Traumgleiter. Christian Fülling. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christian Fülling
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748595526
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übermannt wurde. Während seiner Studienzeit hatte er hin und wieder mit Drogen experimentiert, unter anderem mit LSD. Und dieses Gefühl hier erinnerte ihn an die Trips von damals. Als hätte irgendetwas Besitz von seinem Körper ergriffen. Und je näher er seinen Augen im Spiegelbild kam, desto mehr befürchtete er eine Depersonalisation: ein psychologisches Phänomen, das ein Verlust des ursprünglichen natürlichen Persönlichkeitsgefühls darstellt. Er empfand sein Spiegelbild als fremd und nicht ihm zugehörig. Ebenfalls trat eine Veränderung seiner Körperwahrnehmung auf, als würden seine Augen jemand Anderem gehören. Und wenige Zentimeter vor dem Spiegel spürte er mit all seinen Sinnen, wie ihn jemand durch seine Spiegelbild-Augen ansah und dieser Andere gleichzeitig er war.

      Das Festnetztelefon klingelte.

      „Wer ist das denn?“

      Leicht taumelnd ging er zurück ins Wohnzimmer. Das war kein durch Alkohol ausgelöstes Taumeln; ein Gläschen Wein konnte ihm das nicht anhaben. Nein, es war ein Taumeln aus Benommenheit, ein nachschwankendes Schwindelgefühl. Ein Taumeln aus Angst, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmen könnte.

      „Samira, das ist aber eine Überraschung.“

      Keine Antwort. Nur ein leises Schluchzen.

      „Samira?!“

      Aus dem Schluchzen wurde Weinen.

      „Samira, du bist es doch. Was ist los?“

      „Papa.“

      „Schatz, was ist los?“

      „Marc…“

      „Was ist mit Marc?“

      „…hat…“

      „Ja.“

      „…eine andere.“

      „Wie bitte?“ Mit einem Schlag waren Borchardts Benommenheit und fremden Empfindungen weggeblasen. „Samira, mein Engel, wieso hat Marc eine andere?“

      „Ich habe sie erwischt.“

      „Was?“

      „Ich könnte dieses Schwein umbringen!“

      „Willst du vorbeikommen?“

      „Der hat einfach ein andere!“

      „Ich bin alleine.“

      „Und dann noch das genaue Gegenteil von mir. Irgend so eine blonde Tussi!“

      „Samira, du kannst gerne zu mir kommen. Ich bin alleine und habe nichts mehr vor.“

      „Ich weiß nicht! Ich bin so sauer, nicht dass ich noch jemanden auf dem Weg umbringe.“

      „Ach komm, Samira, wenn du jemanden umbringst, dann ihn. Also, was ist, willst du kommen?“

      „Okay, ich bin in spätestens zwei Stunden bei dir.“

      Borchardt legte auf und rieb sich durchs Gesicht. Auch wenn er großen Wert darauf lag, Samiras Selbstständigkeit zu unterstützen, hasste er es, wenn sie durch das Fehlverhalten anderer in Probleme geriet. Seine Tochter weinen zu hören, brach ihm das Herz. Dass Marc eine andere hatte, wunderte ihn jedoch nicht. Des Öfteren hatte er ihn schon dabei erwischt, wie er Frauen auf den Hintern starrte und das im Beisein von Samira, die, und das hatte Borchardt stets verärgert, immer so tat, als hätte sie es nicht mitbekommen.

      „Was waren das vorhin für Eindrücke am Spiegel, Martin?“

      Er ließ die Gedanken an Samira fallen und beobachtete seine Gefühle und ging zurück zum Spiegel und schaute sich aus verschiedenen Abständen inbrünstig an.

      „Das kann unmöglich mein Navi gewesen sein. Die Grundstimmung war zu bedrohlich.“

      Borchardt ging zurück ins Wohnzimmer und wollte sich gerade auf die Couch setzen und das Geschehene einfach vergessen, als er von einer visuellen Halluzination überfallen wurde. Eine Mischung aus der seitenverkehrten Fratze Nadines und der Leiche in den Heckmann-Höfen erfüllte seine gesamte optische Empfänglichkeit. Als ob er in einen Spielzeugbildbetrachter schaute und das zu betrachtende Bild einfach durch ein anderes ausgetauscht worden war.

