Nur ein Märchen?. Lucie Tourmalin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lucie Tourmalin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847656319
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davon ausgehend, dass er sich neben mich setzen würde – ich war doch einfach zu cool. Und er war neu und kannte noch niemanden, die Chance konnte er sich nicht entgehen lassen – dachte ich.

      Zu meinem Entsetzen ging er an mir vorbei, ging weiter nach vorn.

      „George“, zischte ich, SEIN Fauxpas war MIR regelrecht peinlich, „nicht, vorne sitzen immer nur die Streber.“

      Er zwinkerte mir zu, ging weiter – und betrat das Podium.

      Ich wusste zuerst nicht, was ich davon halten sollte, so verdutzt war ich. Er ging zum Mikrofon. Er nahm es. Er schaltete es ein. Er sagte: „Guten Tag liebe Studentinnen und Studenten. Herzlich willkommen zu meiner Vorlesung ‚Die Dichtung des Mittelhochdeutschen‘. Ich bin George Darnett und freue mich über Ihr reges Interesse an dieser Veranstaltung.“

      Er sah mir direkt in die Augen und zwinkerte wieder. Ich wollte im Erdboden versinken. Ich wollte unsichtbar sein. Ich wollte sterben. Mit hochrotem Kopf saß ich da und starrte auf den Tisch vor mir, ich traute mich nicht, den Blick zu heben. An meinen tollen Plan – checken, ob es eine Anwesenheitskontrolle gibt und mich wieder verziehen – wagte ich gar nicht, zu denken.

      Nach der Vorlesung rannte ich aus dem Saal und in den nächsten Tagen wechselte ich stets die Richtung, wenn ich George kommen sah. Bis er mich ein paar Tage später doch abfing und mich in ein Gespräch verwickelte. Nach wenigen, angespannten Minuten wurde ich zunehmend ruhiger und merkte, dass ER MEINEN Fauxpas mit Humor nahm. Heute können wir beide herzlich darüber lachen und George liebt es, diese Geschichte zu erzählen.

      Ich sehe ihn verträumt an. Wovon sprechen George und Emily da gerade?

      „… benimmt sich ja immer wie ein Elefant im Porzellanladen“, höre ich ihn sagen. Aha, es geht immer noch um mich. George sieht mich an und legt mir einen Arm um die Schultern, ich lehne mich gemütlich an ihn.

      „Ihr beide wärt so ein tolles Paar“, seufzt Emily. George und ich grinsen uns an.

      „Ja, wenn Hilda ein echter Kerl wäre, dann könnte ich mich sicher nicht von ihr fernhalten“, stänkert George.

      „Von mir fernhalten kannst du dich auch so nicht, das einzige, was wir nicht miteinander tun, ist ES. Sonst jawohl alles“, gebe ich zurück und boxe ihn in die Seite.

      Und es stimmt. Seit unserem turbulenten Kennenlernen sind wir fast unzertrennlich. Eine kurze Krise hatten wir, als ich noch nicht wusste, dass George schwul ist, und einige Zeichen falsch gedeutet habe. So richtig verliebt in ihn war ich nie, es gab aber von Anfang an diese Zuneigung zwischen uns.

      Naja, und an einem Abend – ich hatte etwas zu viel getrunken und hegte schon länger den Verdacht, George wäre in mich verliebt – ging ich aufs Ganze und versuchte, ihn zu verführen.

      Mit mäßigem Erfolg. Er eröffnete mir, dass er schwul ist, ich schämte mich einige Tage lang und verweigerte jeden Kontakt zu ihm, und dann war wieder alles wie immer, nur noch entspannter. Der Druck war weg. Ich wusste, dass zwischen uns nie etwas laufen würde und deutete dann auch keine Zeichen mehr falsch.

      „Darling, ich freue mich wirklich, dass du mitkommst“, unterbricht George meine Gedanken. „Ich habe uns ein tolles Hotel gebucht. Wir fahren morgen um 15 Uhr mit dem Bus an der Uni ab. Bitte sei pünktlich. Ich muss jetzt los.“ Er verabschiedet sich mit Küsschen von Emily und mir und dann sind wir wieder allein.

      Ich lasse mich neben ihr auf das Sofa sinken. „So, wir waren bei dem nackten Mann und Nils“, greife ich unser Thema von vorhin wieder auf.

      Sie sieht mich lange an. „Das war wohl ziemlich daneben, oder?“ Dumme Frage, was soll ich dazu sagen?

      Sie weiß, dass ich Fremdgehen mies finde, aber so richtig mies, und dass sie meine beste Freundin ist und dass es ihr jetzt leidtut, ändert auch nichts an meiner Einstellung.

      „Naja, ein netter Kerl wie Nils hat es eigentlich nicht verdient, dass du ihn so hintergehst“, sage ich zögernd. Pause. Schweigen. Jede knabbert noch einen Keks. Wir haben es schon immer so gehalten, dass wir uns die Wahrheit sagen. Das tut zwar manchmal weh, so wie in diesem Moment, aber letztendlich ist es gut für uns.

