»Der Mordfall, von dem ich sprechen will, ereignete sich vor einigen Jahren in der Vorstadt meines Heimatortes. Ich war allerdings als Privatperson involviert. Die offiziellen Ermittlungen leitete ein gewisser Kommissar Tork, den ich damals als einen jungen, umsichtig vorgehenden Kollegen kennenlernte. Er begegnete dem Fall mit nüchterner Bedachtsamkeit und vermied viele Anfängerfehler, wie sie einige seiner Altersgenossen passieren.
Wie dem auch sei, ich war eines Sonntagnachmittags zu einer gemütlichen Kaffeerunde geladen. Das Patenkind meiner Gattin – ich will sie Ruth nennen – veranstaltete sie, ohne dass es einen besonderen Anlass gegeben hätte. Meine Frau konnte der Einladung aus terminlichen Gründen nicht folgen, also schickte sie mich stellvertretend hin. Es war nur eine kleine Runde. Neben Ruths Gatten Daniel und ihrer achtjährigen Tochter Louise war noch Daniels Arbeitskollege Sahin zugegen sowie die Nachbarin Agnes, eine Apothekerin. Sie werden sicherlich Verständnis dafür haben, dass ich nur bei den Vornamen bleibe und keine Nachnamen erwähne?«
»Selbstverständlich«, sagte Cornelia.
»Wir haben uns hier ja nicht versammelt, um Ihre Schweigepflicht anzugreifen oder unbekannte Leute zu diffamieren«, setzte Kay hinzu.
»Ich kam also kurz nach drei bei den besagten Freunden an«, fuhr der ehemalige Kriminaldirektor fort. »Etwas zu spät, was eigentlich nicht meine Art ist. Ich hatte Schwierigkeiten gehabt, einen Parkplatz zu finden; zu viele Anwohner schienen am Straßenrand zu halten, um mal eben was aus der Apotheke zu holen, die ganz in der Nähe war. Eine regelrechte Schlange stand vor dem Eingang. Wie dem auch sei, ich stellte mein Auto etwas weiter weg ab und hetzte zu Ruth und Daniel. Sie empfingen mich in ihrer Doppelhaushälfte und stellten mir Sahin vor, der sich mit Daniel ein Büro teilte. Die beiden arbeiteten in der IT-Branche, müssen Sie wissen. Die kleine Louise tänzelte um mich herum, denn sie wusste, dass Onkel Henry (also ich) immer ein kleines Spielzeug für artige Kinder einstecken hatte, wenn er zu Besuch kam.«
Bei diesen Worten blinzelte Cornelia ihrem Gatten fröhlich zu. Offenbar gehörte auch er zu dieser Sorte wohltätiger Onkels.
»Ich überreichte Ruth einen Strauß Blumen, den sie sogleich in eine Vase steckte.
›Die Maiglöckchen, die Louise im Garten gesammelt hat, sind schon ein wenig vertrocknet‹, meinte sie. ›Da können wir sie ebenso gut austauschen.‹
Wir waren gerade dabei, uns an den Tisch zu setzen, als die Nachbarin hereinplatzte. Ich kannte sie zwar schon flüchtig von einem meiner vorigen Besuche, aber erschrak trotzdem. Agnes kam nämlich nicht zur Haustür herein, sondern hinten herum durch die Terrasse. Das lag daran, dass Daniels Grundstück und ihres ursprünglich einmal eins gewesen waren und nur durch eine Hecke, nicht durch einen Zaun voneinander getrennt waren. Man hatte eine kleine Lücke in der Hecke gelassen und dort ein buntes Gartentürchen installiert, welches jedoch stets unverschlossen blieb.«
»Klingt, als hätten die beiden Parteien eine gute, vertrauensvolle Nachbarschaft gepflegt«, bemerkte Kay. »Wenn ich da an meine Nachbarn denke…«
»Es blieb ihnen beinahe nichts anderes übrig«, sagte Herrmann. »Daniel und Ruth bewohnten eine Doppelhaushälfte. Die andere Hälfte gehörte der Apothekerin. Agnes’ Familie hatte vor vielen Jahren das gesamte Gebäude samt Grundstück besessen. Es lag sehr günstig an einer wichtigen Kreuzung. Der alte Apotheker, der Vater der Nachbarin, hatte zur Hauptstraße hin seine Geschäftsräume. Es war eine schöne, altmodische Apotheke, müssen Sie wissen, mit hohen Regalen aus dunklem Holz, die sich die Wände hochzogen. Es gab viele Schubladen mit Porzellanknauf, auf denen in Schreibschrift die Namen der Medikamente standen.«
»Solche Apotheken liebe ich«, schwärmte Cornelia. »Die wirken immer so gemütlich!«
»In den privaten Teil des Hauses kam man durch den Eingang, der zur Seitenstraße hinausging. Doch der Konkurrenzdruck durch andere Apotheken sowie Drogerien wuchs und die Familie konnte das große Anwesen nicht mehr bewirtschaften. Glücklicherweise erlaubte die Länge des Hauses eine Trennung in zwei Hälften. Also zog man Trennwände hoch, pflanzte die Hecke und verkaufte den hinteren Abschnitt. Aber ich will Sie nicht allzu sehr mit der Architektur langweilen. Kommen wir zum spannenden Teil meiner Geschichte.«
Unweigerlich rückten alle Zuhörer etwas näher an den Tisch heran.