      Beide Gesichter formierten sich zu einer Einheit. Sie bewegten sich minimal und atmeten. Sie sahen ihn direkt an und blendeten ihn wie die Sonne, in die man nach Tagen der Dunkelheit hineinschaut. Und aus allen Himmelsrichtungen konnte er Nadines Stimme hören. Sie lechzte und schmatzte und sabberte irgendwelche Worte, die sie in einer grauenvollen Situation offenbarten.

      Die Räumlichkeit der Wohnung hatte sich aufgelöst. Borchardt befand sich in einer zweidimensionalen Umgebung und nahm sich als einen Bestandteil innerhalb eines Bildes oder Ähnlichem wahr. Sein Blick war nicht mehr in der Lage, in die Ferne zu schweifen. Er konnte nur noch nach rechts, links, oben oder unten sehen. Die Energie seiner Blickrichtung stieß auf ein unüberwindbares Hindernis und koppelte zurück in sein Gehirn. Augenschmerzen, Kopfschmerzen und Übelkeit waren die Folge. Borchardt erschrak wie nie zuvor in seinem Leben, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als aufzuschreien.

      Er schrie mit seinem ganzen Körper, mit Leib und Seele. Sein Wachbewusstsein drohte sich aufzulösen, als befände er sich auf einer Metaebene der Existenz. Er konnte zwar noch klar und deutlich seinen Geist wahrnehmen, aber wo waren seine Gedanken hin? Was um Himmels Willen geschah hier um ihn herum? Vom Wohnzimmer war nichts mehr übrig geblieben. Kein Möbelstück, keine Geräusche, keine Energie und kein Geruch. Nur Nadines Fratze und das entstellte Gesicht der Leiche.

      „MARTIN, REISS DICH VERDAMMT NOCHMAL ZUSAMMEN! DAS IST NUR EINE HALUZINATION!“

      Borchardt verschränkte seine Hände vor seinem Gesicht, um sich vor dem Bild zu verstecken, konnte aber seine Hände und Arme nicht mehr sehen, obwohl er sie noch spürte. Dann schloss er instinktiv seine Augen und drückte sie feste zu. Ganz allmählich löste sich das Bild in unzählig kleine weiße Punkte auf, die sich zu einem neuen Galaxie ähnlichem Gebilde formierten. Er presste mit den Handballen feste gegen seine Augen, bis sich die Galaxie in ein komplett weißes Bild verwandelte, dessen Strahlkraft ihn trotz geschlossener Augen blendete. Er drückte weiter und noch ein bisschen weiter, bis sich ein Schmerz einstellte, der ihn letztendlich zwang, die Augen aufzureißen.

      Langsam verschwand das grelle Weiß in den Hintergrund, und er blickte mitten in sein Wohnzimmer, als sei nichts geschehen. Alles Erlebte war wie weggeblasen.

      Wenn man aus einem Traum erwacht, dann fließen die im Traum erlebten Emotionen mit in den Wachzustand. Man ist längst wach und der Traum vergangen, die Traumemotionen aber sind noch im vollen Umfang und manchmal für Tage präsent. Hier und jetzt erfuhr Borchardt das genaue Gegenteil. Er konnte sich deutlich an das Erlebte erinnern, ein emotionaler Nachhall hingegen war nicht ansatzweise vorhanden.

      16

      „Weil das höchstwahrscheinlich nicht deine Emotionen waren“, schlussfolgerte Theodor, nachdem er Borchardt aufmerksam zugehört hatte.

      „Weil es nicht meine waren?“

      „Martin, ich kann gut nachvollziehen, wie du dich gerade fühlst. Du bist wahrlich ein versierter Therapeut mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, den ich über alle Maßen schätze. Jede Fähigkeit birgt jedoch Gefahren in sich, die der Masse nicht einmal ansatzweise bewusst sind.“

      „Worauf willst du hinaus, Theodor?“

      „Je mehr wir lernen, je mehr wir verstehen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, in unbekannte Sphären vorzustoßen. Das ist schon immer so gewesen. Das unmöglich Erscheinende wird irgendwann vom Möglichen abgelöst.“

      „Nun gut, wie auch immer. Siehst du denn ein psychisches Phänomen hinter meinen Erfahrungen?“

      „Zunächst ja. Deine Erfahrung der Depersonalisation, deine Halluzination und der Traum gehören wahrscheinlich zusammen. Und damit hätten wir einen möglichen Zugang zu der Zahl 3 in deinem Traum.“

      Borchardt stockte der Atem.

      „Du