Nur ein Märchen?. Lucie Tourmalin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lucie Tourmalin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847656319
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trotz der hitzigen Diskussion so leise wie möglich zu sprechen. Verlobter – Ausrutscher – zu spät, um es dir zu erklären – auf deine Diskretion verlassen – Frau das erfährt – Hilda – nicht da.

      Ich sitze auf meinem Bett, begutachte meinen verbrühten Fuß und versuche, die Satzbruchstücke in Zusammenhang zu bringen. Also Emily und dieser nackte Mann haben eine Affäre, von der ihr Verlobter Nils wohl nichts weiß. Der nackte Mann wiederum weiß nichts von dem Verlobten – bis vorhin wusste er zumindest nichts davon. Er scheint aber selbst auch verheiratet zu sein, also kann es ihm doch egal sein, wenn Emily ihren Partner ebenso betrügt wie er seine Frau. Und von Betrug sprechen wir hier ganz unmissverständlich.

      Schade. Nils und Emily waren für mich das perfekte Paar. Emily und ich kennen uns schon seit der Grundschule, sind nach dem Abitur gemeinsam in diese Wohnung gezogen und haben uns bis auf kleinere Streitereien unter Mitbewohnerinnen immer gut verstanden. Mehr als das.

      Als Lukas mich nach zwei Jahren Beziehung aus mir unerfindlichen Gründen verlassen hat, hat Emily die ganze Nacht mit mir im Wohnzimmer gesessen und mich getröstet.

      Als Viktor sie betrogen hat, haben wir gemeinsam alle Sachen, die er in unserer Wohnung gelassen hatte, in kleinste Schnipselchen geschnitten und aus dem Fenster geworfen.

      Wir wussten immer, in wen die andere gerade verliebt war, welche Beziehung gut lief und welche kurz vor dem Aus stand. Wir lachten, weinten, feierten, lernten, kochten und lebten zusammen, waren beste Freundinnen, jede wusste, wie es der anderen ging.

      Dann kam Nils und nach wenigen Wochen erzählte Emily mir, dass sie sicher sei, den Richtigen gefunden zu haben und dass sie hoffe, er sehe das auch so.

      Er sah es auch so. Nach einem Jahr Beziehung machte er Emily einen Heiratsantrag und sie nahm ihn überglücklich an.

      Seitdem liegen in der Wohnung Hochzeitszeitschriften und Zeitungen mit aufgeschlagenem Immobilienteil herum. Emily und Nils wollen noch getrennt wohnen, bis sie genug Geld gespart haben, um eine luxuriöse Hochzeit bezahlen und die Anzahlung für ein Haus leisten zu können.

      Meiner Meinung nach etwas altmodisch, aber irgendwie passt es zu den beiden. Und jetzt so was – ein nackter Mann in Emilys Zimmer. Und ich habe es nicht kommen sehen. Seit Emily Nils kennen gelernt hat, habe ich sie nicht mehr von einem anderen schwärmen gehört. Und nun das.

      Ich schrecke hoch, weil die Wohnungstür geräuschvoll zugeschlagen wird. Gleichzeitig höre ich leise Schritte auf dem Flur, die vor meiner Tür stoppen.

      „Hilda?“, Emily steckt zögerlich den Kopf durch den Türspalt. Ihr Gesicht ist ganz verquollen, sie hat geweint. Getrocknete Tränen haben glitzernde Streifen auf ihren Wangen hinterlassen.

      Ich humpele auf sie zu und umarme sie. „Was ist denn los? Was war das denn? Und WER war das denn? Komm, wir gehen ins Wohnzimmer.“ Wir setzen uns auf die Couch – im Fernsehen laufen immer noch die ‚Gilmore Girls‘ – und ich ziehe eine Schachtel Oreos aus der Schublade unter dem Tisch.

      Emily greift auf der anderen Seite der Couch neben die Lehne und holt unsere Notfall-Flasche Baileys hervor. Jede von uns isst schweigend einen Keks und trinkt ein Gläschen Baileys, dann sehen wir uns zum ersten Mal richtig an.

      Ich pruste los. „Emily, ich bitte dich, ein nackter Mann in unserem Flur? Warum kommt der denn nackt zur Tür? Der hat doch gehört, dass ich da bin!“ Emily kichert verhalten.

      „Aber du. Sitzt da in der Unterhose vor meiner Tür. In einer Pfütze. Ich dachte, du wärst stubenrein! Pfui!“ Sie schüttelt den Kopf und plötzlich müssen wir beide laut lachen.

      Ich lache und lache, mir tut der Bauch weh, Tränen rinnen mir über das Gesicht und ich japse nach Luft. Emily hält sich ebenfalls den Bauch und ihr Gesicht ist noch röter als vorhin.

      Das Gelächter hat die Anspannung gelöst und wir trinken noch ein Gläschen, sicher ist sicher, wir wollen ja nicht, dass die Anspannung zurückkehrt. Dann fängt Emily an zu erzählen.

