Derweil in Tarikahn
Am Spätnachmittag herrschte reges Treiben in den Straßen der Hauptstadt von Talikien. Der große Markt auf dem Lamut-Platz musste in letzter Zeit aber einem anderen, weniger erfreulichen Ereignis weichen. Gamor und Delminor wohnten in ihrer Loge den öffentlichen Auspeitschungen und Hinrichtungen bei, ihr Interesse aber galt vornehmlich den heimlichen Kriegsvorbereitungen. „Langsam müssen wir dem Volk mehr bieten als dieses Schauspiel hier, sie erwarten größere Taten“, setzte Delminor an. „Die Armee steht, wir sind bereit, um uns den Süden zu holen. Aber so schwach die Maliken gegen uns auch sind, es wird nicht einfach, Mondaha zu erstürmen. Wir brauchen eine List und ich habe auch schon eine Idee.“, erwiderte Gamor. „Dann raus mit der Sprache, mein Gebieter, ich bin gespannt!“, ereiferte sich Delminor. Gamor fuhr fort: „Mein Plan geht den Umweg über Schichtstadt, aber dazu brauche ich jemanden, der die Sache mit geschickter Zunge einfädelt. Dazu brauche ich dich!“ „Du weißt, ich werde alles für unseren Weg tun, mein Führer. Sag mir, wie ich dabei helfen kann“, versicherte Delminor ergeben.
Für einen kurzen Augenblick wurde es still auf dem Lamut-Platz. Dann holte der Scharfrichter aus und es folgte der widerliche Klang eines hackenden Beils, woraufhin die Masse laut aufschrie und jubelte. Während ein Priester den bluttropfenden Kopf in der Menge herumzeigte und Hasstiraden auf die „Ungläubigen“ herabließ, begannen die Leute mit „HELI-MAR HELI-MAR“-Rufen und Gamor war gezwungen, aufzustehen und sich in Siegerpose zu zeigen. Nachdem sich die Menschen wieder beruhigt hatten und zunächst weitere Auspeitschungen anstanden, konnten die beiden ihre Unterhaltung fortsetzen.
Gamor erläuterte: „Im Grunde musst du einen Tausch einfädeln und wer kann das besser als du?! Die Angelegenheit darf aber auf keinen Fall nach außen dringen, unsere ganze Mission hängt davon ab. Natürlich kannst du dir Helfer suchen, aber niemand darf den ganzen Plan erfahren, das bleibt nur unter uns Esariern!“ Eifrig pflichtete ihm Delminor bei: „Selbstverständlich, lieber werde ich mich töten lassen, aber spann mich nicht länger auf die Folter, du weißt, ich giere nach solchen perfiden Intrigen.“ Gamor winkte ab: „Nicht hier! Wir gehen nach dem Spektakel in meine Gemächer, da ist es sicherer. Es ist nicht einfach, aber du liebst ja solche Herausforderungen, es wird dir gefallen!“
Wieder im Grauenwald
Irgendetwas hinderte Bajo daran, seine Augen zu öffnen. Scheinbar waren seine Beine gelähmt, denn auch diese konnte er nicht bewegen. Bajos Kopf schmerzte unerträglich, ihm war übel, denn es stank erbärmlich und seine Kehle war völlig ausgetrocknet. Einzig seine Arme konnte er langsam in Gang bekommen. Er fasste sich auf die Augen und spürte eine harte Kruste, links mehr als rechts. Vorsichtig versuchte er diese von seinen Lidern zu pulen. Blinzelnd nahm er mehr und mehr wahr und blickte schließlich direkt in die Augen des Rabukars! Ein kleiner Schock ließ ihn wacher werden und zum Glück erkannte er, dass diese Augen tot waren. Der Gestank drang aus dem halb offenen Maul und die Beine konnte er nicht bewegen, da das Ungetüm zur Hälfte auf ihm lag. