„Nein. Oh nein! Zuerst ja. Bei den ersten drei … Burschen schon. Aber später war es anders … wie ein Bungeesprung, der nie aufhört. Ein ständiger Fluss von Adrenalin. Immer dann, wenn ich daran dachte, jedenfalls. Denn selbst solche Dinge geraten irgendwann in den Hintergrund. Dann lebt man sein Leben normal weiter. Aber mehrfach am Tag kommen wieder die Gedanken, und dann schießt das Adrenalin in einem hoch … kocht sich durch die Venen … und man spürt, dass man lebt.“ Sie sieht verträumt aus dem Fenster, als ob sie in Erinnerungen an ihre Hochzeitsreise schwelgen würde und nicht in denen an Blut und Schreie.
„Deswegen haben Sie es getan? Um sich lebendig zu fühlen?“ Sie dreht den Kopf zu mir und sieht mich amüsiert an.
„Sind Sie psychologisch geschult, Ruth?“
„Nein. Leider nicht. Um ehrlich zu sein, ist meine Menschenkenntnis nicht der Rede wert.“
„Sagen Sie nicht ‚leider.’ Wenn Sie Psychologin wären, säßen Sie jetzt nicht hier. Ich habe diese Arschgeigen mit ihren sezierenden Blicken satt. Niemand hört mir wirklich zu. Alle suchen nur nach Symptomen für irgendwelche psychischen Erkrankungen und wollen mich in eine ihrer Schubladen zwängen. Sie haben mich entmenschlicht. Also tun Sie mir einen Gefallen und versuchen Sie nicht, mich zu analysieren!“ Eine steile Falte erscheint auf ihrer Stirn. Ihre Augen bekommen etwas Stechendes. Ich schlucke. Das Klicken in meinem Hals ist deutlich in der folgenden Stille zu hören. Ich erinnere mich an die sechs Wochen Wartezeit. Sie kann einfach nach der Wache rufen, rausgehen und für immer verschwinden. Und sie kann die einzige Chance mitnehmen, einen Blick in ihr Innenleben zu werfen. Sie sitzt am längeren Hebel. Sie hat es mir ja schon einmal klargemacht.
„Ich wollte Sie nicht analysieren. Ich versuche nur, Sie zu verstehen.“
„Versuchen Sie das nicht. Hören Sie mir einfach zu. Ich suche nicht unbedingt nach Verständnis, auch wenn es so aussehen mag. Ich will nur sichergehen, dass … dass meine Seite der Geschichte an die Öffentlichkeit kommt. Verstehen werden es die Wenigsten. Viele tun so, aber im Grunde sind das nur Idioten, die ein Idol suchen. Ich bin kein Idol. Wollte ich niemals sein.“
Ich muss an ihre selbstherrlichen Sprüche denken. Sie will Bewunderung, sie liebt ihre Fanbriefe. Will sie mich jetzt vollends verulken? Da sitzt die andere Miriam vor mir. Die Kühle, die Selbstbewusste, ist gerade nicht anwesend. Es scheint so, als ob sie sich, sobald sie von den Anfängen ihrer mörderischen Karriere erzählt, wieder in die ruhige, angepasste und beinahe schüchterne Hausfrau verwandelt, die sie einmal war.
Ich bin froh, dass die andere Darlan zurzeit abwesend ist. Deren Ego ist so groß wie das Empire State Building.
„Gut, dann machen wir weiter. Sie standen also total neben sich. Wie ging es weiter?“ Sie seufzt und legt die Hände in den Schoss.
„Ich wusste, dass ich bei Einbruch der Dunkelheit noch einmal zum Friedhof musste. Ich konnte die Leiche nicht einfach liegen lassen. Er musste irgendwie verschwinden. Und auch dabei half mir der Zufall. Beim Spaziergang über den Friedhof hatte ich das Grab gesehen, das frisch ausgehoben worden war. Am nächsten Tag sollte wohl eine Beerdigung stattfinden. Ich wusste, ich hatte nur eine Chance, die Leiche zu entsorgen. Und besser ging es ja nicht, oder? Die meisten kaufen sich ein Grab für mindestens zwanzig Jahre. Bis dahin … was hätte bis dahin nicht alles passieren können. Ich wartete also, bis Felix ein Nickerchen machte und ging in den Keller. Ich war mehr als nur ein bisschen entsetzt, als ich feststellen musste, dass es in unserem Keller keine Schaufel gab. Nichts. Und dabei war ich mir sicher gewesen, dass wir so etwas haben. Immerhin haben wir allen möglichen Scheiß da unten.
Ratlos und vor allem ruhelos räumte ich die Küche auf und hörte dabei Radio. Ich rechnete damit, dass jeden Moment das laufende Programm unterbrochen wurde, um von dem Mord zu berichten. Dass irgendein spielendes Kind eine Leiche im Gebüsch entdeckt hatte. Ich brachte den Müll herunter, und das war meine Rettung, denn dabei kam ich an den Garagen vorbei und sah, dass einer der Nachbarn seine offen gelassen hatte. Und da an der Wand, ordentlich an einem Nagel, was hing da? Eine Hacke und eine Schaufel.
