Auch war an diesem Datum ein Keim in ihn geschlüpft, der ihm Augen und Nase bezüglich Sonjas außergewöhnlichen Besonderheiten öffnete. Zunächst noch unbewusst, wurden ihm die Momente des Zusammenseins mit Sonja immer mehr zu den beglückendsten Augenblicken seiner Gegenwart; und Gedankenspiele, die eine berührungsintensive Nähe zu ihr beinhalteten, formten allmählich eine utopische Alternative zu seinem schmerzlichen Privatleben, das ihm ständig nur blaue Flecken und Quetschwunden an Gliedmaßen und Seele bescherte (an jenem Abend hatte er sein Humpeln kaum mehr verbergen können).
Nachdem die gefallene Bankiersfrau von der Rettung abtransportiert worden war, standen die Gäste zunächst einmal unangenehm berührt und orientierungslos herum.
Der Konsul fand zu feierlicher Ernsthaftigkeit und hielt eine seltsam seriöse Rede, in deren Verlauf immer wieder verspielte und gewagte Sichtweisen auftauchten. So verglich er etwa die Rettungsmannschaft in ihren roten Monturen mit 'Feuerwehrleuten aus dem Reich zwischen Diesseits und Jenseits', mit 'Kobolden', deren 'undefinierten Spielregeln wir zu entsprechen hätten', ansonsten 'der Fluss ohne Wiederkehr uns ganzheitlich umspüle'.
Sonja hörte zu und spürte ein unangenehmes Nagen im Oberbauch, das mit der Zeit immer vordringlicher wurde. Es hatte dies aber gar nichts mit der Ansprache zu tun. Allmählich kristallisierte sich ein Erinnerungsbild aus diesem Nagen: mit etwa zwölf Jahren war sie bei ihrem Großvater väterlicherseits zu Besuch gewesen (ihr Vater war damals schon tot). Der Großvater, ein leidenschaftlicher Jäger, besaß im Burgenland eine eigene 'Jagd'. Von ihm in den Wald mitgenommen, verirrte sie sich im Unterholz und fand plötzlich ein ebenso verirrtes junges Wildschwein – einen Frischling. Nach anfänglicher Scheu wuchs das Vertrauen des kleinen Tieres und es ließ sich von Sonja streicheln. Da begann es im Unterholz zu rumoren, trockene Äste und Zweige brachen lautstark unter schwerem Gewicht....und aus dem Strauch-verwachsenen Urwald stieß eine wutschnaubende, schaummaulige Bache, die Mutter des Frischlings, hervor. Mit aggressiv quiekendem Grunzen wollte sie sich auf Sonja stürzen, als ein wohlgezielter Schuss ins Herz das Muttertier jäh zusammenbrechen ließ. Mit ihrer letzten Luft rief sie das Junge herbei, das mit naiver Verdutztheit das Gehabe der Mutter nicht deuten konnte und nach forderndem Schubsen mit dem kleinen Rüssel in den Bauch des Muttertieres, gierig an den Zitzen der eben Verendeten sog. Sonjas Großvater, der den rettenden Schuss abgefeuert hatte, trat zur wild schluchzenden Sonja und setzte ihr auseinander, dass sie selbst nun tot wäre, hätte er nicht im letzten Moment die Bache erledigt. Sonja wurde klar, dass sie durch ihr unvorsichtiges Verhalten letzten Endes an der Tragödie des Frischlings schuld war und verspürte ein diffuses Nagen in sich, das sie bis zum heutigen Tage in ihren Träumen verfolgte. Aus dem Frischling bereiteten dann Sonjas Cousins übrigens ein hervorragendes, wenn auch sehr mageres Spanferkel zu.
Und jetzt war es wieder da, dieses Nagen der Schuldgefühle. Schließlich, so ihr Wähnen, hätte ja s i e durch ihre Anwesenheit und Konfliktbereitschaft das innerliche Aufplatzen der Bankiersfrau verursacht. Sie konnte ja nicht wissen, welche Rolle dieser dunkelgelockte, sanft blickende Mann dabei gespielt hatte; eine Rolle die er ihr gegenüber verschwieg, als er nun zu ihr trat und sie mit dem wärmsten Timbre das sie jemals vernommen hatte, ansprach. Seine Worte gaben ihr das Gefühl des Verstandenseins und einer lange ersehnten Geborgenheit.
„Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen", begann er. „Diese Frau ist das Opfer ihrer eigenen Verstiegenheit. Und wenn S i e nicht gewesen wären, hätte sie aus irgendeinem anderen Grund irgendwann der Schlag getroffen."
Sonja blickte in die dunkelbraunen Augen. Wie konnte er von ihren Selbstvorwürfen wissen? Wie schulderlösend waren doch seine Worte!
Sie entgegnete: „Ich bin so fürchterlich erschrocken; und plötzlich bin ich mir vorgekommen wie eine böse Fee, die nur Unglück über die Leute bringt. Und das hat mich auf einmal ganz stark belastet."
