„Wollte ich“, nickte Lars. „Aber ja, du hast recht.“
Lars gab Harald die Akte zurück. „Nochmal die Frage, was will uns Kollege Schönherr damit sagen?“
„Dass wir graben sollen?“, antwortete Harald. „Du buddelst im Leben von Marina Leistner und ich überprüfe das Alibi ihres Gatten.“
Die Universität Leipzig bestätigte die Teilnahme von Markus Leistner für die Zeit von Donnerstag, den 10. Mai bis 12. Mai 2018. Danach setzte Harald sich mit dem Hotel in Verbindung, in dem Leistner übernachtet hatte. Dort weigerte man sich, ihm Auskunft zu geben. Bezüglich des Datenschutzes entsprach das natürlich den gesetzlichen Vorgaben, behinderte aber die Ermittlungen. Weshalb der Kriminalhauptkommissar mal wieder in seine Trickkiste greifen musste.
Erst nach intensiver Belehrung die Aufklärung eines Mordfalls zu behindern und zusätzlich die Bekanntgabe der Telefonnummer des Polizeipräsidiums Offenbach, erfolgte einige Minuten später der Rückruf aus dem Hotel sowie ein Fax.
Markus Leistner / 10. Mai 2018 / Ankunft 15:22 Uhr / 12. Mai 2018 / 10:17 / Abreise.
Harald rechnete nach. Seines Wissens nach, brauchte man mit dem Auto etwa viereinhalb bis fünf Stunden von Leipzig bis Offenbach. Nach Seligenstadt vielleicht 15 Minuten weniger. Demnach hätte Markus Leistner allerspätestens um 16 Uhr zu Hause angekommen sein müssen. Laut seiner Angabe – und sollte man der Aussage seiner Nachbarin Glauben schenken – traf er aber erst kurz nach Mitternacht ein. Wo warst du in den fehlenden Stunden?
Harald griff erneut zum Telefon. Nach mehrmaligem Läuten sprang der Anrufbeantworter an.
Hier ist der Anschluss von Marina und Markus Leistner. Bitte sprechen Sie Ihre Nachricht nach dem Signalton.
Selbst für den routinierten Kriminalbeamten war es seltsam, die fröhliche Stimme einer Toten zu hören.
Montag / 16:00 Uhr
Nicole fuhr in die Parklücke, die ein herausfahrender Wagen gerade hinterlassen hatte; ansonsten war der Parkplatz des rechtsmedizinischen Instituts in der Kennedyallee proppenvoll.
Das bedeutete jedoch nicht zwangsläufig, dass die Toten sich in den Kältekammern stapelten.
Rechtsmediziner unterstützen die Justizbehörden nicht nur bei ihren Ermittlungen, die Todesursachen und -umstände bei Mordfällen zu klären. Ihre Aufgabe besteht auch darin, mutmaßliche ärztliche Kunstfehler aufzuspüren, eventuelle Pflegemängel sowie Kindesmisshandlungen und sexuellen Missbrauch aufzudecken. Desgleichen stellen sie biomechanische Verletzungen, aufgrund von Unfällen, fest und die Fahrtüchtigkeit, infolge körperlicher Mängel – Drogen oder Alkoholmissbrauch.
Auch gehört die forensische Altersdiagnostik – sowohl bei nicht identifizierten Toten – aber auch bei noch lebenden Personen zu ihrer Arbeit.
„Der hat wohl gerade einen Vaterschaftstest gemacht“, kommentierte Dietmar Schönherr den mürrisch blickenden Mann, der die Kommissare am Eingang beinahe über den Haufen rannte.
„Sprechen Sie aus Erfahrung?“ Nicole schmunzelte und sprach gleichzeitig den Mann am Empfang an. „Hallo, Herr Angerer. Wir sind wegen der Obduktion von Marina Leistner hier.“
„Ich kenne diesen Gesichtsausdruck aus der Zeit, als ich hier …“
„Dietmar?“, wurde Dietmar Schönherr von dem etwa 50-jährigen, unterbrochen. „Menschenskind. Dich hab ich ja schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Wie geht es dir?“
Angerer eilte hinter seinen Tresen hervor und die Männer begrüßten sich mit einem sichtbar festen Händedruck.
„Danke, gut und dir, Christoph?“
„Auch gut. Hab gehört, dass du zur Mordkommission nach Offenbach gewechselt bist. Hab mich schon gefragt, wann du hier aufschlägst.“
„Sie kennen sich?“ Nicole war kurzzeitig verwirrt.
