Ein halbes Dutzend Mord. Bernharda May. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernharda May
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750275874
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zu fragen, richtete ich an Agnes eine Frage, wo sie denn gewesen sei, als ich gerade einen Parkplatz suchte.

      ›Vor Ihrer Apotheke befand sich eine lange Schlange von Leuten, also waren Sie gerade nicht dort‹, erklärte ich. ›Wenn Daniel und Ruth gerade Sahin an der Vordertür begrüßten, hätten Sie ohne Weiteres unbemerkt über die Terrasse ins Wohnzimmer schleichen können und das Digoxin präparieren können!‹

      ›Als Apothekerin hätten Sie jedenfalls problemlos Zugriff auf Medikamente dieser Art‹, fügte Tork hinzu.

      Agnes Gesicht färbte sich violett, eine Farbe, die ich selten bei Menschen mit Wutausbruch gesehen habe. Sie keifte Tork und mich an, dass wir ganz typische Polizisten seien, die überall nur Verbrechen wittern. Mit einer eigentümlichen Art von Stolz erklärte sie uns dann, sie sei zu jenem Zeitpunkt auf der Toilette gewesen.

      ›Sie können sich ja einen Hausdurchsuchungsbefehl besorgen, um bei mir Spuren für die Richtigkeit meiner Aussage zu suchen‹, sagte sie trocken. ›Ich für meinen Fall verabschiede mich aus dieser Runde und werde zu Bett gehen.‹

      Sie schritt an den Beamten vorbei, quer durchs Wohnzimmer, und verließ es durch die Terrassentür, ohne sich noch einmal umzusehen.«

      Kay musste auflachen.

      »Sie war auf dem Klo!«, rief er aus. »Köstlich! In einem Kriminalfilm dient so etwas Profanes nie als Alibi! Also, ich glaube ihr.«

      Herrmann überging Kays Geschwätz und fuhr fort:

      »Der Abgang der Apothekerin zeigte uns, dass weitere Befragungen zu jenem Zeitpunkt denkbar ungünstig gewesen wären. Tork und die anderen Beamten zogen sich aus dem Haus zurück, auch ich sagte Ruth gute Nacht und lediglich Sahin blieb bei ihr.

      ›Ich werde das Gästezimmer zurecht machen‹, hörte ich Ruth noch sagen, bevor die Tür hinter mir ins Schloss fiel.

      Draußen stand Tork an seinem Wagen und sah nachdenklich in den dunklen Nachthimmel. Mittlerweile war es 21 Uhr. Ich trat an ihn heran, um nachzufragen, ob er einen Rat von einem alten Hasen wie mir brauche. Just in diesem Moment aber klingelte sein Handy. Er ging ran und rief nach einigen Augenblicken erfreut:

      ›Das ist ja großartig! Was für ein Tempo!‹

      Und zu mir gewandt flüsterte er:

      ›Wir haben die IP-Adresse vom gesuchten Webmaster.‹

      Ich staunte über die Geschwindigkeit, mit der die Experten den Urheber des giftigen Rezeptes ausgemacht hatten. Was doch in der digitalen Welt alles möglich war! Tork hingegen war nicht so schnell zu begeistern. Er schätzte zwar ebenfalls den raschen Fortgang der Ermittlungen, meinte aber, wie seltsam es sei, dass der Webmaster seine Identität nicht besser verschlüsselt habe.

      ›Als ob er nicht damit rechnete, dass die Spur zu ihm führen könnte‹, meinte er, zuckte dann mit den Schultern und bot an, mich morgen früh abzuholen. ›Ich habe die Anschrift bekommen, wo der gesuchte PC steht, mit dem die Website programmiert wurde. Sie können mich gern dorthin begleiten, es ist hier in der Stadt.‹

      Gern nahm ich seinen Vorschlag an. Anschließend stieg Tork in seinen Wagen und fuhr davon. Den Namen oder die Anschrift des Webmasters verriet er mir nicht und ich musste ungeduldig den folgenden Tag abwarten, bis ich Näheres erfuhr. Als Tork schließlich (mit mir auf dem Beifahrersitz) vor jenes Gebäude fuhr, aus dem das giftige Rezept stammte, staunte ich nicht wenig!«

      Hier fügte der ehemalige Kriminaldirektor eine kleine Kunstpause ein. Seine Zuhörer machten keinen Mucks – ihre volle Aufmerksamkeit galt ihm. Henry Herrmann fühlte sich in diesem Augenblick sehr wohl.

      »Wir parkten nämlich ausgerechnet vor der Firma, in deren IT-Bereich Daniel tätig gewesen war«, löste Herrmann den Spannungsmoment auf.

      »Also führte die Spur zu seinem Kollegen Sahin?«, fragte Judith.

