„Das sind ungebildete Arbeiter, die alles tun, ja alles was sie für richtig halten, die denken nie darüber nach, sie saufen, sie haben nichts anderes als die Kneipe hier vor sich, wo Yolanda ihnen das Geld aus der Tasche fischt, die nur betrunken sind und spätabends zu ihren Weibern Heimtorkeln.“ Ferry war noch nie betrunken, er hasste jede Art von Alkohol, er verabscheute ihn. Ein Schluck aus dem Bierglas von Tanno, ließ ihn fast erbrechen.
Yolanda war also eine Ausbeuterin, wie macht sie das bloß? Und warum sind alle Schichtarbeiter, die im Werk ihren Lebensunterhalt für sich und ihre Frauen und ihre Kinder verdienen, gleich Proleten? Können sie nicht lesen? Haben sie niemals das Einmaleins gelernt? Was ist das denn für eine Arbeit, wo man dies nicht brauchen kann? Ihr Vater Eduard hatte das Maurerhandwerk erlernt, gleich nach der Grundschule. Er war weder unzivilisiert noch schien es ihr, als sei er ein ungebildeter Mensch, im Gegenteil, sie hatte viel von ihm gelernt, er las genauso viel, oder mindestens so viel wie ein Grundschullehrer. Er brachte ihr einiges bei, ihrem Alter angemessen, sie begriff vieles ohne Mühe in nur wenigen Augenblicken. Was meinte Ferry nur mit seinen Aussagen? Eduard bewies Geduld, er wusste ohnehin, dass seine Tochter nicht viel Zeit dazu brauchte, wenn er ihr erklärte, wie ein kleiner Mensch im Körper einer Frau heranreifte, eine kleine Zelle, die, wenn sie befruchtet wurde, eine fertiges kleines Wesen hervorbrachte, genauso wie sie es wäre. Damals war sie fünf, und die Ehrlichkeit ihres Vaters beeindruckte sie, kein Blümlein und Bienchengerede, sie wusste von Anfang an Bescheid. Freya war da schon zurückhaltender, doch sie war froh, dass dies nun ausgesprochen war. Auch Dorothea lauschte gespannt, es kamen dann keine peinlichen Fragen mehr, beide Töchter schienen mit den Antworten zufrieden zu sein. Doch, so merkte sie genau, haben auch wohl die Unaufgeklärten ihren frühen Platz der Elternschaft herausgefunden, nicht viele wussten über Befruchtung und Fortpflanzung Bescheid, der natürliche Trieb, die Verliebtheit ließ sie erkennen, dass es auch andere Gefühle gab, die meistens mitten im Schritt, zueinander kommen, sich vereinten und danach bald der Zweisamkeit mit einem kleinen dritten Menschen auskommen mussten. Die Besiegelung stand dann fest, Hochzeiten gab es viele, auch wenn sie oft nie die glücklichste Ehe führten. Franzine stampfte es in ihrem Herzen fest, sie wusste, worauf sie sich einließ, sie wollte es nicht anders haben. Ferry war der Richtige, es gab keinen anderen. Was hat das mit Bildung zu tun? Können Gefühle mit ausreichendem Wissen etwas zu tun haben? Nein…das Herz bricht viele Wellen die über einen zusammenschlagen und das Gefühl der Frische und Jugend hat so manche Ketten gesprengt, sie sind schwächer als das laut pochende Herz, das für einen geliebten Menschen schlägt. Und das war Ferry, nur Ferdinand, der zurückkehrte, der ihre Tochter gezeugt und sie liebte, der sie nie im Stich lassen könnte und immer dafür sorgte, das sie ausreichend zu essen, gut leben und sich glücklich fühlen sollten.
Ferry arbeitet nicht, ist er deshalb besser und gebildeter? Franzine durchschoss ein Gedanke, der ihr gar nicht behagte. Er wollte besser als alle anderen sein, doch der Beweiß stand noch aus, sie fragte auch nicht danach, es war ihr genehm, so wie es gerade war. Sie wusste, er hatte das Tischlerhandwerk gelernt, sogar mit Auszeichnung abgeschnitten, ist er dadurch ein besonderer Mensch? Vielleicht…
Ferry konnte alles, rechnen wie ein Computer und er sprach ein gutes Deutsch. Er kümmerte sich nicht um Arbeit, er hasste dieses Wort. Arbeit bedeutete für ihn, abhängig zu sein, jemanden zu dienen, wo er nur Lohnempfänger wäre. Geld macht zum Sklaven seiner Natur, keine freien Gedanken mehr. Nur noch regelmäßig den Dienst verrichten, wen diente es wirklich?
Sie traten den Heimweg an, es wurde heißer und Bernadette zeigte keine Anzeichen von Müdigkeit. Ihr Mund war immer zu einem Kleinkindlächeln bereit, ihre Wangen waren rosa und ihr Temperament spürte Ferry an seinen Armen, immer war sie in Bewegung.
Sie kamen wieder zu Hause an, Tanno war nicht mehr in seiner Werkstatt, der Hof war leer und verlassen. Die Mittagssonne schien heiß und erbarmungslos vom Himmel und die Düfte der Haushaltsküchen im Haus drangen ins Freie. Fisch, Gebratenes, nach Süßspeisen mit Zimtduft getränkte Luft, erfüllte das Stiegenhaus, indem Ferry, Franzine und Bernadette in diesem Augenblick hinaufstiegen.