Es war noch hell, also konnte ich schlecht hingehen und einfach das Werkzeug schnappen. Auch den Nachbarn fragen wollte ich nicht. Das hätte er sich womöglich gemerkt. Wozu hätte ich die Sachen auch brauchen sollen? Wir hatten ja keinen Garten, nur einen Balkon. Mir fiel keine passende Ausrede ein. Also schwitzte ich noch mehr Blut und Wasser bei dem Gedanken, dass der Nachbar vielleicht seine Garage zur Nacht abschloss. Ich war mir nicht sicher, ob er ein Auto hatte oder nicht, aber wenn er eins besaß und abends nach Hause kam, würde er die Garage mit Sicherheit abschließen. Also saß ich völlig verkrampft neben Felix vor dem Fernseher und wartete, dass es endlich dunkel wurde.
Ungefähr um acht, als alle Nachbarn zu Hause waren, ging ich noch einmal runter und näherte mich zitternd den Garagen. Ich war erleichtert, dass die mit dem Werkzeug noch offen stand. Ich ging schnell hin und zerrte die Schaufel von der Wand. Dann hastete ich davon und betete, dass mich niemand mit der Schaufel durch die Gegend laufen sah.
Ich verstaute das Ding erst mal im Keller und ging zurück zu Felix. Die Nachrichten liefen noch. Von einem Leichenfund in Bielefeld war noch nichts berichtet worden. Aber so richtig beruhigte mich das nicht. Später lag ich neben Felix in der Dunkelheit und wartete. Ich hatte mir ausgerechnet, dass ich so um ungefähr zwei Uhr die besten Chancen hatte, unentdeckt auf dem Friedhof herumzuspazieren. Und ich brauchte Zeit um das Grab tiefer zu schaufeln. Ich hatte mir eine alte Jeans und ein T-Shirt bereitgelegt. Und natürlich eine Taschenlampe. Um halb zwei hielt ich es nicht mehr aus, stand auf, zog mich an, schlich in den Keller und ging mit der Schaufel über der Schulter den Weg zum Friedhof. Im Park geht das mit dem Licht noch … oben, wo der Sportplatz ist und der Weg zum Pfarracker führt, stehen Straßenlaternen. Wenn sich die Augen an das schwache Licht gewöhnt haben, kann man etwas sehen. Aber ich war nicht gern im Park … Nachts treiben sich da merkwürdige Gestalten herum. Zum Glück war es dafür noch zu kalt. Ich war allein.
Nur die Enten und Schwäne gaben ab und zu ein paar quäkende Laute von sich, und ich erschrak jedes Mal zu Tode. Ich ging zum Tor vom Friedhof und drückte die Klinke herunter. Das Tor war verschlossen.“
„Was haben Sie da gemacht?“
„Ich geriet völlig in Panik. Mein erster Impuls war, die Leiche im Teich zu versenken. Das verwischt auch alle genetischen Spuren, glaube ich. Aber der blöde Teich wird in jedem Sommer einmal leer gepumpt, um verrostende Fahrräder und Einkaufswagen, die irgendwelche Scherzkekse dort hineinwerfen, wieder zum Vorschein zu bringen.
Der Friedhof war meine beste Chance.
Ich atmete tief durch und setzte mein Gehirn in Bewegung. Der Friedhof hatte noch andere Eingänge. Einer davon ist nichts weiter als eine Unterbrechung im Zaun, oben der Engerschen Straße. Aber dort herrscht selbst nachts noch reger Verkehr. Da ist nämlich eine Tankstelle.“
„Aber an der Niederfeldstraße ist noch ein Eingang“, werfe ich ein und wundere mich. Ihre Geschichte hat mich so gepackt, dass ich ihr jetzt beinahe helfen will.
„Ja. Aber auch der hat ein Tor. Ich dachte mir, wenn einer das Tor im Park abschließt, wird er auch das zur Straße hin abschließen. Wie bescheuert ist das? Oben an der Engerschen ist eine Unterbrechung im Zaun, sodass man jederzeit auf den Friedhof kann, und weiter unten wird abgeschlossen.
Na ja. Ich bin also den ganzen Weg zur Engerschen gegangen. Mit einer Schaufel. Alle paar Meter eine verschissene Straßenlaterne. Und zwar eine von diesen Großen, Gelben. Ich war wie eine wandelnde Zielscheibe. Mehrere Autos fuhren an mir vorbei. Mit einer Schaufel an einem Friedhof entlang latschen … da kann man nur einen Schluss ziehen, oder? Ich konnte nur eins tun: Immer wenn ein Auto kam, versteckte ich die Hand mit der Schaufel hinter einem Baum. Die stehen dort an der Straße und unterteilen den Bürgersteig und den Fahrradweg. Sehr viele sind es nicht. Ich musste, jedes Mal, wenn ich die Scheinwerfer eines Autos sah, einen Sprint einlegen, um den nächsten Baum zu erreichen. Keine Ahnung, ob mich jemand gesehen hat. Jedenfalls erreichte ich nach einiger Zeit endlich den Eingang oben an der Mühle und betrat den Friedhof. Es war unglaublich gruselig. Nur von der Straße schien noch etwas Licht herein, aber es war nicht viel und reichte nicht