In Jerobina angekommen, sagte er jedes Fest, das ihm zu seinem glorreichen Sieg gratulieren sollte, ab und schloss sich in seinem Schlafzimmer ein. Der König wollte nichts und niemanden sehen.
Woher der Junge von dem Geheimversteck wusste und wie er von der Zukunft wissen wollte, das blieb Melacho ein Rätsel. Er zwang sich, nicht weiter darüber nachzudenken, sondern einfach zu schlafen.
Melacho blieb die meiste Zeit der nächsten Woche in seinem Gemach und ließ nur ausgewählte Bedienstete hinein. Seine Gattin gehörte nicht zu denjenigen, die er sehen wollte.
Nur einmal am Tag fragte er nach Neuigkeiten, die ihm sein Abenddiener berichtete. Der Senat machte sich Sorgen um ihn, das konnte er nachvollziehen. Er verhielt sich nicht gerade wie ein guter König. Melacho vertröstete sie mit der Nachricht, bald wieder der Alte zu sein. Auf der langen Reise hatte er sich eine Krankheit eingefangen, die es nun auszuschwitzen galt.
Das Volk war stolz auf den König, der unter eigenem Risiko dafür gesorgt hatte, dass Verräter ihre gerechte Strafe erhielten. Doch in der Hauptstadt kam Furcht auf. Ein schrecklicher Verbrecher suchte und tötete schwangere Frauen. Man sagte sich nach, dass die Leichen bestialisch zugerichtet waren. Deshalb hatte der Mörder den Namen Schlächter Jerobinas im Volk erhalten. Melacho schauderte und befahl, die Stadtwachen vermehrt patrouillieren zu lassen.
Seine beiden Freunde hatte er seit ihrer Ankunft nicht gesehen. Abaro war sich sicher, dass das Feuer ein Unfall gewesen war, ein unachtsamer Soldat, der seine Fackel verloren hatte. Calansir vertrat die Ansicht, dass die Familie dafür verantwortlich gewesen war. Er benutzte diese Vermutung, um seine Taten zu rechtfertigen. Melacho erinnerte sich nicht, in der Nacht noch Befehle erteilt zu haben, doch Calansir beteuerte, nach seinen Wünschen gehandelt zu haben. Der Hüne hatte die gesamte Familie Fingrabor hingerichtet, einen nach dem anderen. Egal, ob Mann, Frau oder Kind. Der König wollte sie beide zu sich rufen, er benötigte wieder Normalität. Doch zuerst musste er sich besser fühlen.
Seine Angst verschwand immer mehr, sodass er sich am Ende der Woche so kräftig fühlte, Besuch zu empfangen. Bald würde er sogar aus dem Bett aufstehen. Er rief seinen Abenddiener zu sich.
»Ja, Eure Hoheit?«, fragte dieser, als er hereinkam.
»Ich wünsche die Hauptmänner Abaro und Calansir zu sprechen. Schickt einen Boten, um sie holen zu lassen.«
»Sehr wohl, Majestät.«
Der Mann verschwand und Melacho war endlich einmal wieder guter Dinge. Er nahm sich vor, auch wieder seine Frau zu empfangen, es war zu lange her, dass sie sich gesehen hatten. Nach wenigen Minuten klopfte es bereits.
»Herein, meine Freunde! Ihr seid sehr schnell hier, Respekt!«, rief er fröhlich, doch es war erneut sein Diener, der eintrat. »Ach, du bist es. Was gibt es? Hast du den Boten etwa noch nicht losgeschickt?«
Der Abenddiener hatte alle Farbe im Gesicht verloren und schluckte laut, bevor er begann zu antworten. »Hoheit, der Bote ist zurück. Er hat etwas gesehen.«
Melacho blickte ihn fragend an. »Und, was? Ich kann keine Gedanken erraten.«
»Er sagt, es habe einen Kampf gegeben.«
»Einen Kampf? Auf der Straße? Haben sich die Wachen nicht darum gekümmert?«, fragte der König.
»Nein, niemand schien sich zu trauen, die beiden zu stören.«
Melacho verstand nicht. »Wen? Was soll das? Machst du Späße mit mir?«
»Nein, nein, das würde ich nicht wagen, Majestät. Die Duellierenden waren die Hauptmänner, Eure Hoheit. Abaro und Calansir.«
Der König konnte nicht glauben, was er da hörte. Er sprang aus dem Bett und zog sich selbst die Kleider an. Danach ging er zu der Tür, in der der Diener noch immer stand.
