So brachte der Zauberer noch etliche Beispiele, um Bajo zum Nachdenken über das menschliche Verhalten und dessen Folgen zu bewegen. Es war fast Nacht geworden, sie hatten zum Abendbrot nur ein paar Reste gegessen und Malvor beendete seine Unterweisung: „Nun ist aber genug der klugen Worte. Nur allzu gerne hätte ich dich solche Situationen wirklich erleben lassen, denn du bist jemand, der eher durch Taten lernt als durch theoretische Konstrukte. Aber uns fehlt eben die Zeit und ich hoffe, dass du dich vielleicht an das eine oder andere Beispiel erinnerst, solltest du mal in eine ähnliche Lage geraten. Zum Schluss komme ich noch einmal auf den Beginn des Abends zurück, die Berechenbarkeit. Heute Nacht wirst du auf deinem Lager ein paar Kleider unter die Bettdecke stopfen, so als würde jemand dort schlafen. Du selbst wirst die lange Bank abrücken und dahinter auf dem Boden unter einer dunklen Decke im Verborgenen schlafen. Du solltest dich frühzeitig an die Unannehmlichkeiten solcher Täuschungsaktionen gewöhnen…“
Der Boden war hart und kühl und Bajo hatte große Schwierigkeiten einzuschlafen. Dadurch fing er an, nochmal über die Dinge, die Malvor ihm aufgezeigt hatte, nachzudenken und eine Sache beschäftigte ihn besonders: Er hatte sich tatsächlich viel zu leicht für die Ziele anderer einspannen lassen. Gutgläubig und hilfsbereit tat er Dinge für Leute, die er nie wiedersah oder die immer nur dann zu ihm kamen, wenn sie etwas wollten. Sie brauchten ihm nur zu schmeicheln, ihn zu loben, wie gut er doch dieses oder jenes konnte, und schon sprang er darauf an und ließ sich, wie er nun feststellen musste, meistens einfach nur ausnutzen. Auf der anderen Seite hatte er selbst oft Versprechen abgegeben und sie dann dennoch nicht eingehalten und hatte damit gerade die enttäuscht, die sonst immer für ihn da gewesen waren. Er fühlte sich dumm und schuldig. Was war er doch nur für ein Trottel!
Am nächsten Morgen beim Frühstück erzählte er Malvor von seinen Gedanken. „Ja, man ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um zu erkennen, wer einen ausnutzt und wem man mehr Aufmerksamkeit schenken sollte“, bestätigte der Zauberer. „Darum solltest du dich weiterhin bemühen, von deinen Grübeleien loszukommen, nicht fortwährend die Gedanken um dich selbst kreisen zu lassen. Dann bekommst du einen besseren Blick auf die Dinge, die um dich herum geschehen!“ Einen Anflug von Traurigkeit klang in Bajos Stimme mit, als er klagte: „Ich hatte viele Freunde und Bekannte. Aber irgendwann konnte ich einfach nicht mehr. Ich hatte das Gefühl, ich würde nur noch Theater spielen und dazu fehlte mir am Ende auch noch die Kraft.“ „Du warst einsam, denn du hast einen Weg eingeschlagen, den keiner aus deinem Kreis mit dir gehen wollte, oder konnte.“, erwiderte Malvor. „Aber ich hatte doch Freunde…“, warf Bajo ein. Der Zauberer erklärte: „Freunde sind gut. Gute Freunde sind besser. Am besten jedoch sind Gefährten!“ „Was sind Gefährten nochmal genau, Malvor?“ „Das sind Menschen, oder auch andere Wesen, die denselben Weg gehen. Sie verfolgen die gleichen Ziele, helfen und unterstützen sich auf diesem Weg gegenseitig und sie würden ALLES für einander tun, wenn es nötig ist.“, erläuterte Malvor. „Ob ich jemals Gefährten in meinem Leben finden werde?“, flüsterte Bajo traurig. „Na, du hast doch mich, oder zähle ich für dich nicht?“, rief Malvor mit einem so übertrieben entsetzten Gesicht, dass beide lachen mussten. „Auch wenn du denkst, ich wäre nur dein Lehrer und du mein Schüler, was ja auch stimmt, so sind wir aber auch Gefährten. Denn seit dem Tag, als wir uns das erste Mal begegneten, hat Leva uns verbunden. Du lernst mit großem Eifer die Dinge, die ich dir zeige, denn im Innersten hast du dich für meinen Weg entschieden. Wir gehen denselben Weg und ich würde alles für dich tun, Bajo, und ich weiß, dass du ebenso alles für mich tun würdest.“ Bajo fiel Malvor in die Arme und drückte ihn ganz fest. Daraufhin tätschelte dieser sanft seinen Kopf, blickte in die Ferne und fügte hinzu: „Und wer weiß, was noch alles kommen wird…“
