Verdamp lang her. Frank Claudy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Frank Claudy
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847660606
Скачать книгу
die sich noch nicht einmal unbedingt gegen die geplante Fahrpreiserhöhung richteten. Hauptsache Protest. Wir sangen, ich knutschte ein bisschen mit Frauke, ein Joint ging herum. Es war ein richtig gelungener Tag. Am Ende der Kundgebung stieg eine Frau aufs Podium und sagte: "Ich wollte Euch noch sagen, dass ein paar von uns heute Nacht eine Villa in der Reichsgrafenstraße besetzt haben. Es wäre schön, wenn Ihr nach der Demo noch dahin fahren könntet. Vermutlich wird die Polizei versuchen, das Gebäude zu räumen. Je mehr Leute dort sein werden, desto besser."

      Ich guckte Frauke an. Keine Frage, da waren wir natürlich dabei. Torsten und Kurt wollten auch noch mit. So stiegen wir vier in die Schwebebahn und fuhren nach Barmen. Natürlich bezahlten wir nicht, ebenso wenig wie die anderen Demonstranten, die mit uns einstiegen. Wir hatten ja gerade erst gegen die Fahrpreise protestiert und waren eh alle der Meinung, dass der ÖPNV kostenlos sein müsste. Dafür könnten dann die Bonzen mit ihren dicken Autos bezahlen. Unterwegs stiegen zwei Kontrolleure ein und fragten nach den Fahrkarten. Der erste von uns, der kontrolliert wurde und keinen Fahrschein hatte, sollte seinen Ausweis zeigen, doch dann rief schon der nächste Demonstrant, dass er keine Fahrkarte hätte. Sämtliche Demonstranten, die in der Bahn waren, umringten die Kontrolleure und riefen: "Ich habe nicht bezahlt." Erst versuchten die Kontrolleure noch, uns aus der Bahn zu werfen, doch dann bekamen sie Angst und stiegen selber an der nächsten Haltestelle aus. Wir lachten alle und jubelten über unseren kleinen Sieg.

      Am Werth stiegen wir aus und liefen zu dem besetzten Haus. Es war schon von weitem zu erkennen, weil Laken aus den Fenstern hingen mit Sprüchen wie: Dieses Haus ist instand besetzt. Bei dem Haus handelte es sich um eine Gründerzeitvilla, die schon lange leer gestanden hatte. Die Villa hatte einen großen parkähnlichen Garten, der von einem kleinen Zaun mit Tor geschützt wurde. Das Tor war aufgebrochen worden, so dass wir einfach durch den Garten zum Eingang der Villa laufen konnten. In der Villa war es richtig gemütlich. In der Küche stand ein Riesen-Topf mit Nudeln auf dem Herd, in den Zimmern hatten die Leute überall Matratzen verteilt. Eine Stereoanlage hatte Lautsprecher in fast allen Räumen, aus denen die Ton Steine Scherben tönten.

      Die Villa selber war wunderschön mit großen Zimmern und hohen Decken. An den Wänden und Decken waren Stuckverzierungen, alles war in Pastelltönen gestrichen. Aber es sah auch alles ein bisschen herunter gekommen aus. Eigentlich schade, dass so lange keiner hier gewohnt hatte. Das Haus hatte zu einer Brauerei gehört, die selber vor ein paar Jahren abgerissen worden war. Jetzt gab es Pläne, auf den Grundstücken neue Hochhäuser zu errichten. Aber das würden wir mit allen Kräften versuchen zu verhindern.

      Die meisten Leute in der Villa waren deutlich älter als wir. Wir liefen durch die Zimmer, bis wir in einen großen Raum kamen, in dem ein paar Leute auf dem Boden saßen, die am ehesten unser Alter hatten. Wir setzten uns dazu.

      Die ganze Zeit war so viel passiert, dass ich gar nicht zum Nachdenken gekommen war. Doch jetzt, wo ein bisschen Ruhe einkehrte, spürte ich auf einmal die ganze Aufregung und bekam auch langsam Angst. Eigentlich hatte ich ja längst zu Hause sein sollen. Und dann hatte die Frau auf der Kundgebung davon gesprochen, dass die Polizei das Haus räumen wollte. Den anderen ging es genauso. Wir fingen an darüber nachzudenken, was mit uns passieren würde, wenn die Polizei uns festnehmen würde. Die Älteren waren ja alle ganz cool gewesen, aber wir kriegten doch so richtig Angst und beschlossen, lieber nach Hause zu gehen.

      Doch es war gar nicht mehr so einfach, aus dem Haus heraus zu kommen. Inzwischen hatte die Polizei das gesamte Grundstück umstellt und ließ niemand heraus oder hinein. Wir versuchten, hinten durch den Garten zum Zaun zu kommen. Doch gerade, als wir über den Zaun kletterten, wurden wir von zwei Polizisten angehalten. Zum Glück sahen wir alle noch ziemlich jung aus, deswegen sagte ich ganz dreist: "Wir sind erst 13 und unsere Eltern warten auf uns." Das war den Polizisten dann vermutlich zuviel Ärger, deswegen sagten sie nur zu uns: "Macht, dass Ihr nach Hause kommt, Ihr habt hier wirklich nichts zu suchen." Während wir weg liefen, hörten ich noch, wie der eine zum anderen sagte: "Wenn das mein Sohn wäre, dem würde ich ordentlich den Hintern versohlen."

