Rita steigt die Treppe hinauf und schaut durch den offenen Spalt in Tiombes Zimmer. Sie schläft noch und atmet ruhig wie ein Kind. Einen viel zu langen Moment steht sie nur da, schaut auf das schlafende Wesen und es ist ihr, als müsse sie über die samtene Wange streichen.
Ein nackter Arm ragt unter der Decke hervor und hängt schlaff vom Bettrand herunter. Sie will ihn behutsam nehmen und zurück unter die Decke schieben, als sie erschrickt und einen hastigen Schritt zurück geht, weg von diesem Bett, raus aus dem Zimmer, die Treppe hinunter.
Zu Jens sagt sie, sie wolle Tiombe noch schlafen lassen. Wer weiß, wann sie endlich das Licht ausgemacht habe. Von den Verletzungen am Arm sagt sie nichts. Darüber muss sie selbst erst einen klaren Gedanken fassen.
Mit jedem Tag, mit dem es gelungen war, Tiombes Lust am Beruft zu nähren, ihr Können zu feilen, ihre Taktik zu schleifen, wuchs das gute Gefühl für das Mädchen. Die wenigen Momente von ausgeprägter Selbstliebe schob sie hinweg. Vom ersten Moment an wollte sie ihr helfen, wo immer sie Hilfe brauchte. Diese Hilfe aber, die Tiombe scheinbar braucht, gilt für Rita seit diesem Morgen als die schwerste überhaupt. Es ist nicht schwer, die Verletzung an Tiombes Arm zu deuten.
Tee-ohm-bay
Es ist Sonntag. Tiombe läuft unschlüssig von oben nach unten und zurück. Sie streicht durch die Räume, die verwaist und unverschlossen sind. An die offenen Türen im Haus ist sie gewöhnt. Gewisse Laute bei Nacht aber verwundern sie.
Letzte Woche, als die Freunde gegangen waren, war es ihr vorgekommen, als galten diese Töne nur ihren Ohren im oberen Stockwerk.
Ach, hätte sie jetzt wenigstens diesen netten Abend mit den fremden Freunden. Sie weiß nicht, ob sie Susan und Alexander nett findet. Zumindest waren sie nicht skeptisch und nicht neugierig, wie man gewöhnlich ist, wenn man ihr zum ersten Mal begegnet.
Noch nie zuvor haben Rita und Jens sie im Haus allein gelassen. Sie sind bei Ritas Eltern eingeladen und werden erst sehr spät zurück sein. Vielleicht Timi zuliebe sogar dort übernachten.
An diesem vielleicht scheiterte die Entscheidung, ob sie einfach so mitfahren sollte.
Berauschend ist es nicht, an einem Samstagabend allein in diesem grottenlangweiligem Nest zu hocken, Haus und Hof zu hüten und nichts als den Fernseher anzustarren. Vielleicht wäre sie doch bei Marquardt und seiner nervigen Frau besser aufgehoben gewesen. In der Stadt gibt es Diskotheken. Sie könnte auf eine Party oder einen Dance-Club gehen.
Fehlanzeige. Hier in dieser Einöde hat sie nichts davon, nicht einmal Freunde. Hat sie in Frankfurt Freunde? Sind es auch dort nicht pure Zweckgemeinschaften, denen sie angehört, weil sie alle denselben familiären Hintergrund haben?
Sie hockt tatenlos im Wohnzimmer auf der Couch. Abgeschoben. Unbeachtet.
Im Grunde wusste sie vorher, dieses Samstagsprogramm ist nichts für sie. Sie würde längst abschalten, wäre nicht dieser Thrill, dieses brennende Verlangen tief in ihr.
Tiombe die Glänzende, die Strahlende, so heißt sie in der Sprache ihrer Vorfahren mütterlicherseits. Keiner spricht ihren Namen korrekt, so wie Mutter ihn gesprochen hat - tee-ohm-bay.
Rita sagte einmal, genau so strahlend wie ihr Name sei ihr Wesen bisweilen. Aber eben nur bisweilen.
Was weiß Rita schon von ihr? Zuweilen lässt Ritas Anerkennung hoffen, auch wenn sie ungemein nüchtern ihre Schwächen analysiert. Wenn sie ihr beibringt, worin sie noch besser werden muss, ist es ihr, als spricht eine Mutter zu ihr. Rita ist jünger als ihre Mutter, aber sie hat ihre Vorzüge. Ihr Geschäft versteht sie, und sie kann überzeugen, wie sie seit Langem kein Mensch überzeugt hat. Bei Rita fühlt sie sich gleichwertig, sicher und wichtig. Sie lehrt sie, Macht über den eigenen Schweinehund zu bekommen, sich aber nie über andere zu erheben. Weil alles so gut funktioniert, glaubte sie, Gewohnheit mache alles leichter. Doch es wird nicht leichter, nicht, wenn sie sich so schmählich abgeschoben fühlt.