An diesem Tag durchstreiften sie noch einmal die gesamte Umgebung und kehrten erst wieder zurück, als es schon fast dunkel war. Nachdem sie alles erledigt und gut gegessen hatten, saß Bajo erschöpft, aber glücklich neben seinem Zauberer und sie schauten bei einem Becher Tee ins Feuer. Bajo war froh, dass er seinen Weg gefunden und dass er Malvor hatte. Da erinnerte er sich an sein Ansinnen, in Malvors Zimmer vorzudringen. Zunächst druckste er eine Weile herum, doch dann musste er es Malvor einfach gestehen: „Als du fort warst, hat es mich auch gejuckt, in deinen Sachen zu stöbern. Ich bin hochgeklettert und war kurz davor, in dein Zimmer zu treten.“ „Ich weiß, ich habe es gesehen“, antwortete der Zauberer trocken und überraschte Bajo aufs Neue. „Dann warst du also doch da, dann warst du früher hier und hast dich versteckt!“, rief Bajo. „Nein, ich war in den Bergen. Und doch war ich einen kurzen Moment hier und habe den Falter auf deiner Nase gesehen!“ Bajo war schockiert. Er hatte Malvor gar nichts von dem Nachtfalter gesagt. „Aber wie konntest du denn gleichzeitig in den Bergen und in deinem Zimmer sein, das geht nicht?!“, hielt Bajo ungläubig dagegen. Malvor jedoch antwortete nur rätselhaft: „Es gibt Geheimnisse, für die du noch nicht bereit bist. Habe Geduld, eines Tages wirst du auch das verstehen.“ Bajo war ganz aufgeregt und ließ nicht locker: „Jetzt weiß ich, dass du zaubern kannst! Du bist ein echter Zauberer! Bitte, Malvor verrate mir, wie du das gemacht hast! Ist es ein Zauberspruch? Ja, es ist ein Zauberspruch, nicht wahr? Bring ihn mir bei, bitte!“ Malvors Ton wurde nun strenger: „Wenn das nur so einfach wäre… Glaubst du wirklich, jeder könnte ein paar Worte aufsagen und dann schwupp, kann er zaubern? Um unglaubliche Dinge vollbringen zu können, muss man auch eine unglaubliche Veränderung durchleben! Manche haben es ihr Leben lang versucht und am Ende doch nichts erreicht. Es gehört unbändiger Wille, absolute Disziplin und totale Veränderung dazu, um auch nur einen Hauch Zauberei vollbringen zu können, wenn man es überhaupt so nennen sollte.“ Malvor beugte sich zu Bajo hinüber und seine Stimme wurde jetzt wieder sanfter: „Du stehst noch am Anfang. Du musst noch viel lernen und noch viel mehr Erfahrung sammeln. Vor allem aber musst du dich erinnern, sonst wirst du deinen Schatten nie loswerden.“ Jetzt kam sich Bajo vor wie ein kleiner dummer Junge. Natürlich hatte Malvor recht. Er war vielleicht ein halbes Jahr bei seinem Lehrer und auch wenn er viel in dieser Zeit gelernt hatte, er konnte sich nicht einmal ansatzweise mit dem Zauberer messen. Im Vergleich zu ihm war er ein Nichts. Ruhig und bestimmt fuhr Malvor fort: „Ich wiederhole mich, aber es ist nun einmal so, du musst einfach Geduld haben. Lerne, übe, erinnere dich, verfolge deine Aufgaben und beobachte die Welt um dich herum. Und während du das tust, freue dich über das Leben und lache, so oft es geht, dann wird alles von alleine kommen.“
„Bajo! Bajo, sieh auf deine Hände! Sieh auf deine Hände!“, Bajo starrte Malvor an und senkte seinen Kopf. Als er auf seine Hände schaute, wurde er sich seiner wieder ganz bewusst. Ihm war klar, dass er sich im Traum befand! Er blickte auf und blickte wieder Malvor vor sich an. „Bajo, es ist Zeit aufzubrechen, ich wünsche dir viel Glück!“, sprach dieser. Bajo schrak hoch. Er kannte diesen Traum, nur war er jetzt etwas anders. Und wieso sollte er aufbrechen? Er war doch schon bei Malvor. Eilig stand Bajo auf und öffnete die Tür. Draußen konnte er den Zauberer nicht sehen, „Malvor, Malvor bist du schon wach?“, rief er. Dann zog er sich schnell an und ging hinter die Baumstumpfhütte um nach dem Valdeyak zu sehen. Es war weg! Jetzt wurde Bajo unruhig. Er lief in alle möglichen Richtungen und rief nach seinem Lehrer, doch es war vergebens. Enttäuscht kam er zurück und setzte sich erst einmal auf seinen Platz. „Er wird sicher etwas Wichtiges vorhaben und musste schnell aufbrechen, vielleicht zu den Balden“, beruhigte sich Bajo selber. Er machte erst einmal einen kleinen Happen zu essen und danach ein paar Übungen. Doch innerlich war er unruhig, aufgewühlt und schaute erneut in die Runde, ob er etwas erkennen konnte. Aber nichts! Er drehte sich wieder zum Haus und blickte auf die Hütte. „Du Trottel! Malvor liegt bestimmt krank im Bett“, rief er und rannte nach drinnen die Leiter hoch. Als er ins Zimmer schritt, bemerkte