Nur ein Märchen?. Lucie Tourmalin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lucie Tourmalin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847656319
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      Ich streife ertappt meinen Armreif ab und stecke ihn in die Tasche meiner Schürze.

      „Und dann auch noch so furchtbaren Modeschmuck.“

      Das ist dann zum Glück das vorerst Letzte, was ich von Agnes hören muss. Trotzdem ärgere ich mich über ihre Hochnäsigkeit. Dieser Armreif ist sicher nicht so exklusiv wie das Armband von Cartier, das ihr Vater ihr zum bestandenen Abschluss geschenkt hat, aber er ist auch kein billiger Modeschmuck. Ich habe ihn von meiner Oma Gerda geschenkt bekommen, und die hat ihn auch schon geerbt.

      Ich lasse die Hand in die Tasche meiner Schürze gleiten und streiche versonnen über die Konturen meines Lieblingsschmucks. In der Mitte befindet sich ein großer, grüner Stein, der warm schimmert. Eingefasst ist er mit einem Ring aus Silber. Dieser klemmt oben und unten zwischen zwei goldenen Bögen, die rechts und links zusammenlaufen. Zwischen den Bögen und dem silbernen Ring ist auf jeder Seite eine kleine, goldene Mondsichel angebracht, die von jeweils drei weiß glänzenden Steinen umgeben ist. Je nachdem, wie das Licht darauf fällt, funkeln die Steine so schön wie echte Diamanten. Modeschmuck – pffft. Wertvoll oder nicht – mir bedeutet dieser Armreif viel und ich trage ihn fast immer.

      Komplett in Gedanken versunken und von weiterer Kritik verschont, verbringe ich den Rest meiner Schicht mit der Zubereitung von Salaten, die uns dank des warmen Wetters geradezu aus den Händen gerissen werden.

      Zu Hause angekommen, denke ich kurz darüber nach, dass ich mich bei Tina im „Modern Fashion Store“ für nächste Woche abmelden muss, aber ich will jetzt erst einmal meine Ruhe haben und beschließe, ihr später eine E-Mail zu schreiben.

      Ich ziehe die Schuhe aus, tolle Ballerinas, die auch nicht ganz billig waren und super aussehen, aber leider vorne sehr eng sind und an den Zehen drücken. Seufzend lasse ich mich auf die Couch sinken, wackele mit den befreiten Zehen und schalte den Fernseher ein.

      Prima, die ‚Gilmore Girls‘. Die Kaffeesucht von Lorelai und ihrer Tochter Rory erinnert mich daran, dass ich selbst noch keinen Kaffee hatte. Aber ich bin jetzt zu faul, um aufzustehen. Lorelai, Lorelai… Ich wiederhole den Namen in Gedanken und mir wird schlagartig bewusst, dass ich schon seit Tagen nicht mehr an meiner Magisterarbeit weitergeschrieben habe. Die Loreley, ihre Darstellung in der Literatur vom Mittelalter bis heute und ihre Bedeutung innerhalb des Gefüges der Sagengestalten am Rhein. So lautet der hochtrabende Titel meiner Abschlussarbeit, den ich ausgewählt habe, bevor mir klarwurde, dass mich die „Sagengestalten am Rhein“ doch recht wenig interessieren.

      Vielleicht gehe ich mir doch lieber eine Tasse Kaffee holen, damit ich nicht weiter über die Loreley grübeln muss. Ich erhebe mich schweren Herzens von der Couch und schlurfe barfuß in die Küche, als ich plötzlich ein Poltern höre.

      „Hallo? Emily?“, rufe ich. Emily ist meine Mitbewohnerin und sollte eigentlich übers Wochenende auf einer Konferenz in Berlin sein. Keine Reaktion. Ich warte noch einen Moment, aber ich höre nichts mehr. Schulterzuckend gehe ich zur Kaffeemaschine. Das Geräusch kam wohl doch von oben aus Eriks Wohnung – seit er dort eingezogen ist, hat man öfter mal das Gefühl, die Decke würde einem gleich auf den Kopf fallen.

      Das laute Mahlen der Maschine – Emily und ich haben uns vor drei Jahren zu Weihnachten einen Kaffeevollautomaten gegönnt – und der entstehende Kaffeeduft leiten schon ein angenehmes Entspannungsgefühl ein und ich gerate in Feierabendstimmung.

      Zufrieden ziehe ich mit meiner Tasse dampfenden Kaffees durch den Flur, als es erneut poltert. Diesmal ist es richtig laut und definitiv nicht in der Wohnung über mir.

      Vor Schreck lasse ich die Tasse fallen, genau vor Emilys Zimmertür. Ein Teil des Kaffees schwappt auf meine Hose und rinnt mir das Bein hinunter auf meinen nackten Fuß. Es tut höllisch weh – der Kaffee ist kochend heiß.

