig hinüber. Ein langer weißer Sandstrand, gesäumt von üppigem Grün hoher Urwaldriesen. Im Hintergrund ragte die Spitze eines Berges auf. Zwischen der An-Nerriva und dem Ufer erstreckte sich das Wasser, aus dem an einigen Stellen Felsen aufragten.
Die See war ruhig und es gab kaum Wellengang, was die Arbeiten sehr erleichtern würde. Der Himmel war klar. Gegen das Sonnenlicht hob sich kaum eine Wolke ab. In der Ferne war ein Schwarm von Vögeln zu sehen, die immer wieder auf das Wasser hinabstießen, um einen Fisch zu erbeuten.
„Kurzarm“, befahl Leriana. „Langsame Fahrt voraus. Koros, achte mir auf die Felsklippen.“
Dieser Anweisung hätte es bei dem erfahrenen Steuermann nicht bedurft und seine Bestätigung klang ein wenig beleidigt. „Selbstverständlich, Sanari.“
Leriana hatte, wie alle Angehörigen des Wasservolkes, einen ausgezeichneten Orientierungssinn und dirigierte das alte Handelsschiff mühelos an die richtige Position. Als die beiden Anker auf den Grund sanken, versammelten sich alle um die offene Ladeluke in der Unterseite des Schiffes und starrten andächtig in die Mulde mit den Kristallen hinunter.
„Es ist wahr“, seufzte Donberon, als habe er an Lerianas Schilderung gezweifelt. „Was für ein Fund. Welche Macht an Magie die Blaukristalle bedeuten, lässt sich kaum abschätzen.“
„Seht euch nur die Größe der Mittelsäule an“, kam es von Koros. „Und dann die Blüte um sie herum. Die Händler werden sich um die Kristalle reißen.“
„Erst müssen wir sie ernten“, brachte Lerimont in Erinnerung. „Und denkt daran, es ist nicht damit getan, die Säulen zu fällen.“
Man wusste immer noch nicht, was diese Kristalle nun wirklich waren. Sicher war eigentlich nur, dass ihre äußere Struktur rein mineralisch war, jedoch der Kern in ihrem Inneren aus biologischem Material bestand. Das Innere lebte und es gab Vermutungen, dass dieses biologische Innere im Verlauf der Jahre einen mineralischen Panzer um sich herum erschuf, um sich damit zu schützen. Andere behaupteten, das biologische Leben würde sich in die Kristalle hineinfressen und sich so einen Bau erschaffen. Ähnlich jener ungepanzerten Krebstiere, die eine Muschel als Heim erwählten.
Doch in jedem Fall war sicher, dass das biologische Leben im Inneren der Kristalle starb, sobald die Säulen von der Kristallblüte getrennt wurden. Innerhalb weniger Stunden wurden die Kristalle dann stumpf und nutzlos. Wollte man ihre verschiedenen Fähigkeiten erhalten, so war man gezwungen, das biologische Innere aus ihnen zu entfernen, bevor es sich zu zersetzen begann. Es war keine besonders schwierige, aber eine sehr unangenehme Arbeit, denn das absterbende biologische Material stank bestialisch.
„Wir brauchen Kristallsägen, Kernzieher und Putzstöcke.“ Koros wies auf einzelne Seemänner und teilte sie ein. „Wenn der Handelsherr zustimmt, so werde ich die trennenden Schnitte vornehmen.“
Lerimont nickte. „Du hast die größte Erfahrung und sicherste Hand beim Trennen der Kristalle. Du wirst die Arbeit zum Erfolg führen, Koros.“
Kristalle ließen sich immer wieder finden, vor allem in tieferen Gewässern, doch immer in Bereichen, in die noch ein klein wenig Sonnenlicht einfiel. In der ewigen Finsternis der Tiefe schienen sie nicht zu gedeihen. Meist stieß man auf wesentlich kleinere Säulen. Es gab blauen und weißen Kristall. Der Weiße war ein hervorragender Lichtspeicher, doch nur der Blaue besaß die Fähigkeit, magische Kräfte zu verstärken. Er war daher vor allem bei jenen Völkern begehrt, die über eigene Magier verfügten. Sie alle waren auf jene Wenigen angewiesen, die in der Lage waren, die Kristallblüten zu finden und sie abzubauen. Hauptsächlich war dies das Wasservolk, doch es sollten im nördlichen Meer schwimmende Städte von Zwergen existieren, die in der Lage waren, mit Anzügen in die Tiefe zu tauchen, und die ebenfalls mit Kristall handelten. Ob es diese Wesen tatsächlich gab, wusste keiner der Antari zu sagen. Manche hielten die Zwerge der Meere für eine jener Geschichten, mit denen fremde Reisende gelegentlich gerne prahlten.
Auch Handelsherr Lerimont hatte schon Kristalle geerntet, doch jetzt, im hohen Alter, verfügten seine Hände nicht mehr über die Ruhe jüngerer Jahre. Auch die Sehkraft seiner Augen hatte nachgelassen. So war Koros die erste Wahl, wenn es darum ging, die Kristallsäulen abzutrennen und ohne Schaden zu bergen.
Die riesige An-Nerriva schwebte, von ihren Ankern gehalten, scheinbar reglos über der Mulde. Ihr Anblick würde wohl jeden Schwarm von Dornfischen von einem Angriff abhalten, denn die Jäger mussten das Unterwasserschiff für ein unbekanntes Ungetüm aus der Tiefe halten. Dennoch postierte Lerimont vorsichtshalber ein Dutzend Seemänner mit Pfeilspeeren rund um das begehrte Objekt, während Koros und drei Helfer hinabschwammen und sich an die Arbeit machten.
Der Steuermann begutachtete die Hauptsäule und die kleineren der Blüte, klopfte gegen das Kristall und lauschte dem hell singenden Laut, den dieser von sich gab. Schließlich nickte Koros zufrieden und markierte für jede der Säulen die Stelle, an welcher der Trennschnitt gesetzt werden musste.
Während sich die Säge durch die erste Säule fraß, bereitete Leriana die danach anfallenden Arbeiten vor. Zusätzliche Leinen wurden neben den Ketten des Ladegeschirrs angeschlagen, Kernzieher und Putzstöcke bereitgelegt. Die ganze Zeit sah Donberon den Vorbereitungen mit wachsender Nervosität zu. Unruhig knetete er die Finger und stieß immer wieder leise Seufzer hervor. Diese Unrast rief immer wieder belustigte oder auch verärgerte Blicke der Männer hervor, die Leriana zur Hand gingen.
„Vielleicht sollten wir das Schiff mit Wasser fluten“, schlug Donberon schließlich vor. „Das würde das Kristall schonen, wenn wir das Innere ausräumen.“
Der Magier wollte wohl kaum an Bord bleiben, wenn die biologische Masse aus dem Kern gekratzt wurde, denn der Gestank würde mörderisch sein. Leriana verstand die Erregung des Hochmagiers und lächelte besänftigend. „Meister Donberon, wir können das Schiff nicht fluten. Im Wasser würden sich die Duftstoffe der Zersetzung noch sehr viel schneller verbreiten.“
„Ein ungeheuerlich verlockender Gestank