Er gab keine Antwort. Sein Blick verlor sich in ihren Augen. Zum Glück (oder war es nicht eher zu ihrem Unglück?) konnte Sonja den Gedanken Brunos nicht hören, der die unausgesprochene Antwort auf ihre Frage bildete, nämlich:
'Ich hab's noch nie erlebt. Aber die Frauen die mir begegnen, die erleben es.'
Er entnahm seinem Sakko Zettel und Kugelschreiber, notierte seine Telefonnummer und sagte: „Sie können mich gerne anrufen."
Dann nickte er kurz zum Abschied und verschwand im Hintergrund.
Sonja blieb allein zurück, umgeben von teuren Kunstwerken und dem Smalltalk der Ausstellungsgäste.
Sie war durchdrungen von Glück; hatte sie sich vor einer halben Stunde noch ganz leer gefühlt, da ihr Leben richtungslos und sie außerstande gewesen war, ihre zentralen Wünsche zu formulieren, so war sie nun ausgefüllt, erfüllt von einem Wunsch, einem gewaltigen, der Ihrem Denken eine klare Richtung gab: sie wollte Bruno unbedingt und so schnell wie möglich wiedersehen.
In seinem Erscheinen lag die Erlösung aus all ihrem Verdruss. Der Gedanke an ihn (und sie hatte keinen anderen mehr) erfüllte sie mit rosiger Leichtigkeit und einem unbekannten Kitzel, der ihr das Gefühl des Schwebens vermittelte.
In Trance stand sie noch eine Weile herum.
Dann verließ sie mit nach innen gekehrtem Lächeln die Ausstellung. Die laue Mainacht erfasste sie mit wuchtigem Auftrieb, sodass sie den Weg nachhause zu Fuß zurücklegte....es kostete keine Mühe, in ihren Stöckelschuhen diese Dreiviertelstunde zu gehen....die wohlproportionierten Schaufensterpuppen in den Auslagen trugen allesamt Brunos Gesichtszüge....die männlichen Models auf den Werbeplakaten begegneten ihr mit Brunos verlockenden Blicken....die Ausdünstungen der fruchtbaren Erde in den Parks und das frische Laub der Bäume und Sträucher, setzte sie mit Brunos betörender Aura gleich....und als sie daheim unter der Dusche stand, fühlte sich das an ihrem Körper hinabrieselnde Wasser an, wie die heiß ersehnten Liebkosungen Brunos.
Kaum dass sie sich abgetrocknet hatte und nackt zu Bett gegangen war, überzog eine dünne Schicht von angenehm glitschigem und wohlriechendem Schweiß ihre Haut - die Gleitfläche eines widerstandslosen Liebesspiels. Eine nie gekannte Unruhe bildete die unendlich tiefe Grundlage ihres seichten Schlafes.
Der nächste Morgen fand Sonja in einer Verfassung äußerster Aufgekratztheit vor.
Es fiel ihr schwer, sich auf die Arbeit zu konzentrieren.
Bis Mittag, hatte Bruno gesagt, müsse er seinen Artikel abgeben. Sie nahm sich also vor, ihn gegen 15Uhr anzurufen.
Als die endlosen Stunden schließlich verstrichen waren, schloss sie sorgfältig die Tür ihres Büros und griff zum Telefon. Beim Mittagessen hatte sie gerade einen kleinen Teller Suppe zu sich nehmen können. Mehr nicht. Wahrscheinlich lag es also an einer gewissen Unterzuckerung, dass sie während des Wählens seiner Nummer leicht zitterte.
Nachdem es mehrere Male geläutet hatte, meldete sich die Mobilbox - und Sonja war vollkommen von der Gelegenheit überfordert, dieser innigst verehrten Sehnsuchtsgestalt, Bruno, der schon ins Unrealistische zu verschwimmen begann, etwas mitzuteilen. So vieles hätte sie zu sagen gehabt, aber jetzt, als sie die Möglichkeit zu reden gehabt hätte, geriet sie in größte Verlegenheit.
Sie stotterte ins Telefon: „Ja? Hallo? Äh Äh...Bruno? Ja, also hier spricht Sonja....ja also ich wollte nur...äh...also ich...äh..ja, ich wollte mich nur bedanken, dass Sie gestern...also dass Sie mir so gut zugeredet haben. Ja. Vielleicht..ja..ähm..ja! Wollen sie mich vielleicht zurückrufen? Meine Nummer haben Sie ja auf dem Display! Ja... ähm...hat mit dem Artikel alles geklappt? Ähm...gut...vielleicht probiere ich es später noch einmal. Ja, also dann, alles Gute! Und danke noch einmal. Ja?....Sonja hat angerufen...Also dann, bis bald!"
Nach Beendigung des Telefonats zitterte Sonja noch mehr. Sie ging in Gedanken das Gesagte immer wieder durch und fand sich selbst ganz schrecklich. Diese Stotterei! Und was für einen aufdringlichen Blödsinn sie dahergelabert hatte! So dumm! Sie konnte sich nicht beruhigen.