»Agnes kam also später. Sie grüßte uns und setzte sich mir gegenüber. Dabei bemerkte ich diesen typischen Apothekenduft, der ihr anhaftete. Es dauerte etwas, bis wir uns eingerichtet hatten, denn Ruth hatte eine lange, schwere Tischdecke aufgelegt, welche die Beinfreiheit beim Sitzen sehr einschränkte. Kurz darauf servierte Louise eine Sachertorte und verkündete stolz, sie ganz alleine gebacken zu haben.
›Papa hat sie sich gewünscht‹, sagte sie, ›und Mama hat nur ein klitzekleines bisschen geholfen.‹
Wir lachten und lobten das schmackhafte Aussehen. Vor allem die farbenfrohe Blume auf der Tortenmitte, aus diversen Gummitierchen geformt, imponierte uns. Ruth schenkte allen Kaffee ein (das heißt, die kleine Louise bekam eine Tasse Kakao) und Daniel teilte jedem ein Stück Torte zu, bis auf Sahin.
›Mein Glaube erlaubt mir nicht, davon zu kosten‹, sagte er entschuldigend und spielte auf die Gelatine und den Rum an, der in der Torte enthalten war. Er hatte sich ein eigenes, bescheidenes Keksgebäck mitgebracht und war damit zufrieden.
Wir saßen eine Weile ungezwungen da und plauderten. Dabei hatten Sahin und Agnes den größten Anteil am Gespräch. Daniel und Ruth blieben merkwürdig still und Louise fragte nur immer, ob es denn wirklich allen schmecke.
›Es ist nämlich ein Geheimrezept aus dem Internet‹, sagte sie, aber niemand, bis auf Agnes, ging darauf ein.
›Schade, dass ich zurzeit auf Diät bin‹, sagte sie, ›da werde ich nicht mehr als ein Stück von deinem Meisterwerk schaffen, Louise!‹
Tatsächlich nahm die Apothekerin nur ganz kleine Häppchen zu sich – wohl hatte sie deshalb ausreichend Zeit, das Gespräch am Tisch zu bestimmen.
Etwa eine Stunde verfloss und ich hatte mein zweites Tortenstück fast aufgegessen, als ich ein Zwicken im Magen spürte. Ich tat es zunächst ab und trank einen Schluck Kaffee, doch das Zwicken verstärkte sich und ich erlitt einen heftigen Krampf im Bauch. Ich musste mir mein Sakko ausziehen und bemerkte, dass die anderen Herren das Gleiche taten.
›Mama, mir ist schlecht‹, klagte Louise und war ganz blass geworden. ›Ich glaube, ich muss brechen.‹
Ruth hielt sich ihre Hand vor den Mund, offenbar ging es ihr nicht anders.
›Irgendwas stimmt nicht‹, sagte Sahin und schaute uns alle an. ›Ihr seht aus, als ob ihr plötzlich alle krank wäret!‹
Agnes versuchte sich zu erheben, musste sich aber abstützen, weil ihr schwindelig wurde.
›Mir scheint, wir haben Vergiftungserscheinungen‹, ächzte sie. ›Ruth, geh mit der Kleinen zur Toilette und stecke ihr den Finger in den Hals! Jemand ruft sofort einen Notarzt. Ich laufe rüber in die Apotheke – irgendwo muss ich noch medizinische Kohle haben.‹«
Der Kriminaldirektor hielt inne. Er war sich nicht sicher, wie detailliert er die Vergiftung schildern durfte, damit keinem der Zuhörer übel wurde. Judith Strasser schaute, ganz die resolute Krankenschwester, interessiert zu ihm. Die Augustins und die Voigts ließen sich nichts anmerken; in ihrem Alter war man es gewöhnt, über Krankheitssymptome jedweder Art zu schwatzen. Lediglich Ronald und Kay rümpften unbewusst die Nase.
»Ich fasse mich an dieser Stelle besser kurz«, entschied Herrmann, »denn die Einzelheiten kann man sich ja denken. Uns war klar, dass wir unter irgendeiner Vergiftung litten und Sahin stürzte zum Telefon, um Hilfe zu holen. Agnes, die wenig gegessen hatte, schaffte es zu sich nach Hause, holte Kohletabletten und brachte sie uns. Sie verabreichte zunächst Louise eine, dann Ruth, dann mir. Daniel erhielt die Medizin zuletzt. Sahin verzichtete, weil er sich gesund fühlte. Dann traf schon der Notarzt ein, untersuchte uns und nahm uns allesamt mit