Knapp eine Stunde später stand ihre Szene auf dem Drehplan. Sie saß neben ihrem Freund in ihrer Zimmerkulisse und wartete auf ein Zeichen von Terry, das es losging. Ich hatte mich hinten in den Kulissen auf einen Stuhl gesetzt und beobachtete sie. Als die Klappe kam, gab es ein Feuerwerk der Gefühle. Dana Burton ist ein kaltes, verzogenes Miststück. Eine Rolle, die bewusst emotionslos angelegt wurde. Heather hatte schon mehrmals mit Terry gesprochen und ihn gebeten, Dana ein paar menschlichere Züge geben zu dürfen, war aber immer wieder vertröstet worden. Ich ermutigte sie in unserem Spiegelkabinett, ruhig mal etwas zu riskieren. Als sie nun in dieser Szene mit ihrem Freund Schluss machen musste, hielt sie sich anfangs genau an die Textvorgaben. Aber sie brachte Emotionen ins Spiel; Gefühle, die Dana noch nie gezeigt hatte. Sie präsentierte diese mit einer Intensität, wie ich selbst es nie zuvor gesehen habe. Schon nach wenigen Sekunden kullerten echte Tränen über ihr Gesicht. Wissen Sie, eine Daily Soap ist Stress pur. Während einer Aufnahme laufen zeitgleich unzählige Arbeiten und Vorbereitungen leise im Hintergrund ab. Niemand nimmt wirklich Notiz davon, wenn eine Szene gedreht wird; es ist einfach tägliche Routine. An diesem Tag hielten die Menschen inne. Ich stand hinten und sah, wie immer mehr Mitarbeiter, die eigentlich nur leise an der Zimmerkulisse vorbeigehen wollten, stehenblieben. Beleuchter, Dekorateure, Stylisten, Assistenten und Schauspielerkollegen. Sie alle standen wie gebannt da und hörten Heather zu, die weinend auf dem Bett saß und einem total überforderten Jungschauspieler erklärte, warum sie ihre Beziehung beenden musste. Sie hatte ihr Skript mittlerweile verlassen, sie sprach völlig frei. Heather zeigte eine ganze Palette von Gefühlen und das so glaubhaft, dass sich niemand im Studio auch nur zu flüstern traute.
Terry Gordon ist bekannt dafür, dass er sofort einschreitet, wenn eine Szene nicht so läuft, wie er sie haben will; aber an diesem Tag schwieg er ebenso wie alle anderen, die anwesend waren. Die Szene sollte gut neunzig Sekunden dauern, aber Heathers emotionaler Monolog dauerte zwölf Minuten. Zwölf Minuten, in denen sie die intimsten Gefühle von Dana Burton offenbarte; in schonungsloser Offenheit, mit Details, die bisher in keinem Drehbuch gestanden hatten, aber absolut glaubhaft und harmonisch in ihre Vita hineinpassten. Zwölf Minuten, in denen alle Anwesenden – und das waren mittlerweile verdammt viele – gebannt an ihren Lippen hangen. Als sie fertig war verharrte sie für ein paar Sekunden mit einem verzweifelten, traurigen Gesichtsausdruck. Es kam natürlich kein Cut-Kommando, da es hier schon lange nicht mehr um ein Drehbuch ging, sondern um Emotionen und Gefühle. Heather selbst war es schließlich die ‘Cut’ rief, lächelte und den armen Jungen neben sich in den Arm nahm. Dann stand sie auf, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und verließ das Set mit einem strahlenden Lächeln. Sie erblickte mich hinten in den Kulissen, kam auf mich zu, gab mir einen Kuss auf die Wange, zwinkerte mir zu und verschwand in Richtung ihrer Umkleidekabine. Die Stille im Studio war noch immer greifbar. Es dauerte noch endlose Sekunden, bis die Anwesenden sich von dieser Szene lösten und leise tuschelnd in verschiedene Richtungen verschwanden. Und soll ich Ihnen etwas sagen? Die Szene landete genau so in der Serienfolge. Zwölf Minuten mit einer einzigen Kameraeinstellung – ohne Schnitte. Sämtliche Skripte mussten geändert werden, schließlich war diese Folge plötzlich zehneinhalb Minuten länger als vorgesehen. Handlungsstränge wurden nach hinten verschoben und neu zugeschnitten; aber es stand nicht für eine Sekunde zur Diskussion, Heathers Szene zu kürzen.«
Richard Kents Augen waren feucht geworden. Eine Träne rollte über seine Wange und er wischte sie mit dem Handrücken weg.
