Gemeinsam kochten sie das Abendessen, Malvor hatte frisches Gemüse und Kräuter mitgebracht. Er hatte außerdem noch frisches Fleisch von einem Hasen dabei und es gab ein leckeres Ragout, was für Bajo nach der langen Zeit ein Festmahl war. Nach dem Essen saßen beide drinnen beim Schein der Lampe, stocherten mit kleinen Stöckchen in den Zähnen herum und tranken heißen Früchtetee mit dem letzten Honig, den es noch gab. „Und, wie ist es dir ergangen?“, eröffnete Malvor das Gespräch. „Wie ich sehe, ist hier alles tipp topp in Ordnung. Und auch du bist anscheinend gut in Schuss.“ Bajo erzählte, dass er anfangs unsicher gewesen, mit der Zeit aber in einen guten Rhythmus gekommen sei, fleißig seine Übungen gemacht und sogar den kleinen Tisch, der am Kamin stand, repariert hatte. Nach wie vor tat er sich schwer mit seinen Erinnerungen, aber dafür hatte er einen perfekten Lauf auf dem Parcours am Wasserfall hingelegt.
Als er dieses ausgesprochen hatte, entstand plötzlich eine sonderbare Stimmung. Natürlich fiel ihm gleich sein Erlebnis in dem verbotenen Waldstück ein. Malvor schaute ihn wissend an. Nach einer langen, peinlichen Pause, hielt es Bajo schließlich nicht mehr aus. „Ich bin in den Wald hinter dem Wasserfall gegangen, in den ich nicht durfte“, platzte er heraus. „So…? Dann wundert es mich, dass du hier lebendig bei mir sitzt!“, äußerte sich der Zauberer übertrieben bedächtig.
Bajo war froh, dass es heraus war und erzählte nun alles. Wie es ihn gejuckt hatte, dorthin zu gehen, wie vorsichtig er gewesen war und natürlich in allen Einzelheiten, wie er den Viechern entkam und wie sehr er sich über sich selbst wunderte, auf welche Art er das tat.
„Was waren das für Kreaturen?“, wollte er wissen, als er geendet hatte. „Giftasseln! Relikte aus den Urzeiten. Was sich in ihr Revier verläuft, ist des Todes. Selbst wenn man entkommen sollte, hat nur eines dieser Schleimmonster dich erwischt, so hat es dich mit einem üblen Gift verseucht. Daran geht man elendig zu Grunde! Dass du so töricht warst, dich da hineinzuwagen, ist ein gutes Beispiel für die Schatten. Wenn man an einem Punkt steht, wo es einem gut geht, dann ist das oft ein Punkt, an dem es dem Schatten schlecht geht, denn er bekommt keine richtige Nahrung mehr. Daher pflanzt er dir einen Gedanken ein und tarnt ihn, wie in deinem Fall, als deine eigene Neugierde. Eigentlich weißt du, dass wenn ich dir sage, dort auf keinen Fall hinzugehen, tatsächlich eine tödliche Gefahr bestehen muss. Der Schatten blendet die Bedenken aus und schürt das Verlangen, wenn es nötig ist, bis zur Weißglut. Du bist noch nicht stark genug, um diesem zu widerstehen. Meine Abwesenheit war die Chance für deinen Schatten. Glaube mir, wenn ich dir sage, dass du dem Tod von der Schippe gesprungen bist. Ich habe ein Gegengift, aber ich wäre zu spät zurückgekommen, hätte etwas von dem Schleim deine Haut berührt.“
Malvor war sehr ernst geworden und Bajo schüttelte sich innerlich, weil ihm die Tragweite des Erlebnisses nicht wirklich bewusst gewesen war. „Aber das Ganze hatte auch etwas Gutes“, fuhr der Zauberer ein wenig ermunternder fort. „Die Art, wie du da rausgekommen bist, zeigt mir, dass du für die nächste Stufe deiner Wukoübungen bereit bist, das ist die gute Nachricht!“ Nun schaute Bajo wieder ganz zufrieden drein. Malvor beendete den Abend, da er sah, dass Bajo erschöpft war und beide freuten sich auf ihr Nachtlager.
