Nachhaltig heißt dauerhaft und unbefristet. Unbefristet soll Hermann aber die Tabletten nicht einnehmen, sondern vorübergehend. Das macht ihn unruhig und nur deshalb hat er sich das Wort gemerkt. Es mag aber auch sein, dass die Ärztin dem Hermann, der vor ihr auf dem drehbaren Behandlungsstuhl saß, während ihre weichen Hände seinen Hals befingerten, nicht sagen wollte, eine von den erwünschten Wirkungen der Tabletten wird schon eine Nachhaltige sein. Und sie wird vielleicht dabei Hermanns tiefe Falten im Nacken bemerkt haben. Hermann jedenfalls hätte sie bemerkt, aber das spielt hier keine Rolle. Die Ärztin hat sich auf die Tablettenmedikation festgelegt, konnte und wollte sich Hermann gegenüber aber hinsichtlich der Wirkung nicht eindeutiger festlegen. Was hätte die Ärztin also noch sagen sollen? Den Patienten Hermann hat sie erst zwei Mal gesehen und behandelt. Oder ist es heute das dritte Mal? Hermann weiß es im Moment nicht. Es ist ihm auch egal. Nicht so der Ärztin. Ihr ist Hermann nicht egal, weil sie die Tablettentherapie für ihn verordnet hat, und die soll erfolgreich werden. Eigentlich, wenn sie Zeit zum Nachdenken gehabt hätte, würde sie sich ein wenig gewundert haben über den erlebten merkwürdigen Patienten Hermann, den Unruhigen. Seiner Unruhe aber ist sie ausgewichen, hat sie kaum beachtet, da viele Patienten unruhig sind während der Untersuchung und ihr Puls ansteigt. Sie weiß, die Unruhe entsteht selten aus der Erkrankung selbst. Die Unruhe entsteht aus der Nacktheit des Patienten, aus seinem ungeschützten Zustand vor dem Arzt. Auch Hermann fühlte sich ungeschützt und unsicher. Die Ärztin hingegen musste sicher auftreten, sicher im Tonfall und in der Information. Im Inneren, im Nonverbalen, da besonders, war sie es nicht. Im Inneren sagte sie sich, ich weiß nicht sicher, wie der Patient Hermann auf die Tabletten reagieren wird. Die Tabletten haben Streuwirkung wie das Schrot aus der Flinte. Da gibt es also bestimmt einen Treffer, so oder so. Die Ärztin, die noch so jung ist, konnte nicht anders denken, ihr fehlen die ausreichenden Erfahrungen, um auch innerlich sicher zu sein. Wir werden mal sehen, wird sie lakonisch ihren Gedankengang zu Ende geführt haben. Vielleicht wird Hermanns Schilddrüsenproblem letzten Endes wirklich nur vorübergehend sein. Oder sich zum Krebsgeschwür auswachsen, nachhaltig. Wir wissen, dass Hermann jetzt im Bad hantiert. Zum Folgetermin in der Arztpraxis wird der Sommer vorüber sein, denkt er, und die vielen Uhren in seinem Haus werden dann wieder nach der Winterzeit ticken. Fünfzig Tabletten enthält die Packung, sie wird für hundert Tage reichen. Das ist mehr als ein Vierteljahr. Also steht die Geschichte mit Hermann und seinen Tabletten jetzt ungefähr in der Zeit Juli. Das ist noch Hochsommer. Und was ist an diesem hochsommerlichen Vormittag über die Wirkung und die Dosierung der Tabletten noch alles gesagt worden? Wahrscheinlich ist, und es darf deshalb angenommen werden, dass das über Wirkung und Dosierung noch Gesagte den meisten Patienten zur Genüge bekannt ist. Weil sicher am Ende aller ärztlichen Untersuchungen, bei allen Medikamentenverschreibungen und bei allen Verabreichungen von Tabletten und den Erläuterungen dazu, zumindest in dieser oder in ähnlicher Form, auf der verbalen deutschen Skala zwischen freundlich bis gleichgültig entweder in der ärztlichen Praxis oder vom Fachpersonal der Apotheke gesagt wird: …Vor dem Frühstück…, regelmäßig…, nicht verwechseln…, Nebenwirkungen kaum…, können Sie das selber nachlesen…, bei Beschwerden…, Funktion verbessern…, Zuzahlung leider…, benötigen Sie einen Beleg…, Praxisgebühr erst wieder im neuen Quartal..., und die Chipkarte nicht vergessen... Zusätzliche Ratschläge aus dem Klatsch mit Nachbarn vor der Haustür, auf der Straße, übers Telefon oder per Email wird Hermann nicht einholen und auch nicht erhalten, weil er vor der Haustür über seine körperliche Befindlichkeit ungern spricht und im world wide web fragt er aus Zurückhaltung nicht und niemanden. Er hat die Tablettenpackung lediglich aus der Apotheke geholt, die Zuzahlung per Kreditkarte beglichen, die Packung in die Tasche gesteckt und ist in normalem Schritt ohne Umwege nach Hause gegangen. Hermann redet auch nicht weiter über die Tabletten. Er muss mit ihnen klarkommen. In Hermanns Dasein ist eine Tablette ein vom Normal abweichendes Element. Eine Tablette durchkreuzt seinen von Krankheiten bisher fast unbeschadet verlaufenden Aufenthalt auf dieser Erde. Es ist nicht so gemeint, dass ihm eine Tablette, auch wenn sie halbiert ist, etwas antun würde... Falsch. Sofort korrigiert sich Hermann. Sie tut ihn doch etwas an. Dass er sie einnehmen muss, ist Sein zerstörend. Es ist ihm die Bestätigung dafür, dass nun und inzwischen und aus Gründen der gesundheitlichen Umsicht und Vorsorge, für seine körperliche Erhaltung Hilfe von außen in Form von Tabletten aufgenötigt wird. Etwas in ihm ist out of order, ist der Anfang vom allmählichen Ende. Die Tablettenschachtel zielt genau auf Hermann wie der Lauf einer munitionierten Waffe. Das runde schwarze Mündungsloch ist schussbereit. Die Waffe wird ihn töten oder sie wird ihr Ziel verfehlen. Aber nein, die alte Tante Profalla aus der Kinderzeit ist ja auch nicht an ihrem Kropf gestorben, sondern erst, als sie 81 Jahre alt geworden war. Die Tabletten werden mir sicher helfen, auch so alt zu werden, sagt sich Hermann, auch wenn die Hilfe ungeliebt ist und anteilig in geringer Höhe auch noch von seinem eigenen Geld bezahlt werden muss. Hermann hat in seinem Leben noch nie gern Tabletten eingenommen. Er hat Tabletten gemieden, auch wenn irgendwann in seiner Vergangenheit die Einnahme angeraten war. Er hatte auch bisher keine solche Krankheit in sich gehabt, die Tabletten über eine lange Zeit erforderlich machte. Nun ist es anders und eine Anfechtung ist da. Er sträubt sich. Er will die Wirkung der Tabletten nicht messen. Er will sie nicht erleben und nicht spüren. Ihre Einnahme und ihre Wirkung sollen unmerklich sein.
