Meist kommt es dann wieder im späteren Erwachsenen- alter zum nächsten Umbruch und Aufbruch, was oft mit der Pensionierung einhergeht oder/ und mit einer mehr oder weniger schweren Erkrankung oder anderweitigen Schicksalsschlägen. Denn durch die einseitige Sozialisation, die für eine Ich-Entwicklung notwendig ist, kommt es zu ausgeprägten Charakterzügen, aber auch Einseitigkeiten, welche, wie alle Einseitigkeiten über einen längeren Zeitraum, ihr Gegenteil nach sich ziehen.
Die Aufgabe der 1. Lebenshälfte ist, eine „Person“ zu werden und sich in der Welt zu verwurzeln. Hierher gehören die Berufs- und Partnerwahl, eventuell die Gründung einer Familie, Festlegungen und Spezialisierungen jeglicher Art. So sind meistens von den 4 Bewusstseinsfunktionen Denken, Fühlen, Empfinden/Sinnlichkeit, Intuition nur zwei dominant, z.B. hauptsächlich das Denken und Sinnesempfindung, während der Gefühls- und der intuitive Teil verdrängt und zum Teil nur gering ausgebildet sind.
Des weiteren wird man in seiner Geschlechterrolle sozialisiert, d.h. als Mann werden vornehmlich männ- liche Eigenschaften wie Zielstrebigkeit, das Kämpferi- sche, das Sich-Durchsetzen, das vehement vorwärts Strebende … gefördert, während weibliche Eigenschaf- ten wie das Rezeptive, das Weiche und Gefühlsbetonte, das Beziehungsfördernde, das Abwarten-Können …entweder ganz unter den Tisch fallen oder nur rudimentär zum Leben zugelassen werden (können). Bei den Frauen ist es umgekehrt. C. G. Jung hat heraus- gefunden, dass die Faszination, die vom anderen Geschlecht ausgeht, viel mit den eigenen unterentwickel- ten gegengeschlechtlichen Eigenschaften zu tun hat. Ab der 2. Lebenshälfte geht es also beim Mann um die Integration seiner weiblichen Anteile, der Anima, und bei der Frau um die Integration ihrer männlichen Anteile, dem Animus.
Hier möchte ich Emma Jung zitieren, Jungs Frau, ebenfalls im weiteren Verlauf ihres Lebens als Forscherin und Analytikerin tätig:
„Wenn der Mann seine Anima entdeckt und sich mit ihr auseinanderzusetzen hat, so hat er damit etwas anzunehmen, das ihm bisher als minderwertig galt…. Hat der Mann… gleichsam von einer Höhe herab-zusteigen, einen Widerstand, nämlich seinen Stolz zu überwinden, indem (er)… „She-that-must-be-obeyed“ … als solche anerkennt. … Was wir (Frauen) dem Animus gegenüber zu überwinden haben, ist nicht der Stolz, sondern der Mangel an Selbstvertrauen und der Trägheitswiderstand. Für uns ist es nicht, als ob wir hinabsteigen müssten (außer wenn man mit dem Animus identisch war), sondern als ob wir uns zu erheben hätten, wozu es oft an Mut oder an Willens- stärke gebricht. Es kommt uns vor wie Überhebung, wenn wir unsere eigene unmaßgebliche Überzeugung den allgemeine Gültigkeit beanspruchenden Urteilen des Animus oder des Mannes entgegensetzen; und sich zu einer solchen scheinbar vermessenen geistigen Selbständigkeit aufzuraffen, kostet oft nicht wenig, besonders, weil man darin leicht missverstanden oder falsch beurteilt wird. Aber ohne einen solchen Akt der Empörung … wird die Frau nie aus der Gewalt des Tyrannen befreit werden.“.{5}
Aber auch im geschlechtsspezifischen Bereich werden laut Jung hauptsächlich nur zwei der vier Archetypen gelebt. Das Weibliche wird durch die Archetypen der Mutter, der Geliebten, der Amazone/ Managerin und der Alten Weisen/ Mystikerin/Zauberin/Hexe verkörpert, das Männliche durch die Archetypen des Vaters, des Helden, des Puer Aeternus/ewigen Jüng- lings/Playboys und des Alten Weisen. Dies wird zusätzlich durch gesellschaftliche Normen gefördert, welche sehr einseitig nur bestimmte weibliche und männliche Rollenbilder belohnen, während andere weniger geschätzt werden. Bei der Frau wird vor allem die Mutter und die Amazone (Frau, die alles schaukelt und managet, ob Haushalt, Beziehungen oder beruflich: Multitasking!) gesellschaftlich gefordert, gefördert und belohnt, wohingegen die Geliebte und Muse (die sinnliche Frau), und die Mystikerin/Hexe/Zauberin/weise Alte (jene Frau, die auch „zu anderen Welten“ – sprich zum Unbewussten), Zugang hat, gesellschaftlich eher tabuisiert werden. Beim Mann hingegen wird vor allem der Held (Krieger und Abenteurer) und der Ewige Jüngling und Playboy, der sich nicht binden mag, als Idealbild vermittelt, wohingegen der Vater und fürsorgliche Mann und der Weise nicht gerade „in“ sind.
