Vielleicht ist es nur eine einzige Sekunde, die Tiombe mit einem fremden, aber sehr angenehmen Gefühl erfüllt. Sie lässt sie verstreichen, will an nichts denken und weiß doch genau, dass es Wehmut ist – lächerliche Wehmut. Diese Empfindung kommt mit solcher Intensität, dass es sie schüttelt und sie an das Kästchen denkt, das zu Hause liegt. Zu Hause – im Körberhof.
Rita steigt ein und fährt wortlos weiter, der Fernstraße entgegen. Tiombe ist es, als leide Rita gerade unter dem Abschied von ihrem Söhnchen. Warum nur? Dem geht es doch gut?
Noch bis vor einem Augenblick hat sie nur Sympathie für Rita empfunden. Jetzt ist es mehr als dass, und dennoch überspült ein alter Zorn die große Bewunderung. Tiombe neidet dem kleinen Timi diese fantastischen Eltern. Ihr hatte man ein Leben lang solche Eltern vorenthalten. Man hat sie hineingestoßen in ein Leben, das sie nicht will. Man hat ihr gestohlen, was sie liebte und ließ sie allein mit ihren Träumen und mit ihrer Sehnsucht nach einem beschützten Leben in Elternliebe und -bewunderung. Wer könnte ein Kind mehr bewundern, als die eigenen Eltern? Nichts dergleichen war ihr vergönnt.
Was sagte Rita noch gestern: »Du bist erwachsen und kannst deine eigenen Wege suchen. Wir haben keine Leibeigenschaft mehr.«
Tiombe lehnt sich zurück: Verlass dich drauf, so wahr ich Tiombe Randhal heiße!
Rita spürt Tiombes Abwesenheit. Noch hat der Dienst nicht begonnen und sie gönnt ihr die Besinnung auf den Tag. Des Nachts hat sie noch einmal über die Zeit mit ihr nachgedacht und sie ist sich sehr sicher. Sie mag das junge Ding und sie wird sich Mühe geben, ihr das Leben in der Fremde so angenehm wie möglich zu machen. Gleich heute, nach dem Recherchetermin, wird sie mit Tiombe diese Kirche besuchen, egal zu welcher Konfession sie gehört. Kirchen bekehren den Menschen zu mehr Menschlichkeit – ob für oder gegen den lieben Gott, das entscheiden allein die Bekehrten.
Nach dem Interview, das Tiombe ganz passabel gemeistert hat, laufen beide vom Marktplatz kommend dem hellen Turm der Kirche entgegen, der dem Schiff in brauner Backsteingotik reichlich Kontrast ist. Äußerlich schlicht und wenig grazil wirkt dieser Hallenbau. Vor dem großen Hauptportal auf übermannshohem Sockel steht das Denkmal. Erhaben - mit einem Buch in seiner Linken - in Bronze gegossen: Paul-Gerhard. Aus den geformten Klinkern, die den spätgotischen Spitzbogen des Hauptportals umkränzen, ragen sechs Köpfe erhabenen Sandsteins. Bekannte Kirchenmänner. Bach, Händel, Luther, Wichern, Melanchton.
Dazwischen die Zeile eines Liedtextes. Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb in Ewigkeit.
Die Frauen reden nicht mehr, weder über Himmel und die Welt, noch über Gott im Himmel, obschon jeder für sich das Gotteshaus demütig betritt.
In der kühlen Düsternis der Vorhalle überfällt Tiombe eine Art ungewohnter Ehrerbietung. Flüsternd nennt Rita ein paar Lieder, die Paul Gerhard geschrieben habe. Geh aus mein Herz … Fröhlich soll mein Herze springen. Ich bin ein Gast auf Erden.
Tiombe kennt nicht eines davon und sie ist auch nicht imstande, die Werke des Kirchenmannes oder sein Wirken zeitlich einzuordnen. Manchmal ärgert sie sich über ihr blasses Geschichtswissen, das sie nie im Leben kompensiert hat. Es gäbe zu viel nachzuholen. Wenngleich - vieles von dem, was sie lernen musste, wird in den Lehrstunden des Lebens kaum gebraucht. Religion gehört dazu und das kleine Latinum.
In Gedanken versunken atmet sie flach, den muffig trockenen Geruch von Holz und Weihrauch verdrängend. Auf leisen Sohlen schieben sich die Frauen im Laufgang vorwärts und Tiombe spürt eine Hand auf ihrer Schulter. Dieses Gefühl erhellt einen Herzschlag lang die Bedrückung, die sie umgibt, seit sie die düsteren Mauern betreten hat. Jetzt ist ihr, als ob sie jemand umarmt, der es gut mit ihr meint. Mama …? Oder ein Engel?
Es ist Rita. Sie schiebt ihr Gesicht nah an Tiombes Wange, und zieht mit den eigenen Blicken Tiombes Interesse in die Höhe, dem Kreuzgewölbe zu. Der weltliche Duft von Ritas Haut ist angenehm, aber irgendwie störte er diesen göttlichen Ort. Ohne ein Wort zu verlieren, bestaunen sie die Bleiglas-Scheiben in den Seitenschiffen. Bildnisse von Kirchenlieddichtern sind dort mit Liedversen versehen. Die Vormittagsonne trifft schräg auf die figuralen Motive, erhellt den Raum. Tiombe kann ihre Augen - mehr noch ihr Gefühl - nicht mehr abwenden, so schön und vollkommen erscheint alles im prächtigen Licht.
