Ich zeige auf die andere Ecke der Bühne. „Stell ihn mal hier hin. Ich glaube, das Licht ist hier besser."
Genervt stöhnt er auf und stellt den Baum in die andere Ecke. Er richtet sich wieder auf und sieht mich erwartungsvoll und gleichzeitig warnend an.
Wieder reibe ich mir das Kinn. „Hm ... Komisch. Irgendwas stimmt heute nicht. Das sieht immer noch so falsch aus. Stell ihn mal dort hin." Ich zeige in die andere Ecke der Bühne.
Wieder greift Harry sich den Baum und stellt ihn diesmal in die andere Ecke. Ich kann schwören, dass uns der halbe Kurs zuguckt, doch das scheint keiner von uns beiden richtig zu merken.
„Jetzt zufrieden?", fragt Harry zischend, als er den Baum abstellt.
Ich nicke schmunzelnd. „Ja, diesmal ist wirklich alles okay. So steht er perfekt."
„Ist auch besser so", höre ich ihn vor sich hin knurren und er will gerade wieder hinter die Bühne, als ich ihn aufhalte.
„Oder warte mal! Ich glaube, der Baum steht noch immer nicht ganz richtig. Mir fällt gerade auf, dass manche Schauspieler gestört werden könnten, wenn der Baum ganz vorne steht. Stell ihn bitte hinten links hin."
Ich grinse, als Harry mit geballten Fäusten zu dem Baum geht, ihn sich aggressiv schnappt, dann nach hinten links in die Ecke der Bühne läuft und ihn unsanft auf den Boden fallen lässt. Er stellt sich daneben und verschränkt sauer die Arme. „Und stört noch was? Zieht es hier hinten zu viel oder ist der Winkel zu schief? Vielleicht könnte ja ein Erdbeben einsetzen und weil hier der Boden am unebensten ist, würde der Baum sofort umfallen und das Stück ruinieren. Also. Sag schon!"
Beinahe muss ich auflachen, weil er mich so amüsiert. Ich mag es, endlich mal die Zügel in der Hand zu haben und ihn herumzukommandieren. Er hat in den letzten Jahren nichts anderes getan, außer mich zu ignorieren oder über die dummen Sprüche der anderen zu lachen, also kann ich jetzt auch mal gemein sein. Das hat er einfach verdient. Außerdem fand ich es damals, als wir Kinder waren, schon immer witzig, wie er beleidigt die Arme verschränkt, mit dem rechten Fuß aufstampft und dann meckert. Heute tut er genau das Gleiche, nur ist er jetzt jemand anders.
Zwar weiß ich noch immer nicht, wie all das passieren konnte, denn er hat mir nie eine Erklärung geboten oder war auch nur ein Funken daran interessiert, mit mir darüber zu sprechen, aber das ist mir mittlerweile egal. Ich bin mir keiner Schuld bewusst. Harry ist der Schuldige. Er fing an, gemein zu werden, ließ zu, dass sich die anderen über mich lustig machten.
Ich muss mir ein breites Grinsen unterdrücken und verschränke genauso wie er die Arme. „Tut mir leid, dass ich das jetzt so sagen muss, aber du hast vollkommen recht. Der Boden dort ist wirklich sehr uneben. Stell den Baum genau dort hin."
Harry wirft die Hände in die Luft. „Genau da stand er doch von Anfang an!"
Resigniert zucke ich mit einer Schulter und mache mich auf den Weg hinter die Bühne. „Ich achte nun mal auf Perfektion. Nun los."
Noch wütender als vorher reißt er den Baum vom Boden und stellt ihn mit einem lauten Knall auf den rechtmäßigen Platz.
Als ich ihn gerade anweisen will, den Stein auf die Bühne zu tragen, höre ich seine schweren Schritte hinter mir in dem dunklen Flur, in dem wir stehen.
„Okay", sagt er, als er aufgebracht auf mich zukommt und anderthalb Meter von mir entfernt stehen bleibt. „Du hältst dich echt für superwitzig, aber das bist du nicht, klar? Es mag sein, dass ich hier wegen der Rektorin bin, aber glaub ja nicht, dass ich mir diesen Unfug für die nächsten Wochen lang gebe!"
Unbeeindruckt hebe ich eine Braue. „Wow, ich dachte, du hältst länger durch. Das waren gerade mal fünf Minuten, Mister Obercool."
Harry wird wütender. „Mister Obercool? Ich gebe dir gleich deinen scheiß Mister Obercool! Du weißt ganz genau, dass ich nichts getan habe, also zieh nicht so einen Dreck ab!"