      Emily gibt sich einen Ruck. „Ich kann es irgendwie selbst noch nicht fassen, dass ich das getan habe. Es fing so unwirklich an, und da ich es niemandem erzählt habe und Walter so extrem auf Geheimhaltung bedacht war, ja, da hab‘ ich wohl gedacht, wenn es keiner weiß, dann passiert es auch nicht, jedenfalls nicht richtig.“ Sie lässt den Kopf sinken. Traurig, mutlos, ein Bild des Elends.

      „Also du meinst so was wie ‚Wenn im Wald ein Baum umfällt, aber keiner da ist, der es hören könnte, hat es dann überhaupt ein Geräusch gegeben?‘ Die große Frage der Philosophie. Dazu habe ich mal ein ganzes Semester lang ein Seminar besucht. Diese Rumphilosophiererei liegt mir nicht. Wenn du einen Betrug begehst und niemand davon weiß, ist es dann also wirklich passiert? Ich bitte dich!“ So leid sie mir auch tut, ich hasse solche lahmen Ausreden. Das ist feige und unfair, sonst nichts. Und eigentlich sollte sie das auch wissen, immerhin wurde sie selbst auch einmal betrogen und fand es gar nicht toll.

      Sie hebt den Kopf ein wenig und schielt mich von der Seite an. „Eine schwache Ausrede, oder? Oh Hilda, was hab‘ ich nur getan? Was hab‘ ich mir denn nur dabei gedacht?“ Emily beginnt zu schluchzen. „Ni-hi-hils ist der be-he-heste Ma-hann, den i-hi-hich mir vo-horstellen ka-hann.“ Jetzt, wo die Tränen einmal fließen, gibt es kein Halten mehr. Ich nehme sie in den Arm.

      „Ach, Liebes, du beendest erst einmal die Sache mit dem nack – mit Walter. Und dann…“ Ja, was dann? Emily sieht mich mit rotgeränderten Augen an, eine Haarsträhne hängt ihr ins Gesicht, doch es scheint sie nicht zu stören.

      „Meinst du, ich muss es Nils sagen?“, flüstert sie. Ich denke nach. Schwierig. Aber eindeutig. „Ja. Ihr wollt heiraten. Du willst doch deine Ehe nicht auf einer Lüge aufbauen“, sage ich schließlich langsam. Sie zuckt zusammen. „Aber was, wenn er mich dann verlässt?“ Ihr Gesicht ist schmerzverzerrt. „Wenn er mich nicht mehr heiraten will?“

      „Machen wir uns nichts vor, er wird sich nicht darüber freuen. Aber es wäre unfair, ihm nichts zu sagen.“ Sie nickt.

      „Sieh mal, wenn du es ihm nicht sagst“, fahre ich fort, „dann schleppst du das immer mit dir herum. Und du lebst ständig in der Angst, dass er es vielleicht doch noch herausfindet. Und stell dir mal vor, er erfährt es in ein paar Jahren. Dann wird er dir nicht nur den Betrug vorwerfen, sondern auch, dass du es ihm verheimlicht hast. So kann er jetzt entscheiden, ob er mit dir zusammenbleiben will oder nicht. Aber du spielst mit offenen Karten.“ Ich lege den Arm um ihre Schultern, in der Hoffnung, ihr so Mut zu machen und sie zu trösten. „Du schaffst das.“

      Emily sieht mich an, zieht die Nase hoch und versucht ein schiefes Grinsen. „Kann ich nicht noch warten, bis du wieder da bist? Ich glaube, ich brauche deine Unterstützung! Ich sage es ihm nächstes Wochenende.“

      „Nein“, entgegne ich energisch, „das ist wichtig. Du kannst nicht noch eine Woche verstreichen lassen. Morgen gehst du zu Nils und sprichst mit ihm. Ich bin auf dem Handy erreichbar. Wenn du hier nicht klarkommst, rufst du mich an. Und wenn das nicht reicht, dann komme ich halt früher zurück.“

      Sie schließt die Augen, atmet tief ein und dann ganz langsam aus, dreimal hintereinander, das ist ihr Ritual in Stress-Situationen. „In Ordnung. Alles wird gut.“

      Ich lache und gebe ihr einen Kuss auf die Wange. „Genau, alles wird gut. Weißt du noch, dieses Buch, das ich mal gelesen habe, über Autosuggestion? Man muss sich nur immer wieder selbst sagen, was man möchte, dann glaubt man daran und schließlich wird es auch so. Alles wird gut. Alles. Wird. Gut.“

      Anschließend sitzen wir noch eine Weile zusammen und sehen fern, aber keine von uns sieht richtig hin. Wir hängen beide eigenen Gedanken nach. Schließlich gehe ich in mein Zimmer und packe meine Tasche für die anstehende Reise nach Worms. Da ich direkt von der Arbeit aus zum Bus gehen werde, muss ich meinen Koffer heute Abend noch fertig packen.

      Aber ich bin total neben der Spur, kann mich nicht