An die Totgeborenen Teil 2 - Das letzte Ziel. Gregor Samsa. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gregor Samsa
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752953770
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Umarmung. Wir trennen uns für immer. Ein bitterer Geschmack liegt mir auf der Zunge. Mir wird auf einmal klar, dass ich alles aufgebe, was mein Leben glücklich machte. Reglos schaue ich Brigitte nach, bis sie verschwunden ist. Ich bin allein.

      Es ist noch sehr früh. Ich friere. Die Sonne steckt in einer Dunstschicht. Ich gehe die Dünen hinauf. Gleich muss ich das Meer sehen, das endlose Meer.

      Ich stehe sprachlos und kann es nicht fassen: Das Meer ist verschwunden. Einfach verschwunden. Statt dessen erstreckt sich eine breite Ebene. Schemenhaft erblicke ich Äcker und Wiesen. Die Ferne verschwimmt in feinen Nebelschleiern. Kein Mensch ist zu sehen. Alles wirkt tot und bedrückend.

      Ich bin fassungslos. Was soll ich tun? Ich laufe zur Mole. Wo ist Brigitte? Sie ist nirgends zu sehen. War denn alles nur ein Traum? Ein schrecklicher Verdacht durchzuckt mich. Stand Brigitte mit meinen Feinden in Verbindung? Schließlich war sie es, die mich aufgehalten hatte. Warum bin ich nicht in der Nacht geflohen, als das Meer noch da war?

      Ich bin mutlos. Wenn die Dinge so liegen, bin ich verloren. Die Gedanken jagen durch meinen Kopf. Dann müsste ja mein Verbindungsmann auch ein Verräter sein. Ich muss Gewissheit haben.

      Ich mache mich wieder auf den Weg, den ich gestern schon einmal zurückgelegt habe. Es sind die gleichen Straßen. Es herrscht heute mehr Verkehr. Die Häuser haben nichts Bedrohliches mehr an sich. Sie wirken nur noch schmutzig und langweilig.

      Ich steige die bekannte Treppe hoch. Die Tür ist frisch gestrichen. Daneben hängt das Schild eines Reisebüros. Der Verbindungsmann öffnet mir und lässt mich eintreten. Ist das alles nur Tarnung? Der andere lässt sich hinter seinem Schreibtisch nieder. Gleichgültig schaut er mich an.

      „Sie wünschen?“

      Offenbar will er mich nicht kennen. Was bezweckt er damit? „Erinnern Sie sich nicht mehr an mich?“

      Er zwinkert nervös. „Ja, richtig. Sie hatten gestern bei mir eine Ausflugsreise zu den Sehenswürdigkeiten der Umgebung gebucht.“

      Ich werde wütend. Er will mich nicht verstehen. Mir kommt eine Idee. „Wenn Sie Agent des Reisebüros sind, möchte ich bei Ihnen eine Seereise buchen.“

      Er scheint überrascht. „Hier gibt es kein Meer.“

      „Aber gestern war es noch da“, schreie ich, „ich will wissen, was hier los ist!“

      Er schüttelt den Kopf. „Hier war noch nie ein Meer.“

      Es wird mir zu viel.

      „Haben Sie ein wenig Zeit? Kommen Sie, ich lade Sie ein. Ich werde Ihnen etwas zeigen, was Sie interessieren wird.“

      Achselzuckend erhebt er sich. Er schließt sorgfältig die Tür hinter uns ab und folgt mir. Ich überlege fieberhaft. Wieso versucht der andere, mir etwas vorzumachen? Warum geht er andererseits einfach mit mir mit, wenn er Vertreter eines Reisebüros ist? Irgendetwas stimmt hier nicht. Aber gleich werde ich wissen, woran ich bin.

      Wir kommen zur Mole. Triumphierend weise ich auf den Leuchtturm. Der Mann lacht. „Ach so. Stellen Sie sich vor, dieser verrückte Kneipenwirt hat mitten im Land einen Leuchtturm gebaut. Er war früher einmal Kapitän. Natürlich ist die Gaststätte "Zum Leuchtturm" eine Attraktion in dieser Gegend.“

      Wir gehen in die Ebene hinein. Der Boden ist feucht, der Schlamm bleibt an unseren Schuhen kleben. „Es hat in den letzten Tagen viel geregnet“, erklärt mein Begleiter und weicht einer großen Pfütze aus.

      Ich bleibe stehen und schaue mich um. Kein Baum und kein Strauch ist zu sehen. Nur umgepflügte Äcker erstrecken sich, so weit das Auge reicht. Irgendwie wirkt die Gegend bedrückend. Vielleicht, weil man nirgendwo hinkommt, wenn man hier entlang geht. Immer nur die gleiche eintönige Landschaft fände man vor, so weit man auch ginge.