Nur das Licht wird immer schöner, je öfter es gebrochen wird.
Leicht betäubt wandert sie neben Rita einher bis zum Chorraum. Der Altar im prächtigen Kalkstein-Relief trägt Szenen aus Christi Leben. Rita flüstert, sie könne all das um sie herum nicht richtig deuten, deshalb rede sie nicht mehr. Alles Christliche sei daheim bei ihren Eltern kein Thema gewesen und wenn sie ehrlich mit sich sei, glaube auch sie noch immer wie ihr Vater: Wenn es einen Gott gäbe, würde der nicht zulassen, was auf der Welt geschieht.
Hoch über den Köpfen schwebt die reichlich verzierte Kanzel. So leicht löst Tiombe ihren Blick nicht wieder ab, zu fasziniert ist sie. Oder andächtig? Tastend schiebt Tiombe sich in eine der hölzernen Sitzreihen und legt ihre Hände auf das Bibelbrett, lehnt ihren Kopf so weit zurück, dass ihr Blick auf das Kreuzrippengewölbe fällt, das von mächtigen Säulen getragen wird. Ihr kommt ein Bild in ihren Sinn, das sie einmal woanders gesehen hat, ein Deckenfresko mit einer Wolke aus Engelsköpfen. Über allem schwebte der Erlöser, in wallende Gewänder gehüllt. Daneben öffnete sich der Himmel für den Blick auf Götter und Engel. Kleine Amoretten lümmelten am Rand einer blauweißen Wolke und Tiombe glaubte damals, es blinzelte ein Schelm zu ihr herunter. Heute – nach Ritas dringendem Rat - würde sie verstehen, was er von ihr erwartet hat: Versuche es endlich!
Ja, sie wird es versuchen. Bis jetzt hat sie so gelebt, wie man es von ihr erwartet hat. Wenn sie nicht ausbricht, wird sich nichts mehr ändern. Verstehen kann sie den Zustand ihres Gemüts an diesem Tag nicht.
Obwohl sie selbst nicht wirklich gläubig ist, hatte sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit Schlösser und Kirchen zu bestaunen. Da gab es für ihren Vater kein Pardon.
Kaum merkt sie, dass Rita neben ihr flüstert, sie könne kein Verständnis für die materielle Notwendigkeit des Kirchenprunks aufbringen, aber wenn man sie als für Kunstwerke betrachte, brauche man kein materielles Verstehen. Tiombe nickt.
Tiefer Atem neben ihr lässt Rita aufblicken und sie sieht aus schrägem Blick, in welch ungewöhnlicher Andacht das Mädchen verharrt. Die Erhabenheit, die Tiombes ebenmäßigem Gesicht entspringt, ist nicht mehr da. Sie scheint selbstvergessen, der Welt entronnen, als öffne sie sich selig dem Heiland hoch über ihren Häuptern. Mit geschlossenen Augen sitzt sie in der Bank. Reglos. Ihre Züge sind entspannt.
Als Rita sich räkelt, knarrt das Holz der Bankreihe und das Bild vor ihr nimmt eine Wendung. Die Hingabe scheint zu täuschen. Verschämt suchen Tiombes Augen nach Rita, ihre Blicke treffen sich und verharren ungewöhnlich lange, ungewöhnlich forschend, bis das Mädchen seinen Kopf wieder zurücklehnt und die gefalteten Hände vom Gebetsbrett in seinen Schoß gleiten lässt.
Rita will jetzt nicht aufstehen. Sie würde Tiombes Andacht stören. Und weil sie es war, die die Idee mit der Kirche hatte, fügt sie sich und schließt ebenfalls die Augen. Von der Empore dringt ein scharrendes Geräusch herunter. Der Organist zieht die Register einer prächtigen Orgel, wie man ihresgleichen hier kaum findet. Eingepasst in das Kreuzrippengewölbe, das auf sechskantigen Strebepfeilern ruht, thront die gigantische Flötenfamilie in einer sich ruhenden Mächtigkeit auf der Empore. Der Organist lässt das tiefe, ziehende Pfeifen einer Fuge ertönen. Ein Übungsstück für den nächsten Gottesdienst. Der tausendfach gebrochene Widerhall betört selbst die Sinne einer Ungläubigen. Mehr noch. Ein Gefühl der Erbauung beherrscht jetzt auch Rita, bis Tiombe sich erhebt, sehr anmutig zur anderen Seite des Kirchenschiffes schreitet, um am Weltkugelleuchter eine Gedenk-Kerze anzuzünden. Ein letztes Mal schaut Rita zu den farbigen Fenstern zurück. Das Licht der Sonne hinter den bunten Scheiben nimmt immer kräftigere Töne an. Sie geht endlich und wartet draußen auf Tiombe.
Nicht