Ich gehe am Leuchtturm vorbei. Eine frische Brise weht. Die Seeluft schmeckt salzig. Fern am Horizont glaube ich Land zu erblicken, doch es kann auch eine Wolkenbank sein. Das Wasser leuchtet in unwirklichem Blau. Das freie Meer, wie ich es liebe! Auf einmal ist es meine Rettung geworden. Ich möchte am liebsten sofort das Land verlassen und nach Süden über das Meer ziehen. Wenn es doch schon bald Nacht wäre!
Langsam gehe ich am Strand entlang. Die Wellen rühren mein Gemüt auf und sind doch zugleich so beruhigend. Auf einmal bin ich sicher, dass alles klappen wird. Immer wieder schaue ich hinaus auf die unbegrenzte Wasserfläche. Die Brandung schlägt ans Ufer im Rhythmus zu einer ewigen Melodie. Alles Unbedeutende versinkt. Der Blick erfasst das Ganze und wird nicht abgelenkt von Einzelheiten.
Ich bin glücklich. Alles Bedrückende habe ich hinter mir gelassen. Morgen schon werde ich weit weg sein in einem fernen Land, wo alles Unschöne nur noch undeutliche Erinnerung ist. Ich hebe einen Stein auf und werfe ihn in weitem Bogen ins bewegte Wasser. Die Schaumkämme der Wellen verschlucken ihn ohne Spur.
Es ist Zeit zu handeln. Zuversichtlich gehe ich auf das kleine Dorf zu, wo sich die Fischerhütten in den Windschatten der zerzausten Bäume ducken. Einige struppige Hunde streunen ziellos zwischen den Behausungen umher. Langsam gehe ich die staubige Straße entlang. Schon von Weitem entdecke ich vor einem abseits stehenden Häuschen meinen Verbindungsmann mit einer jungen Frau. Als er mich kommen sieht, geht er mir wie zufällig entgegen.
„Sie haben Glück. Es hat geklappt“, zischt er mir im Vorübergehen zu.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verschwand er.
Gelassen schritt ich auf das Mädchen zu. Erwartungsvoll schaute sie mich an.
„Sie brauchen ein Boot?“
Ich nickte.
„Sie können unseres haben. Mein Großvater ist blind. Er kann nicht mehr fischen fahren. Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo es festgemacht ist.“
Leichten Schrittes ging sie voran. Sie war noch jung. Sie mochte höchstens sechzehn sein. Was bewog sie, mir, einem völlig Fremden, zu helfen? Sicher, sie brauchten es nicht mehr, doch bestimmt hätten sie es verkaufen können.
In einer kleinen Bucht lag es angekettet im Schatten alter Bäume. Meine Rettung. Ich betrachtete es stumm. Warum freute ich mich nicht? Was war das für ein Gefühl, das mir fast den Hals zuschnürte? Erst jetzt, wo ich das Boot vor mir sah, kam mir zum Bewusstsein, was ich alles verlassen würde.
Das Mädchen stand hinter mir.
„Sie werden verfolgt? Wo wollen Sie bleiben, bis es Nacht wird?“
Ich schaue sie an. Sie ist schön.
„Wie heißt du?“
„Ich heiße Brigitte. Und du?“
„Mein Name spielt keine Rolle.“
Wir schweigen eine Weile.
„Komm zu uns nach Hause! Dort kannst du bleiben, bis es dunkel wird.“
In ihren Augen ist ein unaussprechliches Leuchten, dem ich nicht widerstehen kann.
Sie führt mich in ihre kleine Hütte. Ich schaue mich um. Überall hängen Netze und andere Fischereiutensilien. Eine Petroleumlampe hängt an der niedrigen Decke. Am Tisch sitzt ein weißhaariger alter Mann. Sein Gesicht ist zerfurcht, als seien die Wellen des Meeres in ihm erstarrt. Seine Augen sind unbewegt in die Ferne gerichtet, als sähen sie ein geheimnisvolles Land, das noch kein Sterblicher betreten hat.
„Wen bringst du mit, mein Kind?“
„Einen Fremden. Er wird bis zum Abend bei uns bleiben.“
Ich setze mich an den blank gescheuerten Holztisch, während Brigitte das Abendbrot bereitet. Wir essen schweigend. Jeder hängt seinen Gedanken nach.
„Sie sind ein Fremder. Warum sind Sie in diese Gegend gekommen?“, fragt mich der Alte.