An Arbeit war nicht mehr zu denken. Sie verabschiedete sich von Hofrat Weisungsknecht und ihren MitarbeiterInnen mit dem Hinweis auf starke Kopfschmerzen.
Auf der Straße war ihr klar, dass sie jetzt unmöglich nachhause gehen könne. Dort würde ihr nur die Decke auf den Kopf fallen. Aber was tun!? Zum zehnten Mal innerhalb von zwei Minuten schaute sie auf 's Handy, ob sie eh keinen Anruf überhört hatte; gleichzeitig kontrollierte sie zum ebensovielten Male, ob das Handy auch nicht auf 'stumm' geschaltet war. Eine Minute später riss sie das Telefon erneut hervor: hatte das Handy genug Empfang?
Sonja betrat ein kleines Café, das auf dem Weg lag und bestellte Wodka-Martini. Sie trank hastig und fühlte sich nach kurzer Zeit etwas entspannter.....schließlich könne sie doch nicht erwarten, dass Bruno sofort alles liegen und stehen lasse wegen ihres Anrufs!
Sie beruhigte sich bei dem Gedanken, dass ja eigentlich alles in Ordnung war und sie ihn sicher bald wiedersehen werde.
Auf einmal schoss ihr die Frage ein: „Was soll ich denn anziehen, wenn ich ihn treffe?"
Plötzlich hatte sie es eilig, zu bezahlen. Nachdem sie wieder das Handy kontrolliert hatte, bestellte sie ein Taxi und ließ sich zu einem exquisiten Dessous-Geschäft fahren.
Das Angebot war umwerfend, vor allem, was die Preise betraf. Aber das war ihr egal! Sie wollte sich einzigartig fühlen, um Bruno's würdig zu sein. Schließlich entschied sie sich für einen 'Body' aus transparentem, schwarzem Stretch-Material, der ihren Yoga-Po besonders schön zur Geltung kommen ließ. Zur Sicherheit nahm sie das gleiche Stück auch in 'Creme' und bezahlte einen Phantasiepreis. Danach beeilte sie sich nachhause.
Die folgenden zwei Stunden wurden der Körperpflege gewidmet, der sie sich mit geradezu akademischer Akribie zuwandte.
Endlich waren die Haare geföhnt und der Nagellack getrocknet.
Sollte sie noch einen Anruf wagen? Ja, warum nicht! Vielleicht hatte er ja sein Handy verlegt und suchte die ganze Zeit schon verzweifelt danach! Angetan mit dem neuen schwarzen Body, ging sie im Zimmer auf und ab, stellte die Verbindung zur mittlerweile schon gespeicherten Nummer her - und stieß wieder nur auf die unverbindliche Mobilbox.
Mit dem Erklingen des Piepstones unterbrach sie panisch die Verbindung. Was sollte sie denn sagen? Wieder so unbeholfen daherstottern? Und sie kam sich sowieso schon so aufdringlich vor.
Die Flasche Prosecco, die Sonja nach ihrer Heimkehr geöffnet hatte, war schon zu zwei Dritteln leer. Sie ließ sich auf einen Fauteuil fallen, nahm die Fernbedienung des TV-Gerätes zur Hand und rief:
„Scotty, bitte beamen!“
Danach drückte sie auf einen Knopf, machte „Bsssss!" und stellte sich vor, dass mitten auf dem weiß-flauschigen Teppich ein Lichtkegel entstehe, darin Bruno sich aus unzähligen zusammenströmenden Pixeln materialisiere, um schließlich zu sagen: „Hallo Sonja! Da bin ich! Schön, dass Du mich gerufen hast."
Sonja spürte wieder den wohlriechenden Schweißfilm auf ihrer Haut und verfiel in unkontrolliertes Kichern.
Der unbeteiligten Zuschauerin, die mit gesteigerter Skepsis Sonjas Verhalten beobachtet, fällt es nicht schwer zu konstatieren, dass Sonja durch ihren Alkoholkonsum schon längst die Stufe eines 'Damenspitz' überwunden und mittlerweile einen profunden 'Schwips' hatte.
In ihrem Lachanfall verschüttete sie den halben Inhalt des Glases auf ihre Beine und spürte genussvoll dem Hinabperln des Prosecco nach.
Da klingelte das Telefon. Und ja! Es war Bruno!
Sonja musste sich konzentrieren; einen Augenblick misstraute sie ihren Sinnen und hielt das Läuten für eine Halluzination. Mit weit geöffneten Augen starrte sie auf's Handy und zögerte abzuheben. Sie fühlte sich ertappt und es kostete sie geradezu Überwindung, sich dem Gespräch zu stellen, obwohl sie seit dem gestrigen Abend nichts sehnlicher herbeigewünscht hatte. Wie ferngesteuert drückte sie auf das grüne Feld.
„Hallo