„Na klar. Dietmar arbeitete hier eine Zeit lang, während seines Studiums. Wussten Sie das nicht?“
„Nein, das wusste ich nicht“, erwiderte Nicole scharf.
Sie mochte es überhaupt nicht, wenn sie nicht ganz genau über ihre Mitarbeiter Bescheid wusste. Weshalb sie nun sagte: „Was, wenn man fragen darf, haben Sie hier gearbeitet?“ Ihr Blick heftete sich auf den Kollegen.
„Ich war für …“
„Ah, Nicole“, dröhnte die sonore Stimme von Dr. Martin Lindner durch den Raum und enthob den Kriminaloberkommissar dadurch einer Antwort. „Dann können wir sofort beginnen ... Dietmar? Dietmar Schönherr? Das darf doch nicht wahr sein?“
Der Leiter der Rechtsmedizin kam strahlend herbeigeeilt und schlug Dietmar Schönherr seine Pranke auf die Schulter. „Mensch, Junge. Schön, dich zu sehen!“
„Hallo Doc.“
„Hast du mir überhaupt nicht erzählt, dass du dir den Besten geangelt hast.“ Martin Lindner zwinkerte Nicole zu.
Für einen Moment senkte Dietmar Schönherr den Kopf. Die Situation schien ihm nun doch etwas peinlich zu sein.
„Na dann schreiten wir zur Tat“, sagte der Rechtsmediziner. Mit weit ausholenden Schritten ging er zur Treppe, die nach unten in die Sektionsräume führte. „Unser junger Freund, Staatsanwalt Felix Heller, wartet bereits ungeduldig in meinem Büro. Muss schon sagen, der Junge hat schnell gelernt, seine Hemmungen gegenüber den Verstorbenen abzulegen.“
Als Büro bezeichnete Dr. Lindner den Raum, gegenüber den Kältekammern, der mit einem weißen Schreibtisch auf dem ein Computer stand, einem Bürosessel und zwei Stühlen ausgestattet war. Nicht gerade als gemütlich zu betrachten und kühl wie die Obduktionsräume, aber eben auch nicht direkt gruselig; sah man von den Regalen ab, hinter deren abschließbaren Glasscheiben, wachsweiße Totenschädel – in Acryl gegossene Körperteile – skurrile Mordwerkzeuge und andere bizarre Dinge zur Schau gestellt waren.
Nicole wusste genau, was der Doc damit andeutete. Sie konnte sich gut an Felix Hellers erste Anwesenheit bei einer Leichenöffnung vor sieben Monaten erinnern. Seitdem machte er einen routinierten Eindruck, soweit das als Zuschauer möglich war.
Selbst Nicole und ihre Kollegen brachen nicht in Begeisterungsstürme aus – Lars am allerwenigsten – wenn wieder mal eine Autopsie anstand.
Dr. Martin Lindner riss die Tür zu seinem Büro auf, wohl doch in der Hoffnung, den jungen Staatsanwalt zu erschrecken. Zu seiner Enttäuschung stellte er fest, dass dieser sich intensiv mit denen hinter Glas befindlichen Gegenständen beschäftigte und nicht einmal zusammenzuckte.
„Herr Heller, wir sind vollzählig“, sagte der Rechtsmediziner dann auch nur.
Die Autopsie lief ab wie immer. Dr. Lindner begann mit der äußeren Leichenbeschau und ging dann, zusammen mit seinen Assistenten dazu über die Leiche zu öffnen.
Alle Arbeitsschritte kommentierte er akribisch in ein Aufnahmegerät. Dazu machte er die entsprechenden Fotos. Nach zwei Stunden wussten die Kriminalbeamten, dass Marina Leistner zwischen 00:30 und 01:30 Uhr erstochen und durch die Stichwunde in ihrem Unterbauch verstorben war. Ein Sexualdelikt konnte ausgeschlossen werden. Hingegen wurde festgestellt, dass Marina Leistner irgendwann ein Kind zur Welt gebracht hatte.
Dieses Faktum ließ Nicole, wie auch ihren Kollegen, aufhorchen.
„War das nicht auch bei Ihren drei letzten Opfern der Fall?“, äußerte Felix Heller und erntete für seinen Einwurf einen rügenden Blick von Dr. Lindner.
Der Rechtsmediziner konnte es nicht ausstehen, während seiner Arbeit durch Zwischenbemerkungen unterbrochen zu werden. Hingegen suchte der Doc den Blickkontakt zu den Kriminalkommissaren und sagte: „Ich würde vorschlagen, wir veranlassen eine Tox-Screen-Untersuchung, obgleich die Leber keine Auffälligkeiten zeigt.“