„Ich liebe das Meer.“
„Ja, das Meer“, meint er verträumt, „früher, da fuhr ich jeden Tag hinaus. Doch dann geschah das mit meinem Unfall. Eines Morgens fuhr ich wie gewohnt zum Fischen. Es tobte ein fürchterliches Gewitter. Ich warf meine Netze aus. Auf einmal breitete sich aus der Tiefe ein geheimnisvolles Leuchten aus. Immer heller strahlte es in den unwirklichsten Farben. Ich starrte wie gebannt auf dieses unerklärliche Schauspiel und fühlte mich so seltsam glücklich wie nie zuvor im Leben. Plötzlich zuckte ein greller Blitz, wie von einer Explosion. Ich war betäubt. Als ich erwachte, sah ich nichts mehr. Mehrere Tage trieb ich auf dem Meer, dann fand mich ein Frachter.“
Der Alte verfiel in ein tiefes Sinnen. Seine Züge verklärten sich. Er schien wieder das märchenhafte Leuchten zu sehen, das Letzte, was er im Leben erblickte.
Brigitte steht leise auf und schaut mich an. Wir steigen die Leiter empor zu ihrer Kammer unter dem Dach. Sie umarmt mich zärtlich. Ihr Haar duftet nach Salz und See. Ihre Lippen sind feucht.
„Es ist schon dunkel. Ich muss gehen.“
„Bleib! Nur ein paar Stunden. Die Nacht ist noch lang.“
Ich liege bei ihr. Ich müsste längst auf der Flucht sein, aber ein unerklärlicher Zauber hält mich hier fest. Ich schaue in ihre Augen und glaube, in ihnen das geheimnisvolle Leuchten aus der Meerestiefe zu entdecken.
Sie ist mir so unbeschreiblich nah. Ich fühle ihr Herz pochen. Werde ich jemals wieder so glücklich sein wie jetzt? Die kleine Fischerkate ist auf einmal für mich ein Schloss. Ich drücke Brigitte sanft an mich.
„Komm mit!“
„Es geht nicht. Ich muss bei meinem Großvater bleiben. Ohne mich wäre er hilflos.“
Mir fällt etwas ein. „Hast du keine Eltern?“
„Nein, sie sind beide in einer Sturmnacht im Meer ertrunken.“
Wir schweigen. Der Wind streicht um das Haus. In der Ferne bellt ein Hund; dann ist es still. Wir vernehmen nur ab und zu das unheimliche Knistern in den Hüttenwänden.
Allmählich schlummern wir ein. Ich träume.
Ich bin auf der Flucht. Ein junger Bursche führt mich durch die unbekannte Gegend. Die ganze Umgebung ist so merkwürdig. Wir gehen durch fremde Wälder. Ich habe solche Bäume noch nie gesehen. Oh Gott, wie weit bin ich schon geflohen?
Wir kommen an ein steiles Ufer. Im Wasser wimmelt es von seltsam leuchtenden Quallen. Wir beschließen, unseren Weg über eine Sandbank zu nehmen, die eine Bucht vom offenen Meer trennt. Wir gehen los. Das glasklare Wasser reicht uns bis an die Hüften. Rechts von uns ist das tiefe Wasser, links von uns die Bucht, die eine Art Sumpf ist.
Ich entdecke ein eigenartiges Wesen, eine Art Riesenkrebs. Wie eine Spinne stelzt er auf seinen meterlangen Beinen, sodass sein feuerroter Körper aus dem Wasser ragt. Uns wird unheimlich zumute. Wir gehen schneller. Ich blicke mich um und bemerke, dass der Krebs uns verfolgt. Seine Stielaugen starren uns an, während die fürchterlichen Scheren auf und zu klappen.
Plötzlich sehe ich überall um uns die gewaltigen Krebse auftauchen. Uns sträuben sich die Haare. Wir laufen um unser Leben. In langen Sätzen erreiche ich das rettende Ufer. Ich schaue mich um und sehe, wie der junge Bursche von den wütenden Krebsen zerrissen wird.
Ich wache auf. Draußen dämmert es schon. Wie spät ist es? Ich löse mich aus Brigittes Armen. Ich darf nicht länger bleiben. Schweigend verlassen wir die Hütte. Der Morgen ist kalt. Was wird der neue Tag mir bringen? Der Traum hat mich beunruhigt.
„Komm nicht mit zum Boot! Es könnte gefährlich sein. Ich traue dem Mann