Ihr Körper streckt sich, ihre Muskeln spannen sich für Sekunden und lockern sich wieder. Dann schreitet sie dem Morgen entgegen, dem ganz normalen Morgen vor einem verdammt nervigen Tag im tiefsten Spreewald.
Vorsichtig öffnet sie die Küchentür und sieht es genau: Rita macht ein unglückliches Gesicht. Eine Spur zu euphorisch, wendet sie sich dem nett gedeckten Frühstückstisch zu.
»Ich habe einen Mordshunger.«
»Dann iss dich richtig satt. Wer weiß, wann wir die Zeit für die nächste Mahlzeit finden.«
»Wohin geht es heute?«
»Lübben«, sagt Rita und schiebt noch ein paar Sätze nach. Vor Jahren habe man die Ostflüchter in einer Serie bedacht, nun seien die Rückkehrer dran. Es gehe um eine junge Frau, die Tiombe zu interviewen habe.
Rita stellt die warmen Brötchen in die Mitte des Tisches und legt einen kleinen Merkzettel dazu, der Tiombe helfen soll, das Interview klug aufzubauen. Dann ruft sie nach nebenan:
»Der Kaffee ist fertig!«
Bis Jens sich mit Timi zu ihnen gesellt, nimmt Rita das Gespräch wieder auf, als habe sie es nie unterbrochen. »Lübben ist die Paul-Gerhardt-Stadt.« Dabei erscheint das gewisse Lächeln in Ritas Gesicht, das Tiombe immer sieht, wenn Rita versucht, ihr diese triste Gegend schmackhaft zu machen. Es gehört zu den Dingen, die sie so hinnimmt, wie sie sind, aber dieses Mal durchfährt sie ein anderes Gefühl. Ein vertrautes. Was weiß Rita? Sie kommt ihr zuvor:
»Paul Gerhardt? Gibt es mehrere davon?«
»Was heißt das, mehrere?«
Auf einmal glaubt Tiombe, nicht wirklich über das sprechen zu wollen, was ihr noch eben auf der Zunge brannte. Sie zieht ihre Schultern nach oben und schaut zu, wie Jens den Kleinen in sein Stühlchen hebt. Diese Ablenkung kommt ihr gerade recht, aber Rita lässt sie nicht zu.
»Paul Gerhardt ist überall bekannt. In vielen Städten gibt es Kirchengemeinden, Gotteshäuser, Diakonien. Sogar Schulen tragen seinen Namen. Er war neben Martin Luther der bedeutendste deutsche Kirchenliederdichter. Gut möglich, dass du seinen Namen schon einmal gehört hast.«
Warum sag’ ich es nicht. Es ist doch nichts dabei, denkt Tiombe. Aber zugleich weiß sie, wenn sie erst davon anfängt, wird sie auf etwas reduziert, was sie nicht will. Oder Rita würde - wie gestern Abend - erreichen, dass alles wie von selbst aus ihr heraussprudelt. Das darf es nicht noch einmal. Da gibt es dieses stumme Verbot, das sie sich selbst auferlegt hat und das sie längst bereut. Ihre Lippen öffnen sich, ganz ungewollt.
»Ich war ein paar Jahre in einem Jugendtreff. Der hieß Paul Gerhardt.«
»Jugendtreffs also auch? Sieh’ an. Wo war das?«
Warum zum Teufel muss sie dauernd reden. Vater hat recht. Wer leidige Dinge anspricht, muss leidigen Fragen gewachsen sein.
Ein profaner Jugendtreff - was ist das schon.
»In Frankfurt«, sagt sie. »Ich dachte der heißt so, weil der nicht weit vom Paul-Gerhardt-Ring liegt. Aber ehrlich, ich wusste nicht, dass das ein Pastor … ich meine, war der aus dem Spreewald?«
»Einige Jahre war er hier. So weit ich weiß, war er bekennender Lutheraner. Gerhardt soll es lieber gewesen sein, sich – wer weiß von wo - vertreiben zu lassen, als dass er von seinem Bekenntnis abließ. Vielleicht kam er von Frankfurt. Wenn du möchtest, besuchen wir ein paar Veranstaltungen. Die Stadt feiert ihn aufwändig.«
Während Rita womöglich selbst überlegt, worin das Feiern besteht, bringt es Tiombe nicht fertig, nein zu sagen. Sie schüttelt den Kopf, dass es staunend aussieht, bricht vom duftenden Brötchen ein Stück ab und schiebt es mit Bedacht in den Mund. Das wundervolle Brötchen interessiert sie jetzt ebenso, wie es Timi zu interessieren scheint.