      Im Grase am Wegrand liegen tote Fische herum. Manche sind noch frisch, andere wiederum schon halb verfault. Ich weise meinen Begleiter darauf hin.

      „Das sind Abfälle von der Fischfabrik, die hier in der Nähe steht“, ist die Antwort.

      Wenn ich bloß wüsste, was geschehen ist! Ich bin jetzt sicher, dass der Verbindungsmann ein Verräter ist. Ich muss ihn loswerden. Wir kehren um.

      „Wie wäre es mit einer kleinen Stärkung?“ Wir betreten das Strandhotel. Das Stimmengewirr der Badegäste erfüllt den Raum. Während der Kellner uns das Gewünschte bringt, erhebe ich mich und gehe langsam in Richtung Toilette. Blitzschnell bin ich durch die Küche über den Hof verschwunden. So leicht lasse ich mich nicht fassen.

      Ich gehe durch die Stadt. Lachend kommen mir einige Matrosen entgegen. Ich stehe vor einem großen Haus. Neben der Tür ist eine Tafel: "Museum für Meereskunde". Also doch! Ich gehe hinein. Verwirrt schaue ich mich um. Entsetzliche Ungeheuer starren mich von allen Seiten an.

      Ein älterer Herr tritt freundlich auf mich zu. „Sie sind wohl das erste Mal hier? Darf ich Sie herumführen? Gestatten, mein Name ist Professor Bronstein.“

      Ich nicke. „Sagen Sie, leben diese Bestien alle hier im Meer?“

      Er schüttelt lächelnd den Kopf über so viel Unwissenheit. „Nein, sie sind schon lange ausgestorben. Vor langen Zeiten haben sie hier gelebt.“

      „Also gab es hier früher einmal ein Meer?“

      „Ja, freilich, aber das ist schon etwa 100 Millionen Jahre her. Damals erstreckte sich hier eine große Bucht, das sogenannte Zechsteinmeer, das dann vom Ozean abgeschnitten wurde und verdunstete. So entstanden die großen Salzlager. Daher finden Sie in dieser Gegend so viele Salinen.“

      „Herr Professor, kann es vorkommen, dass ein Meer ganz plötzlich, sagen wir über Nacht, verschwindet?“

      Er lächelt wieder. „Das ist ganz unmöglich. Solche Prozesse spielen sich nicht so rasch ab. Denken Sie an das große Alter der Erde! Die Natur hat Zeit. Was sind schon einige Tausend Jahre? Ein Meer kann nicht auf einmal verschwinden. Überlegen Sie sich, wie lange es dauert, bis so eine riesige Wassermasse verdunstet. Oder denken Sie an die Po-Ebene, die in Jahrmillionen aufgeschwemmt wurde.“

      „Aber ist es nicht möglich, dass sich die Oberfläche der Erde ganz plötzlich durch ein Erdbeben verändert?“

      „Nein, sehen Sie, so ein Erdbeben, wie verheerend es auch sein mag, betrifft immer nur ein relativ kleines Gebiet. Es ist undenkbar, dass ein großes Meer durch tektonische Beben verdrängt wird. Wir kennen allerdings Fälle – die Endogenese – wo das Land aus dem Meer herausgehoben wird oder darin untergeht – denken Sie zum Beispiel an Venedig, das unaufhaltsam in der Adria versinkt – aber das sind zeitlich sehr lang sich erstreckende Prozesse, die Jahrtausende benötigen, um größere Veränderungen hervorzurufen.“

      „Also ist es möglich, dass es hier wieder ein Meer geben wird?“

      „Ja, vielleicht in hundert Millionen Jahren.“

      Ich starre den Professor an, schaue in sein altes Gesicht, das wie versteinert wirkt. Mir kommt es vor, als sei er Millionen Jahre alt. Und plötzlich sehe ich nicht mehr den Professor, sondern eine der versteinerten Fischbestien auf mich zukommen. Entsetzt fliehe ich ins Freie. Ich schaue mich ängstlich um, aber da ist gar kein Museum; nur ein ganz gewöhnliches Mietshaus.

      In mir reift ein Entschluss. Ich glaube nicht mehr, was mir die anderen erzählen. Ich habe das Meer mit eigenen Augen gesehen, also war es gestern da. Ja, gestern. Da schien alles so glatt zu laufen. Ich hatte sogar schon ein Boot.

      Das Boot! Dass ich daran nicht eher gedacht habe! Ich laufe zu der kleinen Bucht. Schon kommen die alten Bäume in Sicht. Darunter liegt das Boot. Es schwimmt im schwarzen Wasser eines kleinen Tümpels.

      Ich lasse mich jetzt nicht mehr beirren. Wenn es dieses Boot gibt, existiert auch Brigitte. Sie kann kein Traum gewesen sein.

      Ich stoße die Tür auf. Der blinde Alte sitzt am Tisch.

      „Wo ist Brigitte?“

      „Sie ist zur Mole gegangen.