Zwei kleine, mit viel Einfühlungsvermögen zurecht geschnitzte Puppen lagen nebeneinander friedlich in Bernadettes Gitterbettchen. Eine weibliche und eine männliche Figur lagen nebeneinander auf dem kleinen Kissen. Aus dünner Schafschurwolle hatte Opa Tanno der weiblichen Gestalt Zöpfchen auf den runden Kopf geklebt. Bei der männlichen Holzpuppe hatte er aus schwarzer Farbe einen Bart auf der Oberlippe und einen dünnen Streifen am Kinn gemalt. Die Puppe wies eine typisch männlichen Haarschnitt auf, mit Seitenscheitel bis fast zum linken Auge und ausgeprägt dicht bis zum Hinterkopf. Franzine sah als Erste die gut geformten Holzfiguren im Bett liegen und stieß einen bewundernden Schrei aus. Tanno bezeichnete sie als Künstler, in keinem Spielwarengeschäft könne man so etwas sehen, geschweige denn, kaufen.
„Sogar die Ellbogen und die Knie kann man bewegen“, stieß sie freudig aus und hielt ihrer kleinen Tochter das Holzpüppchen hin. Tanno lachte, er freute sich ebenso wie alle anderen über sein gelungenes Werk.
„Mein Vater, der Künstler“, sagte auch Ferry, der überrascht in die Runde lachte, denn niemals zuvor hatte er solch Kunstwerk bei ihm gesehen.
„Mit viel Liebe erzeugt“, rief Tanno, „ für Enkelin und Sohn, der es sicher besser gemacht hätte“, er nahm Ferry bei den Schultern und nickte ihm zu.
„Es ist einfach wunderbar“, sagte Franzine und Bernadette nagte auch schon an der weiblichen Puppe herum. Auf die Lackierung verzichtete Tanno dann doch, ihm fiel ein, dass kleine Kinder immerzu an Spielzeugen zu nagen pflegten.
„Scheint ihr zu schmecken“, sagte auch Senta, die gerade mit ihrem Mittagessen fertig geworden war. Es gab heute Wiener Schnitzel, Kartoffelsalat und als Nachtisch einen köstlichen Vanillepudding. Ein Glückstag für alle. Franzine verspürte richtigen Appetit, sie deckte sogleich den Küchentisch und alle nahmen daran Platz. Bernadette saß im Gitterbettchen und begutachtete ihr neues Spielzeug. Ein kleines Tellerchen wurde ihr gereicht, klein geschnittene Schnitzelstücke und etwas Kartoffelsalat aß sie mit ihren Fingerchen genüsslich auf. Der Pudding mundete ihnen fantastisch, auch Bernadette wurde mit der süßen Speise liebevoll von Franzine gefüttert. Das Familienbild konnte in diesen Minuten nicht schöner sein, alle zufrieden, glücklich und vereint am großen Tisch in der Mitte, ein lachender Ferry, der immer wieder seine Frau in den Arm nahm und sie küsste, wie frisch Verliebte die erkannt haben, dass sie für immer zueinander gehören sollten.
Franzine genoss die Zuneigungen Ferrys in diesen Momenten wie eine frisch erwachte Dornröschenbraut. Ihre Gefühle waren unbestritten, die stärksten, die sie jemals für einen Mann je empfunden hatte. Kein Vergleich zu Manuel, in dem sie vor Jahren ihr Herz verloren hatte, sich opfern wollte, er war fast vergessen. Niemand konnte sich mit Ferry vergleichen, er war und ist das Beste, das ihr je untergekommen war.
Auch Thorsten wurde von Tanno mit selbstgemachten Spielzeug beschenkt. Dieses fiel zwar nicht so präzise aus, aber um Ideen nicht verlegen, bekam er einige Mini-Eisstöcke, die Tanno aus leeren hölzernen Zwirnspulen anfertigte. Er sägte sie in der Mitte durch, dies ergaben dann zwei Ministöcke, den kleinen Griff aus einem Holzstück schnitzte er so zurecht, dass er in die kleine Öffnung hineinpasste und sie mit Daumen und Zeigefinger anfassen und sie wie einen echten Eisstock werfen konnte. Er malte sie dann verschieden mit bunten Farben an und schon konnte es auf den Blankpolierten Bodenbelag losgehen. Als Taube fungierte ein Spielwürfel und Thorsten beschäftigte sich ausschließlich mit seinem Neugewonnenen Lieblingsspielzeug. Auch die Erwachsenen bedienten sich des lustigen Eisstockschießens in der warmen Wohnung und konnten sich stundenlang damit beschäftigen. Annelie kam oft zu Besuch und nahm Thorsten jedes Mal mit. Pepp blieb lieber zu Hause und arbeitete an seinen Bildern und war nicht unglücklich über das vorübergehende Alleinsein. Manchmal begleitete er sie, doch Franzine bemerkte seine stille Zurückhaltung die er gequält zu vertuschen versuchte.
Bernadette beherrschte schon seit geraumer Zeit ihre ersten Schritte, fiel manchmal beim Laufen hin und weinte nie. Die Freude kannte keine Grenzen als sie sich knapp vor einem Monat von Ferry losriss und mit erhobenen Händchen auf ihre Mutter zugelaufen kam. Alle herzten sie, alle drückten sie an