„Sprich ein Verbrechen?“
„So sieht’s aus. Natalie fand unter anderem Abwehrverletzungen und typische Blutunterlaufungen. Und die vorläufigen Auswertungen der SpuSi beweisen, dass ihr die Verletzungen Vorort zugefügt wurden.“
„Mit anderen Worten, sie wurde einfach mitten in der schicken Mitte abgeschlachtet?“
Tomas nickte und trank einen weiteren Schluck.
„Unfassbar.“
„So ist es.“
„Das passt irgendwie mit dem Bodybuilder ins Bild“, meinte Borchardt.
„Aber du willst mir damit nicht sagen, dass er mit dem Verbrechen in Verbindung steht?“
„Nicht unbedingt. Aber mein Navi hat mich nun einmal auf ihn aufmerksam gemacht.“
„Das ist wohl wahr“, stimmte Tomas zu.
„Was auffällt, sind die Hemmungslosigkeiten in beiden Szenarien. Einmal die Hemmungslosigkeit, durch die das Opfer getötet wurde, und die Hemmungslosigkeit des Bodybuilders.“
„Da ist was dran.“
„Was ist los Tomas, raus damit.“
„Okay, gut. Also, pass auf“, begann er hin- und hergerissen. „Martin, bevor wir zum gemütlichen Teil übergehen“, lächelte er leicht verschmitzt, „möchte ich dich in etwas einweihen, das allerdings strenggeheim ist“, beendete er mit ernster Miene.
„Ich bin ganz Ohr.“
Tomas beugte sich nach vorn, verschränkte seine Arme und stütze sie auf den Tisch. „Vor ziemlich genau fünf Jahren wurde die erste in Havelhöhe gefunden“, begann er mit leiser Stimme. „Seither sind in Berlin und Brandenburg zehn Leichen und alle immer kurz nach deren Ermordung aufgefunden worden, die uns ein Rätsel aufgeben. Fünf konnten identifiziert werden, drei Männer und zwei Frauen. Die anderen fünf nicht. Insgesamt sind es sechs weibliche und vier männliche Opfer, alle unterschiedlichen Alters. Es gab zunächst keinen gemeinsamen Nenner, außer, dass alle fünf Identifizierten ein paar Tage vor deren Auffinden vermisst gemeldet wurden. Die Behörden glaubten an voneinander unabhängige Verbrechen. Trotzdem wurde vor circa zwei Jahren eine Soko ins Leben gerufen.“
„Warum?“
„Wenn die Leichen dann doch einen gemeinsamen Nenner haben, dann den, dass jede einzelne bis zur Unkenntlichkeit zugerichtet wurde. Jede einzelne Leiche ist mehr oder weniger entstellt. Eine anders als die andere, aber alle wurden extrem übel zugerichtet.“
Borchardt musste schlucken.
„Kannst du mir folgen?“
„So, wie die heute Morgen?“
„Ja, ganz genau. Und keine zwei Leichen wurden in ähnlicher Umgebung aufgefunden. Martin, ich versichere dir, die Leiche von heute Morgen sieht noch verhältnismäßig harmlos aus im Vergleich zu einigen anderen. Wir durften die Möglichkeit, dass das doch das Werk eines einzelnen Täters sein kann, kategorisch nicht mehr ausschließen, auch wenn es kriminalpsychologisch gesehen unwahrscheinlich ist.“
„Verstehe.“
„Wir haben bis dato keine Spuren. Noch nicht einmal brauchbare Hinweise.“
Beide lösten ihre zugewandte Haltung auf, griffen nach den Krügen und tranken.
„Und trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass ein Täter oder zumindest eine Tätergruppe hinter allen Opfern steht.“
„Weil?“
„Weil es so eine Ansammlung derart grausam zugerichteter Leichen in so kurzer Zeit und so zentriert auf einen geographischen Raum in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben hat.“
„Die Leichen wurden also alle in Berlin und Brandenburg gefunden?“, wollte Borchardt wissen.
