»Was könnt ihr eigentlich noch, wenn ich das höre? Aber auch da haben wir – unfreiwillig –, eine Vorlage für euch, denn es gibt kein Glück, wenn das Unglück nicht ein bisschen geholfen hätte, sagt man bei uns in Russland.
Ein paar Leute haben schon versucht den Oie einzufangen, ohne dass ich davon wusste. Da ist dann was schief gegangen und ein Toter blieb liegen. In einem Ort Namens Franzfelde, nördlich von Berlin, da war es – das ist die Vorlage.
Außerdem, Ernst, haben wir noch einen Gefallen bei euch gut, wegen der zwei deutschen Islamisten, die wir auf dem Weg nach Afghanistan abgefangen haben.«
»Ja schon, aber dazu haben unsere Chefs schon telefoniert. Ihr habt unsere Operation gestört, der eine war unser V-Mann und ihr habt ihm mächtig zugesetzt in Moskau.«
»Das war nur ein Vorgeschmack von dem, was ihm bevorsteht, wenn bei den Talib seine Tarnung auffliegt oder er nur unter Verdacht gerät. Ich kenne Afghanistan als Offizier, da könnt ihr nicht solche grünen Jungs hinschicken, die werden sofort in die Mangel genommen. Ich habe noch von keinem gehört, der da nicht gesungen hätte.«
»Du meinst den zweiten Islamisten, Fjodor, das war nicht unser Mann – nur ein Fanatiker zur Tarnung. Wir hatten keinen anderen.«
»Siehst du Ernst, es war gut, dass wir den zurückgeschickt haben. Außerdem habt ihr bessere Kliniken für Rehabilitation. Wenn der eher gesungen hätte, wäre es ihm nicht so schlecht ergangen. Wir haben euch dafür einen unserer Männer gegeben. Den Besten, einen Tschetschenen, der sich auskennt, gute Verbindungen hat und nun, mit eurem Mann gemeinsam, regelmäßig Lageberichte aus Afghanistan schickt. Deshalb sollten wir auch in dieser unerfreulichen Sache Antonow kooperieren!«
»Grundsätzlich ja, aber wie konnte das mit diesem Antonow eigentlich geschehen, Fjodor Fjodorowitsch – bei eurem Apparat und euren Vollmachten?«
»Du scherzt, Ernst, das ist auch nicht mehr so wie früher. Versteh bitte: Antonow war ein Offizier mit hohen Verdiensten, absolut zuverlässig, ein brillanter Kopf, der beste Mann des Militär-Geheimdienstes damals, sagte man – und sein Leben lang der Partei ergeben, wie es bei uns hieß.«
»Versteh schon, aber noch mal, wie konnte so was passieren?« In Buchs Worten schwang ein Anflug von Irritation mit.
»Ganz profan: Er hinterlässt einer Person der Familie einen versiegelten Brief mit dem Auftrag, ihn nach seinem Ableben an die Adresse in Deutschland zu überbringen. So ein Wunsch ist auch in Russland heilig.
Gott sei Dank hatten sie in der Familie, als alte Kommunisten, Bedenken, gleich nach dem Tode, mit so einer Sendung nach Deutschland – es war ja ein Geheimdienst-General. Also blieb der Brief irgendwie liegen. Alle, die davon wussten, starben, und als nur noch eine alte Dame da war – soviel wissen wir – bekam die auf einmal einen Gewissenskonflikt. Vielleicht hat sie ihren Popen gefragt, wie es jetzt so Mode ist. Vielleicht wollte sie aber auch nur einkaufen in Berlin – wir wissen es nicht. Jedenfalls ist die Sendung von ihr zu einem Notar in Berlin gebracht worden und wurde zum Glück nicht persönlich an den Oie übergeben. Auf diese Weise haben wir es erfahren.«
»Welcher Notar denn, Fjodor?«, merkte Buch auf.
»Den kennst du nicht – und es tut auch nichts zur Sache!«
»Welcher Notar, Fjodor Folim, wenn wir zusammenarbeiten wollen – nur für uns und ohne Konsequenzen?«
»Na schön – Bulgakow heißt der Mann, auf der Kantstraße in Berlin, wir haben ihn schon lange wegen Steuerhinterziehung und Geldwäsche für einen Londoner Oligarchen unter Beobachtung.«
»Gut«, erhob sich erst Buch, »fangt den Oie selbst. Wir werden erst mal nicht aktiv, aber stellen euch Koordinaten über eventuelle Aufenthaltsorte und die letzten Bewegungs-Profile aus dem Funknetz. Die bekommst du auf dem üblichen Wege.