Durch die Sozialisation und Ich-Entwicklung kommt es zu einer Charakterprägung, d.h. gewisse Eigenschaften und Talente werden ausgeprägt, andere weniger, manche gar nicht. Manche Menschen sind sehr nach außen hin orientiert, sie sind extravertiert. Andere wiederum ziehen sich eher in sich zurück, für sie ist ihre Innenwelt besonders bedeutsam. Sie sind introvertiert. Um sich zu einer gewissen Vollständigkeit und Ausgeglichenheit seiner selbst zu entwickeln, geht es auch hier darum, mit der Zeit das Gegenteil dessen, was man nicht so gut gelernt hat, einigermaßen nachreifen zu lassen.
Denn die nach Ausgleich und Vollständigkeit strebende Kraft erzeugt, werden ihre ins Bewusstsein drängenden Impulse und Botschaften allzu lange vom dominierenden Tagesbewusstseins-Ich ignoriert und überhört, Krisen oder Symptome körperlicher, seelischer oder sozialer Art oder/und eine undefinierbare Unzufriedenheit mit sich und der Welt. Sehr häufig wird dann die eigene Lebensunzufriedenheit auf die Außenwelt projiziert, was man am allerbesten am Schwarz-Weiß-Denken und am Freund-Feind-Schema erkennen kann, und was bedeutet, dass hauptsächlich oder immer „die anderen“, vornehmlich die Politik, die Wirtschaft, die Ausländer und alles Fremde, der Partner, die Nachbarn, die ArbeitskollegInnen, …. Schuld an der Misere sind.
C. G. Jung sieht Krisen und Krankheit als Motor für die Weiterentwicklung der Persönlichkeit. Er fragt also nicht so sehr, woher kommt die Erkrankung und was die kausale Ursache ist, sondern welches Ziel dahinter steckt und was ihr finaler Zweck ist, d.h. welche unbewusste Intention des nach Ganzheitlichkeit und Vollständigkeit strebenden Selbst darin enthalten sein könnte. So schreibt er über die Neurose /Krankheitssymptome physischer und psychischer Art:
„Nicht, wie man eine Neurose los wird, hat der Kranke zu lernen, sondern wie man sie trägt. Denn die Krankheit ist keine überflüssige und darum sinnlose Last, sondern sie ist er selber; er selber als der ‚andere‘, den man immer auszuschließen versuchte. (…) Man sollte nicht suchen, wie man die Neurose erledigen kann, sondern man sollte in Erfahrung bringen, was sie meint, was sie lehrt und was ihr Sinn und Zweck ist. (…) Nicht sie wird geheilt, sondern sie heilt uns. Der Mensch ist krank, Krankheit aber ist der Versuch der Natur, ihn zu heilen.“ {6}
Für C. G. Jung ist eine Erkrankung stets auch eine Art Bewusstseinserweiterung und ein Motor für die Ent- wicklung der Persönlichkeit. Will man eine Gleich- gewichtsstörung im Leben eines Menschen beheben, so muss man nach Jung stets einen Weg finden, wie bestimmte Inhalte des Unbewussten aktiviert, er- schlossen, assimiliert und in die bewusste Gesamt- persönlichkeit integriert werden können:
„Denn in dem Maße, in dem wir verdrängen und unser Gleichgewicht ins Wanken kommt, steigt mit wachsenden Jahren die Gefährlichkeit des Unbe- wussten.“ {7}
Was ist das Unbewusste?
Das ist alles, was uns nicht bewusst ist und alles, was wir nicht „wissen“ oder direkt wahrnehmen können, obwohl ES existiert und wirksam ist (z.B. elektromagnetische Wellen, Viren,…). {8}, {9}.
Hierher gehören all jene Erfahrungen, die wir im Laufe des Lebens vom Moment der Zeugung an gemacht haben, und die uns nicht beziehungsweise nicht mehr bewusst sind. So ist uns auch ein Großteil des Körpers nicht bewusst, denn viele Prozesse geschehen, ohne dass wir sie bewusst spüren. Oder sind dir deine ganzen Verdauungsprozesse, deine inneren Organe, die Adern und Sehnen, die Zellen usw. bewusst? Wahrscheinlich erst dann, wenn etwas weh tut und nicht mehr ganz funktioniert. Das Unbewusste eines Menschen erfasst auch alles Atmosphärische der Umgebung und seiner Mitmenschen, d.h. das, was „in der Luft liegt“, somit also auch die intuitive Seite. Gleichzeitig gibt es im Menschen auch noch eine tiefere unbewusste Schicht, die aus dem Erfahrungsraum der ganzen Evolution besteht und wirkt. C. G. Jung nennt es das Kollektive Unbewusste. Er schreibt:
„Könnte man das Unbewusste personifizieren,