Jetzt schüttle ich den Kopf, als ich amüsiert aufschnaube. Er soll nichts getan haben? Er hat die ganzen letzten vier Jahre was getan und das sieht er nicht mal. Anscheinend hat Harry sich wirklich so sehr verändert, dass er seine Fehler nicht mehr sehen kann.
„Wieso, zur Hölle, findest du das witzig?", keift er mich an. „Hier ist absolut gar nichts witzig!"
Ich werfe mir ein paar weiße Bänder über die Schulter, die den Schnee am Baum darstellen sollen und laufe ruhig an ihm vorbei. „Ich finde es witzig, dass du denkst, du hättest nichts getan."
Er folgt mir. „Ich habe nichts getan! Ethan hat deine Zettel zerrissen und ich habe auch mit deinem kaputten Strumpf nichts zu tun!"
Locker lasse ich die Bänder über die Äste des Baums fallen. Es macht keinen Sinn, mit ihm zu sprechen. Eigentlich will ich das auch gar nicht. Er ist mir vollkommen egal. „Wie auch immer", sage ich, als ich meine innere Ruhe gefunden habe, und laufe wieder an ihm vorbei in den Flur. „Du hast recht, du hast nichts getan. Ich will dich sowieso nicht in diesem Kurs haben, genauso wie jeder andere."
Wieder folgt er mir. „Was soll das denn heißen? Du willst mich rausschmeißen?"
Wiederholt nehme ich mir ein paar Bänder. „Sieh es als Bitte. Du willst doch sowieso nicht hier sein und ich denke, ich kann Heath die Situation so erklären, dass sie es versteht, dass du nicht hier bist."
Harry lacht auf. „Ich glaube es nicht. Du willst mich ernsthaft rausschmeißen? Ich werde von dieser Schule fliegen, ist dir das bewusst?"
„Das ist dein Fehler, nicht meiner. Du hättest dich auch einfach immer benehmen können."
„Ich habe, wie gesagt, nichts Falsches getan! Ich habe nicht …''
„Ich rede nicht von meinen Zetteln oder dem Strumpf", unterbreche ich ihn und sehe ihn an. „Du bist schon seit längerer Zeit kurz davor, von der Schule zu fliegen, und trotzdem baust du jedes Mal Mist. Lernst du denn nicht daraus?"
Er sagt nichts.
"Noch dazu scheinst du nicht zu kapieren, dass du jedes Mal Mist baust, indem du über andere lachst oder sie niedermachst. Und das passiert oft. Deswegen, ja, denke ich, dass du es verdient hast."
Harry schweigt. Es liegen ihm Worte auf der Zunge, doch er spricht sie nicht aus. Seine Fäuste sind geballt und er ist angespannt, doch er starrt mich nur an.
„Na ja", sage ich seufzend und gehe wieder an ihm vorbei. „Du kannst gehen. Ich werde Heath die Situation erklären."
Als ich gerade die letzten Bänder über den Baum hänge, merke ich, wie er noch kurz in dem Flur steht, doch dann stampft er von der Bühne. Ich drehe ihm weiterhin den Rücken zu, als ich höre, wie er sich aggressiv seinen Rucksack neben der Bühne nimmt und zum Ausgang geht. Die Tür schmeißt er so laut zu, dass ein unglaublich lauter Knall durch die kleine Halle ertönt und alle schweigen schlagartig.
Gedankenverloren zupfe ich die Bänder zurecht und ignoriere die Stille. Jeder wird sich fragen, was eben vorgefallen ist, und ich gebe nur ungern eine Antwort darauf, denn, um ehrlich zu sein, weiß ich es selbst nicht so genau. Zwischen Harry und mir gab es nun mal schon jahrelang diese Spannung, obwohl wir nie miteinander geredet haben, und jetzt reden wir miteinander und nun scheint alles zu explodieren.
Doch ich finde es gut, dass er endlich weg ist. Ich genieße seine Anwesenheit nicht. Es plagt mich die Tatsache, dass dieser liebe Harry von früher sich so sehr verändert hat, dass ihn heute jeder normaldenkende Mensch als Arsch sieht. Auch ich. Früher hätte er nie James die Freundin ausgespannt oder Lara die Haare im Schlaf abgeschnitten, geschweige denn irgendwem Geld geklaut. Und am allerwenigsten hätte er es zugelassen, wie ich mit zerrissener Socke auf dem Boden liege, während Ethan mich beleidigt. Aber er hat es getan.
„Hey."
Ich schrecke auf und blicke nach links in Benjas Augen, die mich mitfühlend mustern. Ich habe gar nicht bemerkt, wie er näher gekommen ist und dass ich tatsächlich schon eine ganze Weile an den