Er antwortete: „Sie brauchen sich und Ihr Gewissen nicht belasten. Diese Frau ist an sich selbst zerschellt. An ihrer eigenen inneren Hässlichkeit, die sie nicht mehr ertragen konnte. Und wenn Sie eine Fee sind, dann gewiss keine böse."
Er schien ihr wie ein Zuflucht-bietender Kastanienbaum, unter dessen starken Ästen sie sich ungefährdeter Ruhe hingeben konnte.
Sie sagte nur. „Danke, Ihre Worte tun mir so wohl." Und atmete seinen Geruch nach moschushaltiger Zartbitterschokolade ein.
Dann schwiegen sie eine Weile, jeweils in den Anblick des anderen versunken.
„Darf ich Ihnen vielleicht etwas zu trinken bringen?" fragte er voll angenehmer Fürsorge, die auch nicht vom kleinsten Tropfen klebrigen Anmachschleims verunreinigt war.
„Gerne, ich begleite Sie!" gab sie zurück.
Mit dem Glas in der Hand kamen sie schließlich vor einem klassizistischen Gemälde zu stehen: 'Narziss erblickt sein Antlitz im Teich'. Mit vor Entzücken weit geöffneten Augen, versucht Narziss gerade, seines eigenen Abbildes habhaft zu werden, bevor er, angetrieben von Selbstverliebtheit, ins Wasser fallen wird, um darin zu ertrinken.
„Ich heiße übrigens Bruno", setzte der sensible Mann das Gespräch fort.
„Bruno! Ich bin Sonja", erwiderte sie und reichte ihm die Hand.
Sie spürte die trockene Wärme seiner Haut. Mit höherer Temperatur floss nun das Blut aus den Adern ihrer Finger und der Handfläche zurück zum Herzen.
„Sind Sie Künstler?" fragte sie nach einer kurzen Pause.
Er lächelte und sagte: „Leider nein! Gerne wäre ich es. Ich bin hier im Auftrag einer Wochenzeitschrift. Ich verfasse einen Artikel über diese Ausstellung."
„Oh!" fiel Sonja ein. „Dann sind Sie also Experte für 'Bildende Kunst'?"
„Das wäre sehr schmeichelhaft", gab er zurück. „Na ja, ein bisschen kenne ich mich schon aus in der 'Bildenden Kunst'....aber mein Auftrag besteht eher darin, der Dramaturgie oder noch richtiger, der Dramatik nachzuspüren, die verschiedenen Ausstellungskonzepten innewohnt. Eigentlich komme ich aus der Literaturwissenschaft. Und ich bin auf der Suche nach Parallelen zwischen verbal und bildnerisch gestalteten Verwicklungen."
Sonja war beeindruckt. Weniger wegen des Inhalts seiner Worte; wie oft traf sie doch auf Leute, die sich mit wohlformulierten Aussagen wichtigmachen und ihre Zuhörerschaft eigentlich nur als Auditorium für ihre Selbstbeweihräucherung benutzen. Hier aber begegnete sie einer unaufdringlichen Sachlichkeit ohne Hintergedanken.
Bruno sprach weiter: „Da, sehen Sie nur: auf der einen Seite das klassische und unkommentierte Sujet des 'Narziss' - und daneben das Werbefoto eines magersüchtigen Models im Bikini. Im Erkennen der Schönheit und im Streben nach ihr, liegt der Keim der Selbstzerstörung."
Er setzte ihr auseinander, dass die Begegnung mit dem 'Wahrhaft Schönen' dermaßen überwältigend sei, dass der Betrachter sich danach im Gedanken verlieren würde, fortan nichts besseres mehr erleben zu können; dass er nun am Ziel angelangt sei und sein Lebenswille sich auflöst. Schließlich zitierte er ein Gedicht, dessen erste Zeilen Sonja nie mehr vergessen sollte:
Wer die Schönheit angeschaut mit Augen,
Ist dem Tode schon anheim gegeben,
Wird für keinen Dienst auf Erden taugen,
Und doch wird er vor dem Tode beben,
Wer die Schönheit angeschaut mit Augen!
Sonja hatte aufmerksam zugehört. Unwillkürlich versuchte sie einen Bezug zwischen sich und dem Gesagten herzustellen; was ihr aber nicht gelang. War doch bis jetzt für sie die Begegnung mit dem 'Schönen', die Brücke zu einem Glücksgefühl - hin zu einer Lebensbejahung gewesen.....
Und während sie diesen Reflexionen nachhing, formulierte sich in ihrem Unterbewusstsein der Wunsch, dass dieser Abend ewig dauern möge.
Mit nahezu brutaler Klarheit wurde ihr dies offenbar, als Bruno kurz darauf sagte, er könne heute nicht so lange bleiben, da er bis morgen Mittag den Artikel abliefern müsse.
Sonja versuchte, ihn