      »Dieselbe Vermutung äußerte ich Tork gegenüber«, sagte der Kriminaldirektor, »aber der antwortete mir ebenso munter wie vage:

      ›Wir werden sehen.‹

      Und mit schnellen Sprüngen lief er ins Bürogebäude.

      ›Ich habe uns schon angemeldet und einige Leute vorausgeschickt‹, erklärte er mir unterwegs, während ich hasten musste, um mit ihm Schritt zu halten. Offenbar hat er im Gegensatz zu mir einen gesunden Schlaf gehabt.«

      »Wieder etwas, das im Fernsehen ganz anders dargestellt wird«, warf Kay ein. »Dort arbeiten die Kommissare gern ganze Nächte hindurch an ihren Fällen.«

      »Was großer Quatsch ist«, sagte Herrmann. »Ein Kriminalbeamter ist kein Supermann, der ohne Nachtruhe auskommt.«

      »Ähnliche Klischees herrschen in den Köpfen der Patienten auch über uns Schwestern und über die Ärzte«, wusste Judith zu erzählen. »Sie wundern sich, dass wir nicht vierundzwanzig Stunden, sieben Tage die Woche für sie im Einsatz sind.«

      »Apropos vierundzwanzig Stunden«, unterbrach sie Ronald etwas ungalant. »Die Lösung des Falls wartet, wenn er, wie versprochen, in der vorgegebenen Zeitspanne wirklich aufgeklärt wurde.«

      »Wurde er«, versicherte Herrmann, »allerdings doch nicht ganz so zügig, wie Sie alle im Augenblick denken. Tork stolzierte nicht ins Büro, er nahm Sahin nicht umstandslos fest, und der Verdächtige gestand auch nichts. Es gestaltete sich alles wesentlich komplexer.

      Zunächst sprach Tork mit Daniels Vorgesetzten über das Beförderungsschreiben. Damit hatte alles seine Richtigkeit. Die interne Post hatte den Geschäftsbrief am Vortag um Punkt 9 Uhr geliefert. Zufrieden mit der Antwort ging Tork weiter zu Daniels Büro. Sahin saß darin verloren auf seinem Bürostuhl, während ein Computerexperte von der Polizei die zwei PC durchforstete, die auf dem großen Schreibtisch standen.

      Er hatte sich auf Daniels leeren Platz gefläzt und achtete nicht darauf, wie er das dunkelblaue Jackett über der Lehne dabei zerknitterte. Wirklich schade war es nicht darum, dachte ich, denn die Dinger waren schlecht gearbeitet. Daniels Firma legte vielleicht Wert auf eine Einheitskleidung, viel Geld hatte sie allerdings nicht dafür hingelegt.

      Unser Experte schüttelte unzufrieden den Kopf, erhob sich vom Stuhl und winkte Sahin wortlos von seinem Platz. Dann widmete er sich dem anderen PC. Er starrte auf den Monitor, während er in unglaublich hoher Geschwindigkeit in die Tastatur einhieb.

      ›Bingo‹, rief unser Experte aus und zeigte auf den Bildschirm.

      Tork und ich sahen nur einige weiße Zeilen mit unverständlichen Codes auf blauem Hintergrund. Der Experte bemerkte die Fragezeichen in unseren Gesichtern und ließ sich herab, ausführlicher zu werden:

      ›Von diesem PC hier wurde die Website, die Sie suchen, an den Server geschickt. Erst gestern wurde sie um 9 Uhr früh aktualisiert. Wer immer hier auf diesem Platz sitzt, muss sie demnach programmiert haben.‹

      Sahin wurde blass, jedenfalls soweit man das bei seinem dunklen Gesicht behaupten konnte. Er stotterte hilflos herum, dass das nicht möglich sei. Er verstünde gar nichts von Torten und ebenso wenig von Blumen.

      Ehe Tork auf Sahins Gestammel eingehen konnte, kam eine junge Frau um die Ecke geflitzt. Entschuldigen Sie meine Wortwahl, aber ein anderer Begriff passt hier nicht. Sie schien wirklich wie ein Wirbelwind durch die Gänge zu fegen! Jedenfalls beachtete sie uns alle nicht, sondern äugte nur nach Sahin. Sobald sie ihn erblickt hatte, warf sie ihm drei Postumschläge zu und rief mit kaugummigefülltem Mund:

      ›Ist schon neune durch und du kommst eure Post nicht holen, du Trantüte! Weißt doch, dass ich Zeit verplempere, wenn ich bis zu euch runter in den Keller muss. Nochmal stehe ich nicht in der Raucherecke und warte umsonst!‹

      Und eins fix drei, war sie wieder weg.

      ›Ist das Ihre interne Postbotin?‹, fragte Tork.

      Sahin nickte.

      ›Normalerweise nehme ich ihr den Weg zu uns in die IT-Abteilung ab, da wir uns eh in der Raucherecke sehen. Heute ging es ja nicht, weil Sie alle