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit und kostete enorme Mühen, bis Bajo sich befreien konnte. In der Brust des Monsters steckte der Ast, er musste sich zwischen Baum und Tier geklemmt haben und durch die Wucht des Aufpralls direkt ins Herz eingedrungen sein. Nachdem ihm allmählich klar wurde, was passiert war, galt Bajos nächster Gedanke weiteren Gefahren. Er richtete sich auf und versuchte die Umgebung zu begutachten, aber irgendwie konnte er sich nicht richtig darauf fixieren, er war doch zu sehr verwundet. So begann er, sein Wuko zu suchen und kramte, nachdem er es gefunden hatte, auch die anderen Sachen zusammen. Es war bewölkt, aber noch hell und unter größten Anstrengungen und mit starken Kopfschmerzen machte er sich auf den Weg, denn in dieser Verfassung stellte er sogar für ein großes Erdferkel ein gefundenes Fressen dar. Bajo war wie in Trance, hatte nur den Blick für die nächsten Schritte und musste oft anhalten. Er verlor jedes Zeitgefühl und die Schmerzen wurden immer heftiger. Irgendwann wurde es auch immer mühsamer, sich weiter voranzukämpfen, denn es lag wieder viel Dickicht auf seinem Weg. In einem lichten Moment sah Bajo nach oben, denn er befürchtete, sich im Kreis gedreht zu haben. Doch der Schein der untergehenden Sonne kam von hinten, also ging er noch immer nach Osten.
Wie lange er noch so weiterkroch und voranstolperte, konnte Bajo nicht mehr erinnern, er sah nur durch ein paar Büsche die Sonne aufgehen. Beschwerlich richtete er sich auf und nach einigen Schritten stand er am Rand einer riesigen Wiese. „JAAAaaa“, krächzte er befreit. Er hatte es geschafft, der Grauenwald lag hinter ihm! Aber er war immer noch sehr mitgenommen und verspürte großen Durst. In einiger Entfernung sah er eine lange Vertiefung in der Wiese, welche sich als großer Fluss erwies, als Bajo dort ankam. Er nahm ein paar Schlucke und steckte dann den Kopf ganz unter Wasser, was wirklich guttat. Seine Kleider waren von oben bis unten mit seinem und dem Blut des Rabukars besudelt, Bajo musste sich und seine Sachen erst einmal säubern. Er suchte sich eine geeignete Stelle, zog sich komplett aus und schrubbte alles ab, soweit es ging. Aber er musste immer wieder Pause machen, ihm fehlte es noch immer an Kraft. Irgendwann erklärte er alles für gereinigt und legte die Klamotten zum Trocknen auf die Böschung.
Anschließend war er selbst an der Reihe. An der einen Seite seines Kopfes brannte es stark, er fühlte vorsichtig, was ihm eigentlich fehlte, und ertastete zwei Risse auf der Kopfhaut, einen langen, großen und einen kleineren. „Da hat mich das Monster noch mit den Krallen erwischt“, folgerte Bajo. Er tapste aus dem Wasser und wollte sich gerade selber zum Trocknen neben die Kleider legen, da sah er ein Schiff in der Ferne flussabwärts fahrend. Auf gar keinen Fall wollte er gesehen werden, versteckte schnell seine Sachen und verbarg sich ein Stück weiter im Schilf. Es dauerte eine ganze Weile, bis das Schiff auf seiner Höhe war. „Seit ewigen Zeiten wieder andere Menschen…“, flüsterte er zu sich selbst und musterte das Gefährt durch die Halme hindurch. Es war ein Lastensegler, mit ein paar Passagieren darauf und einer Menge Waren. Er kam nur sehr langsam voran, da es kaum Wind gab und es war eher die Strömung, die das Schiff vorantrieb. So wie Bajo es einmal gehört hatte, führte ein großer Fluss von Schichtstadt nach Mondaha und das hier musste er sein. Als er sich sicher fühlte, kam Bajo