»Sie ist ein Schwamm, der alles aufsaugt, was sie zu einer besseren Schauspielerin machen kann. Und sie ist ein tolles Mädchen, das allen Menschen mit Respekt begegnet. Ob sie ihren Weg machen wird? Ich bin mir absolut sicher.«
Ich betrachtete den bekannten und erfolgreichen Schauspieler schweigend, als dieser glücklich und ergriffen in seinen Erinnerungen schwelgte. Ich wartete einen Moment, bis Richard Kent seine Emotionen wieder in den Griff bekam.
»Hat sich Heathers Rolle durch diesen Tag verändert?«
Der große Mann nickte lächelnd. »Oh ja. Sie spielte zwar immer noch das kleine, verzogene Miststück, aber von nun an auch ein Miststück, das Gefühle hatte.«
»Mr. Kent, Sie sind ein großartiger Geschichtenerzähler und ich könnte Ihnen stundenlang zuhören, aber leider sind wir aus einem sehr ernsten Grund hier. Können Sie mir irgendetwas über Heather sagen, dass mit ihrer Entführung in Zusammenhang stehen könnte?«
Richard Kent schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen, Lieutenant. Heather ist bei allen hier unheimlich beliebt. Ich kann mir niemanden vorstellen, der ihr etwas antun wollte.«
»Gab es mal Streitigkeiten, Eifersüchteleien, Handgreiflichkeiten?«
»Nun, ich glaube, Sie stellen sich das tägliche Leben in diesen Filmstudios viel spannender und konfliktbeladener vor, als es in Wirklichkeit ist. Im Grunde ist dies genau so ein Job, wie jeder andere auch. Wahrscheinlich gibt es in Ihrem Department auch ein paar Kollegen, die gerne auf Ihrem Sessel sitzen würden, aber daraus kriminelle Energie abzuleiten, wäre sicherlich völlig überzogen. Bei einer Serienrolle kommt noch erschwerend hinzu, dass sie nach einer gewissen Laufzeit immer mit einem bestimmten Gesicht verbunden ist. Natürlich ist es schon häufiger vorgekommen, dass Schauspieler in laufenden Serien ausgetauscht wurden – manchmal kommentarlos, manchmal mit der wenig originellen Idee eines Unfalls und anschließender Schönheitsoperation der Serienfigur – aber im Grunde wird dies vom Publikum nicht angenommen. Insofern gibt es keinen Neid auf eine bestimmte Rolle – höchstens auf den prozentualen Anteil, den jeder im Endeffekt auf dem Fernsehschirm zu sehen ist. Bei uns gab es auch mal diese Diskussionen. Als Heather bei den Zuschauern gut ankam, wurden ihre Szenen natürlich etwas ausgebaut, was gleichzeitig bedeutete, dass die Anteile von anderen Rollen dementsprechend gekürzt werden mussten. Emmy Linwood war damals davon betroffen. Sie spielte die Rolle einer Arzttochter, war von ihren schauspielerischen Qualitäten her allerdings recht limitiert. Sagen wir es mal so: Emmy profitierte von anderen, sehr auffälligen Vorzügen…; wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich glaube, Heathers Sympathiezuwächse kamen den Produzenten damals sehr gelegen, um die Serie etwas umzustrukturieren. Emmy war damals richtig sauer und lief nur noch nörgelnd durch die Gegend. Sie hat allerdings niemanden direkt angegriffen, die ganzen Sticheleien gegen Heather, Terry und die Produzenten liefen hinter deren Rücken ab. Als Emmys Serienmutter vier Wochen später ein lukratives Filmangebot bekam und ihren Vertrag bei ‘Westside Blvd.’ mit Einverständnis des Studios auflöste, war dies natürlich auch das Aus für Emmy. Ich kann mir aber beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie irgendetwas mit Heathers Entführung zu tun hat.«
»Nun, wahrscheinlich nicht. Aber wir gehen lieber einem Hinweis zu viel nach, als dass wir eine Chance auslassen, der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Falls Ihnen noch irgendetwas einfällt, rufen Sie mich bitte an. Mr. Kent, ich muss Sie bitten, mit niemandem über die Entführung zu sprechen. Wenn die Medien davon Wind bekommen, würden uns wahnsinnige Probleme bei den Ermittlungen entstehen.«
Der Schauspieler nickte bedächtig. »Ich werde nichts tun, was Heather gefährden könnte; darauf können Sie sich verlassen.«
Wir schüttelten uns die Hände und ich machte mich auf den Weg zum Ausgang.
Die Sonne brannte noch immer gnadenlos. Ich setzte mir gerade die Sonnenbrille auf, als ein junger