„Richtig. Vier in Brandenburg, sechs in Berlin.“
„Gibt es keine ähnlichen Funde anderswo?“
„Nein, bis jetzt nicht.“
„Wenn ich dich also richtig verstehe“, schlussfolgerte Borchardt, „vermutest du einen gemeinsamen Nenner hinter der offensichtlich zusammenhangslosen Art und Weise, wie die Opfer zugerichtet wurden?“
„Richtig. Die Zusammenhangslosigkeit wäre der Nenner.“
„Und ein weiterer gemeinsamer Nenner wäre, dass es keine offensichtlichen gemeinsamen Merkmale der Opfer gibt?“
„Du hast mich verstanden.“
„Aber das deckt sich ja mit dem Grund, warum die Soko ins Leben gerufen wurde.“
„Das stimmt. Das Problem ist nur, dass unsere Soko nur einen formellen Charakter erfüllt. Was ich meine ist, ein Großteil der Kommission glaubt nicht wirklich an einen Täter und handelt entsprechend. Und das reicht mir nicht.“
„Wenn dem wirklich so ist, dann hieße das, entweder tötet der Killer tatsächlich einfach so, wie es ihm in den Sinn kommt oder er geht nach einem bestimmten Schema vor, das sehr ungewöhnlich ist und nicht in die Erfahrungswerte eurer Profiler passt.“
„Besser kann man es nicht formulieren.“
„Wie wurden die Opfer denn zugerichtet?“, brannte es Borchardt auf den Lippen.
„Natalie ist die leitende Rechtsmedizinerin der Soko. Sie hat alle Leichen seziert. Das kannst du gerne von ihr erfahren. Ich will das heute Abend nicht mehr thematisieren.“
„Ja, klar.“
„Sämtliche Personen aus dem Umfeld der Opfer haben handfeste Alibis, und wir können keine Motive bei ihnen erkennen. Darüber hinaus haben der oder die Täter, wie gesagt, keine Spuren hinterlassen.“
„Keine einzigen?“
„Keine Sekretspuren, keine Fingerabdrücke, keine Haare, keine kleinsten Stoffrückstände oder Ähnliches, einfach gar nichts. Selbst die mikroskopisch kleinen Rückstände der Tatwerkzeuge haben uns bisher auf keine brauchbare Spur geführt. Wir müssen davon ausgehen, dass alle Tatwaffen in Eigenproduktion oder irgendwo im Ausland hergestellt wurden.“
„Auch die Schusswaffen?“
„Es waren keine beteiligt.“
„Okay, auch das sticht hervor.“
„So ist es. Die Soko, deren Leitung ich zusammen mit einem Brandenburger Kollegen innehabe, ist eine Art geheime Arbeitsgruppe der Berliner und Brandenburger Landeskriminalämter. Sie besteht aus aktuell zehn Ermittlern.“
„Das hört sich viel an.“
„Ist es aber nicht, wenn man bedenkt, dass wir mindestens zehn Verbrechen aufzuklären haben. Das ungewöhnliche allerdings ist die Einbindung des Bundeskriminalamtes.“
„Wie bitte?“
„Ja. Wenngleich Serienmörder nicht direkt zu deren Aufgabenbereich gehören, weckte die unvorstellbare Grausamkeit der Verbrechen deren Interesse. Wir sind angehalten, jeden Schritt und jede noch so kleine Entwicklung mitzuteilen.“
„Und warum geheime Soko?“, fragte Borchardt.
„Weil das BKA verständlicherweise unter allen Umständen die Presse raushalten möchte. Wir hatten sie bereits bei den ersten Funden nur marginal informiert. Solche Abscheulichkeiten gehören nicht an die Öffentlichkeit. Falls diese Verbrechen tatsächlich auf das Konto eines Einzelnen gehen, dann wäre eine Veröffentlichung vielleicht genau das, was der Täter will.“
„Und das wäre dann wieder das Schubladendenken eurer sogenannten Experten.“
„Ja. Deshalb rede ich ja mit dir.“
„Verstehe.