Hermann reitet.
Treffender gesagt, Hermann reitet einen alten Gaul mit kindlicher Rute. Seit seinem zweiten Arztbesuch sucht er nach einem Weg, die Tabletten zu umgehen, wie ein Schüler, der die Hausaufgaben nicht machen will. Er ist inzwischen schon feige und unsicher gegen sich selbst geworden. Was würde geschehen, so fragt er sich, wenn ich die Ärztin täuschte und sie beim nächsten Termin anlügen würde? „Ich könnte ihr gegenüber behaupten, ich habe alle Tage die Tabletten eingenommen, obwohl ich bereits seit einem Monat abstinent wäre. Die Ärztin kann mich nicht kontrollieren. Das geht praktisch nicht.“ Dem steht gegenüber, dass sich Hermann selbst zu kontrollieren hat. Er hat sich die Tabletteneinnahme selber zur Pflicht gemacht. Da wird es für ihn schwierig, von der kasteienden Selbstverpflichtung hinweg zu kommen. Wie er auch sinnt, der Tabletteneinnahme auszuweichen, er findet keine Lösung und mitunter fürchtet er sogar, dass die Erkrankung heftiger würde? Hermann sieht sich wie in einem Spiel, dessen Regeln er aber bestimmen, und ohne Not auch verlassen könnte. Er könnte doch die lästigen Regeln abschaffen. Er könnte neue Regeln aufstellen und das Spiel neu beginnen, oder einfach anders spielen. Aber am besten wäre es für Hermann, irgendjemand würde plötzlich aus heiterem Himmel sagen, das Spiel ist aus, die Sache mit den Tabletten hat sich ab sofort erledigt. Dann käme sich Hermann wie im Märchen vor, so wie vor vielen Jahren im Ferienlager, als die allmorgendlichen ungemütlichen zwanzig Minuten des peinigenden Frühsports mit den hässlichen Kniebeugen und dem ekelhaften Langlauf plötzlich zu Ende waren, und Hermann nach den kühlen Nächten auf dem Strohsack und noch mit dem Schlaf in seinen Knochen sich nicht mehr zum Frühsport überwinden musste, und den anderen Jungen aus den anderen Lagergruppen gegenüber nicht mehr anzugeben brauchte, mit zu den Ersten, den Besten, zu den Schnellsten zu gehören, wenn er danach gefragt worden war. Damals, in jenem Feriensommer, schlug eines Morgens tatsächlich jemand den Eingang vom Zelt zurück, zeigte sein Haupt und kommandierte mit blechern scharfer Zunge ins Zeltinnere: „Heute kein Frühsport, es regnet.“ Wie weggezaubert war plötzlich die verhasste Anstrengung. Sie hatte sich aufgelöst im lapidaren Frühregen. Dauerlauf, Kniebeuge, Rumpfbeuge, Liegestütze, Armkreisen vorwärts und rückwärts und erst nach diesen Anstrengungen, lange, lange Minuten danach erst gab es die dicke Butterstulle mit der süßen Marmelade oben drauf und den heißen Milchkaffee... Die ganze Regel des Frühsports galt nicht mehr. Es galt jetzt anderes. Das bisherige Reglement hatte sich erledigt. Die Wolken am Kinderhimmel hatten sich einfallen lassen zu regnen und alle konnten die verpflichtende Frühsportregel vergessen. Von da an blieb auch das Gras um das Ferienlager herum morgens immer feucht. Und feuchtes Gras hieß, nasse Schuhe und Gänsehaut und Grippe und Mandelentzündung. Das wollte niemand. Das Marmeladenbrot konnte genüsslich gleich nach dem Aufstehen und nach dem Waschen und ohne Frühsport verzehrt werden. Niemand wurde krank, weil der Frühsport ausgefallen war. Wer aber erwartet hatte, Hermann und die anderen würden von der Regel des Frühsporttreibens gesünder werden, fand weder zur einen noch zur anderen Seite hin eine Bestätigung. Das Gesundbleiben und das Nichtkrankwerden waren wohl mehr fiese Gedanken und Überzeugungen aus der Erwachsenenwelt. Die den Körper angeblich ertüchtigende