Jens beobachtet die Szenerie am Frühstückstisch sichtlich amüsiert. Sehr aufmerksam wendet er sich dennoch seinem Kind zu und Rita schenkt er galant Kaffee nach. Ganz wie nebenbei huscht sein Blick freilich immer wieder zu ihr. Seine Augen sind dabei ebenso staunend, wie die von Timi, der sich an sie erst noch gewöhnen muss. Rita muss blind, taub und total gefühllos sein, wenn sie die Unruhe in Jens nicht spürt, denkt Tiombe bei sich, und weiß doch zugleich, dass sie nur für die Zeit am Tisch dieser Leute geduldet ist, die unproblematisch verläuft. Das war bisher immer so. Rita muss die Entscheidung einige Überwindung gekostet haben. Sie ist klug und sensibel, und sie weiß sehr wohl, dass es für keinen angenehm ist, Haus und Tisch mit einer wildfremden Person zu teilen, egal wie es diesmal ausgeht.
Nach einer halben Stunde bleibt sie auf der Schwelle vor der Haustür stehen und schaut auf Timi herab, der im warmen Overall im Hof herumstolziert. Sie widersteht der Versuchung, ihn bei der Hand zu nehmen und mit ihm zum Wagen zu laufen. Aus schrägem Winkel kann sie sehen, wie Rita und Jens sich zum Abschied küssen. Dieses Bild großer Zärtlichkeit löst eine sonderbare Verwirrung in ihr aus. Sie glaubt, auch einmal in ihrem Leben so geliebt worden zu sein, doch sie weiß es nicht genau. Hätte ihre Mutter sie so sehr geliebt, sie wäre jetzt nicht allein.
»Meinst du, du bist warm genug angezogen?«
Tiombe schaut an sich herab. Sie hat sich so gekleidet, wie sie sich wohlfühlt. Wohlgefühl ist bereits der halbe Tag.
»Mach dir keine Sorgen…« Du bist nicht meine Mutter, diese Worte verschluckt sie vorsichtshalber.
Sie mag Rita sehr, und den Jens mag sie inzwischen auch. Eigentlich ein Glücksfall, bei den beiden gelandet zu sein. Völlig unbeabsichtigt.
Diese morgendliche Erkenntnis macht ihr klar, wie närrisch sie sich noch vor drei Tagen benommen hat – beim Anblick des Dorfes, beim Betreten des Hofes. Und sogar gestern, wegen der seltsamen Schuhe, die Rita am Abend trug. Beinahe kann sie sich freuen, wieder all die Bequemlichkeiten zu erfahren, an die sie mit Strenge gewöhnt worden war und auf die sie einmal im Leben verzichten wollte. Was wäre dieser kleine Verzicht? Er wäre vergänglich, sobald sie es will. Der größere Verzicht indes ist endgültig. In ganz gewissen Stunden kommt die Erinnerung an ihre Mutter und wie sie stets sagte, sie wünsche, dass ihr Leben bald endgültig werde. Sie hasste das unstete Leben zwischen den Kontinenten. Tiombe war noch zu klein, um die Sehnsucht der Mutter nach einem Zuhause zu verstehen. Die Sehnsucht nach einer intakten Familie.
Hier in dem Hause, das sich Körberhof nennt, darf nun die Tochter die Wohltat einer solchen Familie erleben, zu der sie nicht gehört.
Sie bleibt, was sie ist. Und es bleibt dieser Teil von ihr, den ihr strenger Vater den paranoiden nennt, den sie von ihrer Mutter geerbt habe. So oft sie die Kraft dagegen aufzubringen versucht, dieser Teil in ihr ist für sie selbst nicht spürbar, also ist er auch durch sie nicht zum Schweigen zu bringen. Vaters Vorwurf aber klebt mit einer Penetranz an ihr, als tauge er nur dazu, ihre eigene Schwäche am Leben zu halten. Nur schwache Seelen können gebrochen werden. Will ihr eigener Vater sie klein und zerbrechlich sehen? Wollte er seine einst so starke Frau auch nur klein und zerbrechlich sehen?
Du wirst dich wundern, Just van Randhal. Wenn ich zurückkomme bin ich eine ganz andere.
Sie will einfach nicht glauben, dass ihr Vater sie liebt, dass er sie je geliebt hat, sie, den Bastard.
Tiombe ist nicht so vermessen zu glauben, diese Leute hier könnten sie lieben. Letztlich ist sie der Stachel im Fleisch ihrer Harmonie. Aber Rita hat es selbst so gewollt, und nüchtern betrachtet ist es auch logisch. Wie viel Zeit würde heute verloren gehen, ehe sie sich der gemeinsamen Arbeit vor Ort widmen könnten. Also ging es ihr nicht um sie, Tiombe Randhal. Es geht auch Rita Georgi nur um den eigenen Vorteil.
Zu dritt fahren sie ein Stück die Dorfstraße entlang und halten