»Melacho, ich bitte dich, tu das nicht! Ein König hat nichts in seiner Armee zu suchen. Wozu hast du uns beide, wenn du deine Truppen selbst anführen willst? Es ist zu gefährlich!«
Der König hob die Augenbrauen. Er konnte verstehen, dass sich sein Freund Sorgen um ihn machte. Doch Abaro zweifelte an seinen Fähigkeiten, seine eigenen Soldaten zu befehligen. Das ging zu weit.
»Ich bin genauso ausgebildet worden, wie ihr zwei es seid. Ich mag vielleicht nicht die natürliche Stärke Calansirs oder deine Schnelligkeit und Technik haben. Dennoch bin ich ein fähiger Kämpfer! Traust du mir nicht zu, den Sieg über diese Familie zu erlangen?«
Abaro war nun aufgestanden und auf ihn zugeschritten. »Du weißt, dass ich es nicht so meine, wie du mich jetzt verstehen willst. Was ist, wenn unsere Feinde genau das wollen? Der König, außerhalb der sicheren Mauern von Jerobina, auf dem Land der Familie Fingrabor. Was passiert, wenn sie dich töten? Du hast keinen Thronfolger. Die bekannte Welt würde in Chaos verfallen. Genau das wollen die alten Herrscherfamilien.«
Melacho musste zugeben, dass die Worte seines Freundes Sinn ergaben. Sein Entschluss barg durchaus ein gewisses Risiko. Doch er wusste, dass er sich nicht in seinem Palast verkriechen konnte. Würde bekannt werden, dass sich eine der alten Familien gegen ihn aufgelehnt und er andere vorgeschickt hatte, seinen Namen zu verteidigen, würde seine Untertanen ihn für schwach halten. Und er wollte ein starker und guter König sein. Er konnte nicht anders.
»Ich habe mich entschieden und werde mich nicht umstimmen lassen. Danke für deine Sorge um mein Wohlergehen, Abaro. Ich weiß dies sehr zu schätzen. Doch Pflicht und Ehre verlangen, dass ich für meinen Vorfahren Hattovan eintrete. Ihr habt drei Tage, um alle Vorbereitungen zu treffen. Bis dahin.«
Die königliche Armee war mehr als zwei Monate unterwegs gewesen, bis sie Alotek erreicht hatten. Obwohl die gesamten Truppen beritten waren, kamen sie nicht schneller voran. Der König hatte beschlossen, diese Reise zu benutzen, um seinen Untertanen einen seltenen Blick auf ihr Oberhaupt zu gewähren. Wer nicht in der Nähe von Jerobina lebte, hatte in den seltensten Fällen einmal einen König von Nahem erblickt. Die Menschen, besonders die der Gildenregion und der Eisernen Region, waren begeistert, dass Melacho sie besuchte. Abaro hingegen hatte zerknirscht festgestellt, dass die Familie um Wyndos nun ganz sicher davon erfahren hatte, dass der König unter seiner Armee war. Doch der König fürchtete sich nicht.
Gut dreitausend fähige Soldaten waren jederzeit um sie herum, die ihr Leben bereitwillig geben würden, um ihn zu schützen. Um seine Sicherheit machte sich Melacho keine Sorgen. Vielmehr darum, ob er auch in der Umgebung rund um Alotek so herzhaft begrüßt werden würde.
Die Familie Fingrabor hatte wahrscheinlich alles darangesetzt, ihn in den Augen der Bürger zu denunzieren. Daher war es auch so wichtig, dass er sich ihnen allen zeigte. Melacho wollte die Unterstützung der einfachen Menschen nicht verlieren. Diese Leute waren einer der großen Vorteile gewesen, die Hattovan damals auf seiner Seite gehabt hatte.
Und doch hatte ihn gerade Abaro zur Vorsicht gedrängt. Je näher sie der Burgstadt kamen, desto intensiver waren die Sicherheitsmaßnahmen. Jeder, der den Reden des Königs beiwohnte, wurde genauestens auf versteckte Waffen kontrolliert. Anfangs hatte Melacho dies noch zu verhindern versucht, da er die Bewohner der umliegenden Dörfer und Städte nicht ebenfalls als Verräter darstellen wollte. Doch als Abaros Männer bei einem alten Greis ein Wurfmesser gefunden hatten, musste auch der König zugeben, dass die Maßnahmen begründet waren.
Der Einfluss der alten Herrscherfamilie schien groß zu sein, was Melacho traurig stimmte. Er selbst hatte nie das Gefühl gehabt, als König versagt zu haben, sodass seine Untertanen unzufrieden werden konnten. Calansir hatte gemeint, dass er sich diesen Vorfall nicht zu Herzen nehmen sollte. Sobald sie den Massen den Kopf von Wyndos präsentieren würden, waren jedwede Zweifel an seiner Position bereinigt worden. Er würde schon sehen.
Späher hatten keine größeren Ansammlungen von Kämpfern in der Nähe der Stadt entdecken können. Die Männer waren anschließend ohne Rüstungen sogar bis in die Burg vorgedrungen. Allem Anschein nach war die gesamte Familie nicht länger dort.