»Lass mich vorbei, ich muss zu ihnen und sie aufhalten! Was immer es für ein Streit ist, sie sind Freunde, meine Freunde!«
»Der Kampf ist vorüber. Beide sind geflohen, wohin, das weiß niemand. Keiner der Stadtwachen hat sie gesehen. Sie befinden sich nicht mehr in Jerobina.«
Melacho hatte das Gefühl, als hätte sich ein Loch in seinem Bauch geöffnet. Und dann kam die schreckliche Erkenntnis, die mehr schmerzte, als alles zuvor. Der König wandte sich zu dem Abenddiener.
»Komm mit, ich muss dir etwas zeigen.«
Über Tim J. Radde
Ich bin 1991 in der Nähe von Bielefeld geboren und wohne und studiere auch dort.
Die Begeisterung für Bücher entwickelte sich früh.
Schon vor meiner Schulzeit habe ich viel gelesen und in der Grundschule sogar schon kleine Geschichten geschrieben, so gut das damals eben ging! Auf dem Gymnasium habe ich dann angefangen, an einem Buch zu arbeiten.
Was als erste kleine Idee begann, entwickelte sich über die Jahre in etwas, was ich unbedingt niederschreiben wollte.
Nach Jahren und unzähligen Aufschüben habe ich dann endlich mein erstes Buch beendet. Und jetzt kommen die Ideen immer häufiger, deshalb gilt es, den Aufschüben den Kampf anzusagen! Daher habe ich auch eine Prequelnovelle veröffentlicht und seit kurzem den zweiten Band meiner Fantasyreihe »Die rogodanischen Schriften« herausgebracht.
Wo ein Wille, da ein Dolch
von Christian Milkus
Fayne wurde in Ketten in den Thronsaal geführt.
Hinter ihr liefen zwei Soldaten, während sie den länglichen Raum auf rotem Samtteppich durchschritt, vorbei an massiven Marmorsäulen. Licht flutete durch baumhohe Fenster den Saal. Die Rüstungen der Soldaten klapperten bei jedem Schritt, das Geräusch verlor sich in den Höhen des Gebäudes. Die Menschen an den Seiten starrten die Gefangene an, riefen Beleidigungen, verspotteten sie. Wie ein summender Wespenschwarm erfüllte ihr Murmeln den Raum.
Ihr Urteil schien schon gefällt.
Prinz Joaquin hatte soeben das Podium betreten, eine Stufe unter seinen Eltern, dem Königspaar. Entgegen seiner inneren Unruhe gab er sich nach außen hin unbewegt und unantastbar. Seiner geknickten Seele zum Trotz stand er mit gestrecktem Rücken da, wie man es von einem Prinzen und angehenden Ritter erwartete.
Tief atmete er durch, ballte seine Hände zu Fäusten und ließ sie wieder locker. Er zwang sich, seine Augen offen zu halten, den Blick nicht von der Szenerie abzuwenden. Mit zähen Schritten lief Fayne in Richtung Anklagebank, hinter ihr die Schwerter der Wachen, neben ihr die scharfen Zungen der Zuschauer, vor ihr die Justiz der Königsfamilie. Im Gegensatz zu Joaquin meisterte sie die Situation mit Ehrgefühl, ihr aufrechter Gang und ihr gehobener Kopf als Zeugen ihrer Stärke. Bei ihr war das nicht gespielt, wie er wusste, schließlich kannte er sie bereits, seitdem sie als kleine Racker zusammen im Schlossgarten gerauft hatten. Schon damals hatte er sie bewundert, und während ihrer engen Freundschaft hatte sie immer wieder bewiesen, dass sie eine selbstbewusste Kriegerin war. Selbst als sie sich als Zwölfjährige hinaus in die Gassen Lloyandasburgs getraut hatte, geschlagen und gedemütigt worden war und tagelang heulend in ihrem Zimmer gekauert hatte – irgendwann hatte sie sich wieder aufgerafft und der Welt ihr stolzes Gesicht gezeigt, zäher als je zuvor.
Ruhe kehrte ein, als Fayne den morschen, klapprigen Stuhl vor dem Podium erreichte. Sie setzte sich, und das Knarzen des Stuhles spukte durch den Raum wie ein Geist. König Zalamo hob seine Hand, um die letzten murmelnden Stimmen abklingen zu lassen, und der Meister der Justiz stand auf und verlas die Anklage.
Mord.
Fayne solle Schatzmeister