ZEN UND DIE KUNST
DES BÜGELNS
ANATOMIE EINES UNTERGANGS
Klaus Bodenstein
"Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit, aber bei dem Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher."
Albert Einstein
Die Kunst des Bügelns
Café Esprit
Benjamin sah auf.
Die Zeitung mit seinem Artikel lag vor ihm auf dem Tisch. Er starrte seit zwei Minuten auf das Blatt, ohne eine Zeile gelesen zu haben. Was lenkte ihn so ab?
Rechts vor ihm saß eine Frau vor einem der Hochtische des Cafés und aß langsam eine Suppe; jeder Löffel eine Erfüllung.
Worauf ihn sein Unbewusstes hinweisen wollte, war nicht die gute Suppe. Die Frau saß konzentriert vor ihrer Mahlzeit, entspannt, mit durchgedrücktem Rücken, sich ihres Körpers kaum bewusst.
Aus ihrer bunten Jacke ragte ein schwerelos wirkender Busen heraus. Benjamin spürte seinen Puls im Magen pochen.
Das war ein Reiz, von dem Benjamin nicht wollte, dass er seine Aufmerksamkeit okkupierte. Er hatte Wichtigeres im Kopf. Solche Signale und Verlockungen hatten ihn nicht wie heute verstört, sondern nachgerade gestört. Lange Zeit hatte Frauen und ihre Reize aus seinem Geist verbannt.
Er hatte große Dinge im Kopf, die seine ganze Aufmerksamkeit erforderten. Stattdessen stachen ihm große Dinger ins Auge.
Er sah zurück auf die Zeitung. Einen Wimpernschlag später erwischte er sich dabei, dass sein Blick schon wieder zu der Frau abgeschweift war.
Benjamin schüttelte den Kopf und sah ersatzweise durchs Fenster in den Garten des Cafés. Einen Moment später vermaß er schon wieder alles mit seinen Blicken.
Die Zeitung half auch nicht. Nach ein paar Mikrosekunden begutachtete er sie erneut, von oben bis unten, die ganze ungewollte Routine. Die Vermessung der weiblichen Welt.
Mein Gott, ich darf da nicht so hinschauen, dachte Benjamin. Das gehörte sich nicht. Er wollte das auch nicht. Er war wegen des Zeitungsartikels über ihn selbst und wegen des guten Kaffees hier. Er wollte in Ruhe lesen.
Er ertappte sich dabei, dass er schon wieder aufsah.
Peinlich. Er konnte da nun wirklich nicht ständig so hinstarren!
Die Bedienung brachte seinen Kaffee und ein Glas Wasser. Sie wechselte ein paar freundliche Worte mit ihm, aber Benjamin war nicht bei der Sache. Nach Small Talk war ihm ohnehin nicht. Die junge Bedienung schwebte davon, Benjamin trank von seinem Cappuccino. Gut. Das hatte ihm gefehlt. Er lehnte sich zurück und sah auf.
Junge, was machst du, dachte er. Sein Puls hatte sich beschleunigt. Wieso brachte ihn diese humane Architektur so durcheinander?
Schon wieder glotzte er zu der Frau hinüber. Diesmal bemühte er sich, den Oberkörper auszublenden.
Die Frau sah gepflegt aus. Ihre oben honigblonden und unten hellblond ausgebleichten Haare hatte sie zu einem kunstvollen Dutt hochgebunden und zwei Essstäbchen überkreuz hindurchgesteckt, aus rotem Lack mit goldenen Mustern. Ihre Augen versteckten sich hinter einer großen Brille mit schmalen, dunklen Rändern. Als die Frau zu einer Serviette griff, sah Benjamin, dass sie hellblau waren.
Sie war groß, knapp eins achtzig, schätzte er. Ihre gemusterte Jacke erinnerte ihn an einen Webteppich.
Benjamin hatte eine Zeit lang in einem CAD-Konstruktions-büro gearbeitet. Er sah die Gitternetzlinien eines Rotationsellipsoids vor sich, der vorn in einen Zylinder auslief. Geometrische und ästhetische Perfektion. Dass diese geometrische Figur seinen Atem so in Anspruch nahm, gefiel Benjamin weniger.
Der Po der Frau wölbte sich sanft über die Ecken des kleinen Hockers, auf dem sie saß. Er steckte in einer Hose aus glänzendem Stoff, die knapp über hohen Schuhen endeten. Damit war sie im Stehen fast so groß wie er, schloss Benjamin.
Er faltete die Zeitung zusammen. Mit Lesen war nichts mehr. Er trank einen Schluck Wasser und griff zu seinem Kaffee.