Melacho hatte sich von Ninstan eine Karte zeichnen lassen, die den Standort des Landhauses zeigte. Es war einen mehrstündigen Ritt entfernt, weshalb der König vorschlug, in Alotek zu bleiben und am nächsten Tag das Landhaus anzusteuern. Dieses Mal waren Calansir und Abaro einer Meinung. Die drei Männer saßen, einen Kilometer entfernt von der Stadt, im Kommandozelt. ‚Zelt’ war etwas zu viel gesagt, denn lediglich eine dunkelrote Plane war an vier Pfosten gespannt worden, die Seiten waren frei. Auch ihre Sitzgelegenheiten waren mehr als dürftig, sie hatten auf dreibeinigen Hockern Platz genommen. Was hätte Melacho für einen seiner Sessel gegeben, doch dies war keine normale Reise.
»Kommt nicht infrage! Wir wissen nicht, wie sehr die Bewohner der Stadt hinter der Familie stehen. Dort zu verweilen kann ich auf keinen Fall zulassen!«, schloss Abaro seine Rede, nachdem Melacho seinen Gedanken geäußert hatte. Calansir ließ seine Finger knacken.
»Genug gewartet, sage ich! Zwei Monate haben wir schon in Städten verbracht, wenn wir nicht gerade auf dem Pferderücken saßen. Lass uns tun, weshalb wir hier sind. Die Männer sind bereit!«
Melacho wusste, dass er keine Möglichkeit hatte, sich gegen beide Männer durchzusetzen. Er war zwar ihr Herrscher, doch so wichtig war ihm sein Wille nicht, um einen Streit mit ihnen vom Zaun zu brechen. Langsam nickte er.
»Gut, gut, wenn meine Hauptmänner mir diesen Rat erteilen, werden wir gleich aufbrechen.« Er sah von Abaro zu Calansir. »Erläutert mir noch einmal den Ablauf.«
»Die Späher reiten vor, um die Umgebung rund um diesen Landsitz auszukundschaften. Sobald wir genauere Informationen haben, mache ich mich mit einem Drittel unserer Streitkräfte auf, um das Gebiet zu umkreisen. Wir halten einen so großen Abstand, dass man uns von dem Gebäude aus nicht erkennen wird«, trug Abaro vor. Calansir hustete.
»Das Drittel der Männer, das mir untersteht, schließt einen weiteren Ring um die Verräter. Du«, und er deutete auf Melacho, »gehst auf direktem Wege zu dem Haus und verlangst, dass sich die Familie Fingrabor dir ausliefert.« Er setzte bei diesen Worten eine entnervte Miene auf. »Wenn sie direkt aufgeben, sparen wir uns das Blutvergießen. Warum auch immer.«
»Falls nicht«, fuhr Abaro fort, »rücken wir vor und nehmen den Landsitz ein. Sie werden keine Möglichkeit haben, zu fliehen. Und du bist allzeit von Soldaten umringt, die dich schützen.«
Melacho nickte zufrieden. Er hatte darauf bestanden, nicht in weiter Entfernung zurückgelassen zu werden, wie es Abaro am liebsten gewesen wäre. Wyndos und seine Kinder sollten nicht den Eindruck erhalten, dass er sie nicht selbst zur Rechenschaft ziehen würde. Dennoch wollte er sich nicht unnötig in Gefahr begeben.
»Wissen wir mittlerweile, wem dieses Landhaus gehört?«, fragte er seine Freunde. Calansir schüttelte den Kopf.
»Der Familie gehört es jedenfalls nicht. In der Stadt wusste keiner derjenigen, die unsere Leute gefragt haben, wer der Besitzer ist. Und es spielt auch keine Rolle. Er wird sich mit ihnen ergeben, oder sterben. Mir ist beides recht.«
Die drei Männer standen am Rand eines kleinen Waldstücks. Dort sollten die Späher dem König und seinen Hauptmännern direkt Bericht erstatten. Sie warteten schon eine Weile, was sie nicht gerade positiv stimmte. Waren die Kundschafter aufgefallen und gefasst worden? Die Abenddämmerung war auf dem Vormarsch, weshalb er die Züge seiner beiden Freunde nur noch undeutlich erkennen konnte. Da erinnerte sich Melacho an etwas, das er von seinen Truppen aufgeschnappt hatte.
»Abaro, ich habe da etwas gehört, was mich fröhlich und traurig zugleich stimmt.« Er schlug dem blonden Mann freundschaftlich auf die Schulter. »Ich habe einem Gespräch der Männer beigewohnt, wo ein Soldat behauptet hat, dass er dich mit einer Frau aus einer Heilstätte gesehen hat. Ihr zwei schient euch näher zu kennen, nur nach Freundschaft schien es nicht auszusehen.«
Der König grinste, was die anderen beiden nicht sehen konnten. Im Halbdunkeln konnte Melacho ebenfalls nicht genau erkennen, wie Abaro auf seine Worte reagiert