Am folgenden Tag hatten sich Malvor und Bajo auf die kleine Wiese vor der Baumstumpfhütte begeben, um ein paar Übungen zur Lockerung zu machen. Bajo wollte gerade seinen Übungsstab holen, da er davon ausging, dass jetzt die Wukoübungen dran wären, aber der Zauberer hieß ihn, dort stehen zu bleiben und verschwand nach drinnen. Als er wieder herauskam, trug er ein langes verschnürtes Paket in einer Hand und Bajo ahnte schon, was kommen würde. „Dies hier haben mir die Balden für dich mitgegeben“, verkündete Malvor feierlich und übergab Bajo das Paket. Der kniete sich auf den Boden, öffnete das Paket sorgfältig und hervor kam… sein Übungsstab! Enttäuscht stand Bajo auf. „Oh“, sagte Malvor, „da muss ich mich wohl vertan haben!“ und holte hinter seinem Rücken ein nagelneues Wuko hervor, welches er Bajo entgegenstreckte: „Dieser Stab soll dich dein Leben lang begleiten und dich beschützen, Leva sei mit dir!“ Bajo strahlte über das ganze Gesicht, nahm den Stab vorsichtig an sich und betrachtete ihn neugierig. Er fühlte und streichelte seinen neuen Schatz und immer wieder murmelte etwas wie: „Mein eigenes Wuko! Wie wunderschön es ist!“ oder „Ich werde dich hegen und pflegen, du gutes Ding, ich liebe dich jetzt schon!“ Sein Wuko war etwas kürzer als das von Malvor, doch dieser war ja auch etwas größer als er selbst. Es war von schwarz-blauer Farbe und hatte einen wunderschön verzierten Mittelgriff. Bajo probierte ein paar leichte Übungen und war begeistert, denn das Wuko war genau ausbalanciert und hatte das richtige Gewicht. „Diesen Stab haben die Wukomeister in den Bergen nur für dich hergestellt, es ist eine mächtige Waffe! Wenn du den richtigen Weg gehst, wird es dich nie im Stich lassen. Werde eins mit ihm!“, fügte der Zauberer hinzu und ließ Bajo den ganzen Tag damit üben. Auch die folgenden Tage lag der Schwerpunkt auf dem Wuko. Bajo absolvierte alle Übungen an allen Orten und zu allen Tageszeiten, wie er sie auch mit seinem Übungsstab vollzogen hatte.
Eines Nachmittags gingen die beiden zu einer größeren Lichtung, die etwas weiter entfernt lag. Malvor nahm sein Wuko und führte ein paar Abfolgen aus. „Nun zeige ich dir ein Geheimnis des Wukos, pass genau auf!“, ermahnte er Bajo und begann, den Stab über seinen Kopf zu drehen. Blitzschnell machte er dann einen Ausfallschritt nach vorne und warf das Wuko wie ein wirbelndes Geschoss über die Wiese. Dabei erklang ein unheimlicher, heller, fast zwitschernder Ton. Der Stab begann nach einer kurzen Strecke, wie von Geisterhand einen Bogen zu schlagen, wobei er am Scheitelpunkt beinahe die Erde berührte und einem verdutzten Kaninchen fast die Ohren wegschlug. Der Bogen wurde so vollendet, dass das Wuko punktgenau auf den Zauberer zurückkam, der es auffing und ohne Übergang in die Grundhaltung zurückschwang. Bajo war mehr als beeindruckt. Das war wirklich magisch! „Jetzt weißt du, warum der Stab solche seltsame Form hat“, endete Malvor seine Vorführung. Er ließ Bajo vier Tage an der Technik feilen und am Ende konnte dieser den magischen Wurf selber ausführen!
Nach einem kurzen Kälteeinbruch war der Frühling vollends ausgebrochen und am Tage herrschten wieder angenehme Temperaturen. An einem klaren Morgen war Malvor besonders früh wach, denn er hatte schon ein Feuer angefacht, als Bajo aus der Hütte kam. „Zieh dich aus“, wies er ihn an. „Ich verstehe nicht“, murmelte Bajo noch etwas verschlafen. „Du sollst alle deine Kleider ausziehen!“, befahl der Zauberer. Bajo zog sich, auf Malvors strengen Blick hin, verdutzt aus, bis er splitternackt war. Er musste die Klamotten auf einen Haufen vor das Feuer legen und sah, dass dort schon die Sachen lagen, die er getragen hatte, als er in den Wald gekommen war - samt Rucksack. „Heute wirst du dich von deinem alten Leben endgültig verabschieden!“, tat Malvor feierlich kund. Dann gab er Bajo zu verstehen, laut und deutlich einen Spruch aufzusagen, den er ihm vorgab:
„Ich danke allen Menschen, allen Wesen und allen Dingen, die mich bis zum heutigen Tage begleitet und mir geholfen haben. Ich wünsche euch viel Glück! Nun aber werde ich ein neues Leben beginnen und mich als wahrer Kämpfer von meinem Herzen führen lassen.“
Anschließend forderte Malvor Bajo auf, die Sachen zu nehmen: „Und nun übergib sie dem Feuer! Versuche, an nichts Bestimmtes zu denken, lass die Gedanken auf dich zukommen“, wies er Bajo weiter an. Dieser begann mit den ältesten Kleidern und warf sie, ein Teil nach dem anderen, in die Flammen; Strümpfe, Kleider, Schuhe, Rucksack, alles. Schließlich waren die Sachen an der Reihe, die er vom Zauberer hatte. Als nichts mehr übrig war, schaute Bajo noch eine Weile den brennenden Resten zu. Wie Visionen erschienen ihm während der Prozedur bekannte Gesichter aus seiner Vergangenheit. Bilder aus vergangenen Tagen tauchten vor ihm auf, an die er sich nicht mal in seiner Höhle erinnert hatte. Sein Vater, seine Mutter, Tante Nele, seine Arbeitskollegen, all die vielen Menschen, die Teil seines Lebens waren. Eine merkwürdige Traurigkeit umhüllte ihn,