      Tja, meine Eltern waren zum Glück gegen körperliche Gewalt und gingen auch sonst ganz locker damit um, als ich ihnen von der Hausbesetzung erzählte. Ihr einziger Kommentar war, dass ich mich nicht erwischen lassen sollte.

      Wo die ganze Aktion eigentlich ganz glimpflich verlaufen war, beschlossen Frauke und ich, am nächsten Tag zu dem Haus zurück zu kehren und zu gucken, ob es geräumt worden wäre.

      Als wir dort ankamen, waren alle damit beschäftigt, eine Gartenparty vorzubereiten und wir kamen gerade richtig, um Tische und Essen nach draußen zu tragen. Das Wetter war immer noch besonders schön und warm, und wir saßen unter den Bäumen auf Decken oder im Gras, tranken billigen Rotwein und aßen Baguette dazu. Ein Mann spielte Gitarre und wir sangen alle deutsche Volkslieder mit unseren eigenen Texten, die sich hauptsächlich gegen den Staat und die Parteien richteten. Ein Joint ging herum und ich ließ ihn zum ersten Mal im Leben nicht vorbei gehen, sondern zog auch daran. Es war eine richtig schöne freundschaftliche Atmosphäre. Ich fühlte mich leicht und glücklich und genoss mein Leben.

      Frauke lag bei mir im Arm. Zwischendurch küssten wir uns.

       Kapitel 3

      Vielleicht sollte ich etwas über Frauke und mich erzählen. Wir beide kannten uns seit dem Kindergarten. Wir waren seit der Grundschule in der gleichen Klasse und machten alles gemeinsam. Andere Jungs hatten ihren besten Kumpel, ich hatte Frauke. Ich zog zwar auch mit anderen Jungs herum, aber Frauke war immer dabei. Sie war Kumpel und beste Freundin und Schwester in einem, und seit neuestem küssten wir uns auch. Aber verliebt war ich nicht in sie. Es gehörte halt einfach dazu, dass ich eine Freundin hatte. Und mit Frauke war alles ganz einfach und unkompliziert. Es hatte sich einfach so ergeben. Außerdem hielt sie mir die anderen Mädchen vom Hals, die mir in der Schule Briefchen zusteckten, ob ich mit ihnen gehen wollte. Denn eigentlich wäre ich viel lieber mit Torsten gegangen, doch der war eindeutig nur an Mädchen interessiert und schleppte jede Woche eine andere ab.

      Für mich war es nicht wirklich etwas Neues, dass ich mir nichts aus Mädchen machte. Das wusste ich spätestens, seit ich mit 11 Matt Dillon in einem Film mit Christy McNichols und Tatum O'Neill gesehen hatte. Matt war so cool in dem Film, dass ich so sein wollte wie er und danach nur noch in Jeans, weißen T-Shirts und Cowboy-Boots herum lief. Außerdem fing ich damals mit dem Rauchen an, weil das so cool war. Aber gleichzeitig wollte ich auch Christy McNichols sein und Matt Dillon küssen. Von da an war mir ziemlich klar, dass ich nicht wirklich etwas für Mädchen empfand. Mädchen waren für mich immer nur Kumpel gewesen, Freundinnen, mit denen ich über alles reden konnte. Solange wir Kinder waren, machte es eh keinen Unterschied. Dort, wo ich aufgewachsen bin, gab es bestimmt 50 Kinder in allen Altersklassen. Wir spielten alle zusammen Fußball oder Tischtennis, kletterten auf Bäume und klauten Äpfel aus den Gärten, Jungs und Mädchen gemeinsam. Erst als wir älter wurden, trennten wir uns nach Geschlechtern. Aber Frauke war immer noch bei uns Jungs dabei. Ich glaube, keiner von uns nahm sie wirklich als Mädchen wahr. Die anderen Jungs fingen dann langsam an, sich wieder für Mädchen zu interessieren und über sie zu reden. Da merkte ich dann, dass ich mich viel mehr dafür interessierte, wie sich die Körper meiner Freunde veränderten als dafür, dass die Mädchen Brüste bekamen.

      Und dann lernte ich durch die Demos und Teestuben Alternative und Linksautonome kennen und hatte kaum noch Kontakt zu meinen alten Freunden. Auch in der Schule war ich fast nur mit Leuten aus der SV zusammen. Diese Gruppen lebten alle nach dem Motto der sexuellen Freiheit, was bedeutete, dass es völlig egal war, ob man auf Jungen, Mädchen oder beides stand. Irgendwie machte dort jeder mit jedem herum. Und ich fing an, mir selbst gegenüber dazu zu stehen, dass ich auf Jungs stand. Aber meine Erfahrungen gingen trotz allem noch nicht weiter, als diese Küsse mit Frauke und jede Menge Herumspielerei mit mir selber. Und Frauke war auf jeden Fall gut für mein Image. Sie sah toll aus, war beliebt und hatte jede Menge Jungs, die sich für sie interessierten. Da kam es in der Schule ganz gut, dass sie als meine feste Freundin galt. So sehr ich auch mit mir selber im Reinen war, war ich trotz allem noch lange nicht bereit, das auch in der Schule zu verbreiten (oder bei meinen Eltern).

       Kapitel 4