Ob sich was aus dem Vorfall Franzfelde ergibt, muss ich sehen. Da ist die Kriminalpolizei sicher schon dran.
Aber bitte, Fjodor, keine Schweinereien, kein Blut mehr, keinen Lärm, einen Skandal können wir uns beide nicht leisten.
Und eine Frage noch von einem wichtigen Mann in unserer Botschaft: Er sucht sibirische Zobelfelle – Winterfelle – für einen Mantel seiner Frau zu Weihnachten.«
»Oh ja, Ernst – was wäre diese Welt, wenn wir nicht gelegentlich zusammenhalten würden?
Eine Adresse schicke ich dir morgen. Da habt ihr die größte Auswahl.
Aber topsecret! Es ist ein Zoll-Lager. Ich melde euch telefonisch an, wenn ihr wisst, wann ihr hinwollt.«
Die Agenten verabschiedeten sich förmlich.
8 Fischzug der Erinnerungen
Sie drückten sich leicht vom Steg ab, schwebten in freies Wasser und der Kahn glitt mit ein paar Ruderschlägen Ulms hinaus.
Kein Windhauch war zwischen dem Hochwald-Saum der Ufer in dieser sternklaren Nacht spürbar. Der See erschien im sanften Licht des gerade aufgehenden Mondes spiegelglatt.
Fast lautlos kamen sie nach wenigen Minuten zu einer Boje nahe am Schilf, die ein im Wasser schwimmender kaum sichtbarer, rindenlos-heller Holzkloben war.
»Der ist über ein Perlonseil auf dem Grund verankert, so fällt er nicht auf«, flüsterte Ulm.
»Wem fällt er nicht auf?«
»Na allen: Den Nachbarn, dem Förster und den anderen Anglern.«
»Ach, deshalb im Dunkeln?«
»Nö. Vor allem wegen der Chancen nachts an meinem Platz etwaszu fangen – und wegen der Stimmung. Wirst du gleich sehen, so was erlebst du nicht in der Stadt. Lass uns bisschen was tun.«
Sprach’s, und holte aus einem Plast-Eimer im Boot eine lange feste Sehne, die er an der Holzboje verknüpperte. An dieser Schnur waren im Abstand von einigen Metern armlange Schnüre mit Haken befestigt. Ulm griff in eine Büchse des Anglerkoffers und zog spitzfingrig Mehlwürmer heraus, die er einzeln an die Haken steckte.
»So geht das und das mach ich jetzt, während du langsam rudernd voraus gehst, immer in dem Abstand am Schilf entlang.«
Oie tat wie ihm geheißen und bemühte sich um möglichst geräuschloses Rudern. Schon nach etwa zweihundert Metern war das Ende der Leitschnur erreicht.
»Stopp jetzt«, brummte Ulm, »und die Schnur versank in der Tiefe. Nur eine Sorgleine mit Plast-Schwimmer am Ende markierte die Position.
»Wie tief ist es hier?«
»Zwischen zwei und drei Meter«, antwortete Ulm. Er wies auf die Ruder und dann voraus, worauf Oie mit kräftigen Schlägen in die Mitte des Sees zog, wo ihn ein aufkommendes Lüftchen mit den unvergleichlichen Gerüchen des feuchten Nacht-Waldes überraschte.
Ulm steckte einen Klappanker zusammen, versenkte ihn und sortierte sich.
»Hier – nimm die Decke, bevor du auskühlst. Das Wasser hat zwar Sommer-Temperatur, aber gegen Morgen wird’s frisch.«
Der Mond war in der Zeit ihrer Leinenarbeit in voller Schönheit aus dem Wald über den See gezogen und tauchte die Szene nun in ein graublau-silbernes Zauberlicht.
Darunter machten sie es sich bequem, und Ulm griff Obstgeist aus dem Koffer, den er mit einem Brummeln, mehr auffordernd als fragend, Oie hinhielt: »Schluck!«
Der nahm einen kräftigen Zug und gab ihn zurück, worauf Ulm schnaufend einen herunter gurgelte, der seinem Kampfgewicht entsprach.
Es war eine zauberhafte Nacht. Der Pudel stand im Bug mit den Vorderpfoten auf der Bordwand, witterte und lauschte den feinen Geräuschen des nächtlichen Waldes, die sie erst jetzt wahrnahmen.