Tiombe krümmt ihren Leib. Der Schmerz ist nicht greifbar. Sie sinkt von der Couch auf das Parkett. So nah an den bloßen Dielen spürt sie hautnah eine Demütigung. Es war ihr Vater, das darf sie nie vergessen.
Jeder Gedanke daran weckt das Gefühl, auch von Rita und Jens abgeschoben zu sein. Unbändige Wut kocht in ihren Adern und sie schreit laut durch das fremde Haus:
»Da hätte ich auch in Frankfurt bleiben können!«
Sie kriecht auf Knien vorwärts, um sich eines der aufgestellten Kissen zu angeln, in das sie ihr Gesicht presst, die Laute, die kein Ende nehmen.
Irgendwann schnappt sie nach Luft und wirft das Kissen von sich. Sie setzt sich aufrecht und lehnt den Kopf an die Couch. Im Fernsehen läuft eine Show mit irgendwelchen Kandidaten, die sich vor aller Welt lächerlich machen. Sie drückt auf Aus und weiß, so, wie sie jetzt hier hockt, ist sie selbst nichts als lächerlich.
Ringsum herrscht tiefe Stille. Der Wunsch nach Mäßigung kommt einen kurzen Moment über sie. Nicht lange. Um diese Zeit greift der Thrill. Die Glieder sind starr, der Kopf mit Belanglosem voll. Nur das Lachen klingt in ihrer Erinnerung nach. Das Lachen von Rita und Jens.
Die kupferne Haut wird fahl, winzige Pusteln kräuseln sich zu Sandpapier. Sie streckt den Kopf in die Höhe. Es ist kein Zweifel dabei, keine Erklärung, keine Ausflüchte. In ihrem Hirn kratzt sie alles zusammen, was ihr wert ist. Es ist nicht viel. Nur ein Wunsch sticht heraus: Sich selbst zu spüren.
Wie ferngesteuert geht sie die Treppe nach oben und setzt sich auf das Lammfell vor dem Ledersessel mitten im Gästezimmer. Nur ein Moment, dann ist es so weit. In sich gesunken, hilflos wie ein Kind, läuft in ihrem viel zu schweren Kopf ein Film ab, wie es war und wie es hätte sein können?
Was ist Glück? Was ihr verdammtes Leben? Ein Leben, wo die Lüge süß und die Wahrheit bitter ist. Sie schmeckt die Angst, die Wut und den Selbsthass auf ihren Lippen. Wenn sie keiner liebt, was soll sie auf dieser Welt …
Der Höhenflug kommt unweigerlich. Und der Zwang.
Diese lähmende Furcht ist ein Teufelskreis, aus dem sie alleine nicht herausfindet. Wieder einmal. Sie fasst sich an die Brust, doch nicht ihr Herz schmerzt so grausam, ihre Seele brennt. Sie stiert gegen die Wand, die sich scheinbar hebt wie ein Nebel. Sie sieht eine Villa am Main. Und wie sie am Fenster steht, sehnsüchtig wartet, bis Mama zurückkommt. Ihretwegen. Wenigstens ihretwegen ...
Im Moment tiefer Zerstörung glaubt sie gläserne Mauern um sich herum und fürchtet, man könnte sie sehen, wie sie so dasitzt und heulend mit den Fäusten auf den Boden schlägt. Sie reißt das Plaid aus dem Sessel und wirft es gegen den Schrank, dahin zu gehen, zögert sie noch.
Die Schmerzen in ihrer Seele sind stark, stärker als alle Manöver sein können, die sie mal besser und mal schlechter von der Qual ablenken. Zitternd rutscht sie auf Knien voran und nimmt das fest verschnürte Kästchen heraus, das alles enthält, was sie jetzt braucht. Ihr Griff droht das feine Metall zu zerbrechen, doch Tiombe setzt die Klinge, als sei es das Normalste der Welt. Als der Schmerz ihre Sinne erreicht, gewinnt er die Oberhand über ihr inneres Chaos und bringt endlich Erleichterung. Blut tropft über die Hand zum Boden, warm und rot. Mit jedem Milliliter ihres Lebenssaftes, der in einem Tuch versickert, fühlt sie sich leichter. Erschöpft lehnt sie ihren Rücken an den Schrank.
Für kurze Zeit ist das Glücksgefühl unermesslich. Sie kennt es sehr genau. Sie hat darauf gewartet. Sie tut es oft, weil sie glaubt, nichts, was einen am Leben hält, kann krank sein. Die Augen werden hell. Freude über das, was sie sonst nicht tun kann, zieht die Besinnung nach sich: Später, wenn es vorbei ist, wird nichts als Traurigkeit sein und Sehnsucht.
Als die Energie in ihre Glieder zurückkehrt, macht sie der Ohnmacht Platz und der Wut, nichts im Leben halten zu können. Jetzt erst spürt sie die brennende Wunde an ihrem Arm wie wild pochen. Dieser Schmerz ist störend, nichts