Die Frau sah in seine Richtung, und Benjamins Blick zuckte zurück zu Kaffee und Zeitung. Gott, er wollte doch auf gar keinen Fall so aufdringlich sein und fremde Frauen anstarren. Das war das Letzte, was er sich unter einem gelungenen Cafébesuch vorstellte. Er sah auf den Tisch und auf das ZEIT-Magazin, das neben dem Göttinger Tageblatt lag.
Trotzdem nahm er wahr, wie sie aufstand und in seine Richtung kam. Sie blieb ein Stück vor ihm stehen, griff sich aber nur eine Zeitung vom Tisch neben ihm. Benjamin rückte mit seinem Stuhl zur Seite, als ob er ihr im Wege säße. Er duckte sich weg wie ein ertappter Schuljunge.
Er sah kurz auf. Ihr Busen schwebte direkt vor ihm, von der weißen Bluse fest umspannt, das Dekolleté reckte sich ihm aus der Jacke entgegen. Er nahm die weiße Bluse wahr, die sich am Rand leicht bauschte; was für ein schön verpacktes Geschenk, dachte er.
Als sie zu ihrem Tisch zurückging, wehte ihr Duft zu ihm hinüber, als ob er sich von ihr gelöst und in seine Richtung weitergewabert wäre. Sein Puls beschleunigte sich erneut.
Was war nur mit ihm los?
Schon wieder ertappte er sich dabei, wie er durch das Café hin zu ihrem Ausschnitt spähte. Sie schaute zurück, ihm war, als ob ihre hellblauen Augen einen milde kritischen Lichtstrahl auf ihn würfen. Sie wirkte nicht unfreundlich, eher amüsiert. Benjamin war aufgefallen, dass sonst niemand im Café zu der Frau hinsah; geht das nur mir so, fragte er sich, oder sind die anderen alle satt, befriedigt, versorgt?
Anstatt zurückzulächeln, senkte er nur den Kopf und verfluchte sich dafür. Diese blöde Schüchternheit, diese Feigheit. Schlimm.
Benjamin sah zurück auf seine Zeitung, nahm aber immer noch keine Zeile wahr.
Er ging an der Frau vorbei zur Herrentoilette, ohne sie auch nur ein einziges Mal anzuschauen. Er brauchte eine Auszeit von dieser Verwirrung; außerdem meldete sich der Kaffee.
Als er zurückkam, stand die Frau gerade an der Theke und bezahlte. Benjamin setzte sich zurück an seinen Tisch, sie ging an ihm vorbei. Er sah sie kaum, doch auch mit gesenktem Kopf nahm er ihre Duftspur wahr. Als sie fast bei der Tür war, wagte er noch einen Blick.
Mein Gott, was für eine schöne Frau, dachte er. Ob sie auch klug war? Oder war sie so naiv und sorglos wie die vielen gut aussehenden jungen Frauen, die er in seinen früheren Jahren kennengelernt hatte, die entspannten Schönen, die es im Leben so leicht hatten?
Benjamin nahm einen tiefen Zug aus seiner Tasse, er hatte einen trockenen Mund bekommen.
Das hatte ihn ganz schön aufgewühlt. Er verstand nicht, was in ihm vorging.
Wie konnte ihn der schöne Busen einer hübschen Frau so aus der Fassung bringen? Er wollte frei davon sein, frei, befreit, ohne Druck und Sorgen, nicht länger so stark triebgesteuert; aller Fesseln und Ketten entledigt.
Auf der anderen Seite fühlte sich diese Aufregung gar nicht so schlecht an.
Das ist doch schön, dachte Benjamin, wie die Lust einem das Blut heiß durch den Körper pumpte. Wie sie machtvoll die Organe füllte.
Macht. Vielleicht kam dieses Wort von Machen, es machen, Liebe machen, Kinder machen. Macht. Gewalt über etwas, über andere. Kontrolle. All das, aber zum Preis des Verlustes von Macht und Kontrolle über den eigenen freien Geist, der ihm so wichtig war.
Benjamin beruhigte sich langsam wieder.
Gott, hatte ihm das zugesetzt. Er war froh, dass der Anfall vorüber war.
Der Körper verlangt nach seinem Recht. Sollte er sich dem unterwerfen, oder tat er besser daran, sich weiter zu beherrschen? Das klang falsch. Wenn er seine Triebe beherrschen musste, war das etwas Negatives. Er wollte sie ruhen lassen, und sie sollten ihn in Ruhe lassen, weil es etwas viel Größeres gab als dieses Programm, das ihm sein Leben diktieren wollte.