      „Mist, heiß, aua, nein“, fluchend und hektisch herumfuchtelnd hüpfe ich durch den Flur und versuche, die enge Röhrenjeans auszuziehen. Geschafft. Was zum Vorschein kommt, sieht besorgniserregend aus: Ein breiter, krebsroter Streifen zieht sich von der Mitte des rechten Oberschenkels bis hinunter zu den Zehen. Doch das muss warten.

      Ich hüpfe auf dem unverletzten Bein in die Küche und hole einen Lappen, um schnell den Kaffee vom Boden aufzuwischen, bevor er den Holzfußboden ruiniert. Schließlich will ich unbedingt die Kaution zurückbekommen, wenn ich hier einmal ausziehe.

      Als ich nur mit Slip und T-Shirt bekleidet vor Emilys Tür hocke, um die Lache aufzuwischen, öffnet sich besagte Tür und eine leicht bekleidete und sehr zerzauste Emily erscheint in dem schmalen Spalt.

      Vor Schreck kippe ich nach hinten und sitze verblüfft auf dem Fußboden.

      „Emily, was machst du denn hier?“

      „Na, du hast Nerven, das wollte ich dich auch gerade fragen“, antwortet Emily atemlos und macht dabei einen seltsam beschämten Eindruck. Ihre sonst schalkhaft blitzenden Augen weichen meinem Blick aus, eine unübersehbare Röte kriecht ihr ausgehend von dem T-Shirt, das sie verkrampft an die Brust presst, über den Hals, das Gesicht hinauf, bis an den dunkelbraunen Haaransatz.

      Ich verstehe gar nichts mehr. EMILY sollte doch auf einer Konferenz in Berlin sein, warum denkt SIE denn, ICH sollte nicht hier sein?

      „Aber deine Konferenz“, beginne ich erneut. Emily sieht mich mit ihren großen braunen Kulleraugen zum ersten Mal direkt an und streicht sich nervös eine lockere Strähne aus dem noch immer roten Gesicht.

      „Ähm, ja, also, das ist jetzt so, hör mal“, druckst sie herum, will etwas sagen, findet aber offensichtlich nicht die richtigen Worte. Auf einmal höre ich jemanden niesen – einen Mann. In Emilys Zimmer.

      „Haha. Ich versteh‘ schon“, rufe ich lachend und ein Stein fällt mir vom Herzen, da sich diese bizarre Situation schlagartig aufklärt.

      „Nils, hallo!“, johle ich. „Emily! Du hättest mir doch sagen können, dass Nils da drin ist und dass ihr gerade, naja, das tut, was Verlobte nun mal so tun.“ Ich zwinkere Emily wissend zu.

      „Wurde die Konferenz abgesagt? Oder machst du blau? Habt ihr Lust, später noch was vom Chinesen kommen zu lassen?“, quassele ich auf meine Mitbewohnerin ein.

      „Nun ja, ähm, es ist nicht, also“, setzt sie an, doch sie kommt nicht weit.

      Von drinnen ist Gepolter zu hören, dann wird die Tür aufgerissen und ein unglaublich wütend aussehender und unglaublich nackter Mann funkelt Emily zornig an.

      „Was? Du bist verlobt? Was soll ich denn davon halten? Und wer ist denn DAS überhaupt?“ Er zeigt auf mich, als wäre ich ein widerliches Insekt. Mir wird bewusst, dass ich gerade in der Unterhose in einer Kaffeepfütze sitze und ich möchte am liebsten im Erdboden versinken.

      „Das ist, äh, Hilda, meine, äh, Mitbewohnerin“, stammelt Emily mit nun so hochrotem Kopf, dass es ungesund aussieht.

      Der nackte Mann runzelt die Stirn, anscheinend nicht zufrieden mit ihrer Erklärung. „Also eine Mitbewohnerin. Von der hast du mir nichts gesagt. Aber offenbar ist das nicht das einzige, wovon du mir nichts gesagt hast.“

      Ich mag nicht, dass er mich so geringschätzend ansieht, Geringschätzung hatte ich heute schon genug von Agnes. Dennoch – oder vielleicht auch gerade deswegen – trotze ich seinem Blick, immerhin ist das hier MEINE Wohnung und ICH habe mir nichts zuschulden kommen lassen.

      Er scheint zu bemerken, dass er am wenigsten von uns dreien am Körper trägt, und verschwindet wieder im Zimmer. Emily wirft mir einen Blick zu, den ich nicht deuten kann, macht ein zerknirschtes Gesicht und schließt vorsichtig die Tür.

      Ich sitze auf dem Boden und schüttele ungläubig den Kopf. Was ist denn da gerade passiert? Im Moment weiß ich nur eins: Wenn die beiden da wieder herauskommen, will ich nicht in Unterwäsche vor ihrer Tür hocken.

      Also wische ich schnell den Rest Kaffee auf und bringe den nassen Lappen und die Tasse in die Küche. Zum Glück ist die Tasse noch ganz und die Holzdielen scheinen auch keinen nachhaltigen Schaden davonzutragen.

      Anschließend