      „Also, der nackte Mann hat auch einen Namen. Sein Name ist Walter und er arbeitet bei mir in der Firma. Er ist eins von den ganz hohen Tieren, aber in einer anderen Abteilung. Er ist also nicht mein Vorgesetzter oder so.“ Sie blickt mich entschuldigend an, wobei ich die leise Vermutung habe, dass sie sich nicht dafür entschuldigen will, dass der nackte Mann in ihrer Firma arbeitet.

      „Ja, ok“, sage ich, „aber warum ist der nackte Mann, ich meine Walter, warum ist er hier gewesen und warum hast du mit ihm, du weißt schon?“ Ich weiß, das ist sehr direkt gefragt, aber ich finde, es steht mir als bester Freundin, Mitbewohnerin und engster Vertrauten durchaus zu, indiskrete Fragen zu stellen. Sie sieht mich lange an und nippt an ihrem Glas, bevor sie weiterspricht.

      Und dann erfahre ich nach und nach die Geschichte, wie der nackte Mann Emily auf der Arbeit angeflirtet, ihr über das firmeninterne Mailprogramm versaute kleine Nachrichten geschickt und sie schließlich in einer Mittagspause verführt hat.

      „Ich hätte das nie von mir gedacht, aber ich wollte es in diesem Moment wirklich. Vielleicht weil es eben so unwirklich war – im Auto, in der Tiefgarage, während ich eigentlich drei Reihen hinter meinem Chef in der Tagung sitzen sollte. Das war jetzt vor zwei Wochen. Wir haben es jetzt schon in nahezu jedem Lagerraum in der Firma getan, sogar auf der Toilette und in seinem Büro nach Feierabend.“

      Sie schüttelt sich. „Ich habe ihm nicht erzählt, dass ich einen Freund, einen Verlobten, habe. Ich dachte irgendwie, so bleibt es weiterhin irreal. Ich liebe Nils wirklich. Mit Walter, das ist nur“, sie atmet tief ein, „ich weiß nicht, was es ist.“

      Naja, ich würde mal sagen, es ist eine Affäre. Und weil niemand von der Affäre erfahren sollte, war der nackte Mann auf enorme Geheimhaltung bedacht. Sollte nämlich seine betrogene Frau Wind davon bekommen, wäre er laut Ehevertrag zur Zahlung horrender Summen verpflichtet, erzählt Emily schniefend.

      „Ich dachte, wir könnten uns hier treffen, weil du nicht da bist.“

      Noch ganz benommen von der Geschichte schüttele ich den Kopf. „Aber wo sollte ich denn sein?“

      „Na, bei deinen Eltern? Der Geburtstag von deiner Oma? Oder ist das nicht heute? Ich dachte, du fährst direkt nach der Arbeit dorthin.“ Oh nein.

      Ich fluche. „So ein Mist! Das hab‘ ich ja total vergessen. Argh! George mit seinem Trip nach Worms hat mich ganz aus dem Konzept gebracht!“ Ich springe auf und renne zum Telefon. Mit zitternden Händen wähle ich die Nummer meiner Eltern. Emily guckt mir dabei zu und sieht jetzt wieder sehr zerknirscht aus. Dabei ist es doch nicht ihre Schuld, dass ich den Geburtstag meiner Oma vergessen habe.

      „Mama, hallo, tut mir leid, dass ich nicht da bin“, rattere ich los, sobald meine Mutter sich meldet. „Ich musste länger arbeiten und George hat mich dazu überredet, ihn ab morgen auf eine Exkursion zu begleiten, also muss ich noch packen. Und morgen früh muss ich auch noch arbeiten.“ Ich hole tief Luft und bereite mich innerlich auf die nun folgende Standpauke vor.

      „Ach Hilda.“ Meine Mutter klingt gar nicht wütend. Eher traurig. „Oma Gerda hat heute keinen guten Tag. Sie erkennt uns kaum und redet nur zusammenhanglose Sachen, die keiner versteht. Ich hätte mich zwar gefreut, dich zu sehen, aber deine Oma bekommt gar nicht mit, ob du hier bist oder nicht.“

      Was soll ich dazu sagen? „Mama, es tut mir leid“, flüstere ich kaum hörbar, wohlwissend, dass dies eine ziemlich einfallslose Antwort ist.

      „Es ist in Ordnung, Schatz. Aber Papa und ich würden uns freuen, wenn du demnächst mal Zeit hast, bei uns vorbeizuschauen.“ Mein schlechtes Gewissen meldet sich prompt, meine Mutter weiß aber auch genau, welche Knöpfe sie drücken muss.

      Obwohl meine Eltern nur eine knappe Stunde Fahrt entfernt wohnen, besuche ich sie selten. Zu selten. Ich nehme mir immer wieder vor, öfter mal bei ihnen vorbeizufahren, aber dann kommt mir jedes Mal wieder etwas dazwischen.

      „Mach‘ ich, Mama“, verspreche ich und schwöre mir innerlich, dieses Mal auch wirklich bald hinzufahren.

      „Schatz,