Die Vigilantin. Sonja Reineke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sonja Reineke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847641889
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Stoff für die Abendnachrichten. Ich bedauerte nur, nicht Fotos von Darlan selbst zu haben. Ingo war drinnen und lichtete Darlan ab und schrieb wohl auch einen Leitartikel über den Prozess. Ich hatte sie noch nie zu sehen bekommen. Ich wusste nicht, dass sich das bald ändern sollte.

      Wieder in der Redaktion bereitete ich mich auf Ärger vor, da ich meinen Interviewtermin verschoben hatte und jetzt mit Fotos ankam, die ich gar nicht hätte machen dürfen. Das gehörte jetzt zu Ingos Aufgaben. Die Fotos wurden zwar genommen, aber es war so, wie ich befürchtet hatte: Den Artikel dazu schrieb ein anderer. Ich sollte wieder brav in meinen Bereich zurück. Da gab ich es auf.

      Als mein Chefredakteur mich Monate später zu sich rief, war ich auf vieles gefasst, aber nicht auf den Auftrag, den er für mich hatte.

      Er stand mit hochgekrempelten Ärmeln am Fenster seines Büros und sah erschöpft aus. „Ruth“, sagte er ernst, „ich habe eine E-Mail bekommen, die für unsere Zeitung die Chance ist, eine Exklusivstory über Darlan zu bekommen.“

      Ich musste schlucken. Darlan redete mit niemandem, las aber fleißig die ihr zugesandten Fanbriefe, so hieß es. Sie war allen ein großes Rätsel. Journalisten aus aller Welt schlugen sich darum, mit ihr ein Interview machen zu können. Auch die Redaktion unserer Zeitung hätte dafür gemordet, wenn auch nicht unbedingt das Ressort, in dem ich tätig war. Das passte hinten und vorne nicht. Wie kamen wir zu der Ehre? Ich fragte ihn.

      „Sie hat nach Ihnen verlangt. Es steht in der Mail der Vollzugsanstalt. Warum weiß kein Mensch. Scheinbar hat sie mal einen Artikel von Ihnen gelesen, und der hat ihr gefallen. Jedenfalls hat sie explizit Ruth Welter angefordert.“

      Ich blinzelte. „Namentlich?“, fragte ich und fühlte mich beinahe wie Clarice Starling in „Das Schweigen der Lämmer.“

      „Namentlich. Fragen Sie sie selbst, warum. Ab Montag dürfen Sie sie jeden Tag für ein paar Stunden besuchen. Ich bin über diese großzügige Regelung selbst etwas überrascht, aber wahrscheinlich erhoffen sich die Anstaltsärzte ein paar Antworten.“

      Natürlich war ich über dieses Angebot verblüfft und erfreut zugleich. Und so kaufte ich eine Menge Batterien für meinen Rekorder und besuchte Miriam Darlan in ihrer Anstalt.

      Darlan und Wolfhardt

       2

      Ein bisschen fühlt man sich tatsächlich an die Szenen in „Das Schweigen der Lämmer“ erinnert, wenn man durch die Sicherheitsschleusen der Anstalt, oder vielmehr des psychiatrischen Krankenhauses Bergenbeck, geführt wird. Es ist ein altes Gebäude, in dem es nach Desinfektionsmitteln und altem Mauerwerk riecht – und nach Wahnsinn. Das behauptet jedenfalls Darlan selbst. Sie sitzt wenigstens im alten Trakt, wo die meisten Zellen leer stehen, sodass mich wenigstens niemand anzischt, dass er gewisse Körperteile riechen kann. Den anderen Teil des Gebäudes hat man renoviert und ausgebaut. Das U-förmige Gemäuer erinnert mich auch an meine alte Schule: cremefarbene Wände, dunkelgrüne Türen, hohe Decken. Echos von zuschlagenden Türen und klappernden Absätzen hallen durch die Gänge. Ein uniformierter Wärter mit schwarzem Schnauzbart eskortiert mich zu dem kleinen Besuchszimmer, das man für unsere Gespräche auserkoren hat. Das Mobiliar besteht aus einem völlig zerkratzen Tisch mit eingeritzten Obszönitäten und zwei Stühlen. Der von Darlan steht gegenüber der Tür, vor dem vergitterten Fenster. In der Tür ist ein Guckloch, vor dem sich der Wärter, ein gewisser Herr Mahling, positioniert. Er wird uns keine Sekunde aus den Augen lassen, was mich wenigstens etwas beruhigt. Darlan erwartet mich bereits. Sie sitzt mir gegenüber, mit strähnigem, dunkelblondem Haar, einem kurzärmeligen, verwaschenen T-Shirt und einer dunkelblauen Trainingshose. Sie schlägt das linke Bein über das Rechte, hat eine dampfende Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, zieht aber so gut wie nie daran. Die Arme stützt sie auf den wackelnden Tisch und wechselt oft die Sitzposition. Zuerst dachte ich, es wäre eine Nebenwirkung der Medikamente oder ein Symptom ihrer Psychose, aber der Grund dafür ist äußerst trivial: Die Stühle sind hart und höllisch unbequem. Ich selbst rutsche auf meinem hin und her und weiß kaum, wie ich sitzen soll.

      Ich sehe sie neugierig an. Fotos habe ich jede Menge von ihr gesehen, aber so nahe bin ich nie an sie herangekommen. Auf den Fotos sah man eine frische, gut gekleidete, attraktive Frau mit einer pfiffigen Frisur. Der Aufenthalt in der Anstalt hat ihr zugesetzt, denn ihre Haut hat einen fettigen Glanz und wirkt viel faltiger als zuvor. Die Augen sind tiefblau, die Nase ist klein und ein wenig zu breit. Alles in allem ist es ein freundliches, offenes Gesicht, das mir genauso gut beim Bäcker, beim Arzt, im Supermarkt oder im Kino begegnen könnte. Bei einem Serienmörder glaubt man immer, man müsse es ihm – oder in diesem Fall ihr – irgendwie ansehen können. Ich kann nicht zählen, wie oft ich zu hören bekommen habe: Aber das sieht man doch schon an den bösen Augen! Das stimmt nicht. Viele Serienmörder wirken freundlich, vertrauenerweckend. Auch Miriam Darlan könnte mich irreführen. Aber ich verliere nicht eine Sekunde aus den Augen, was sie getan hat und wie sie es getan hat. Ich baue das Mikrofon vor ihr auf und bereite den Rekorder vor.

      „Manieren haben Sie … hat Ihre Mutter Ihnen nicht beigebracht, dass man erst mal ‚Guten Tag’, sagt, wenn man einen Raum betritt, und dass man sich vorstellt?“ Irritiert sehe ich zu ihr herüber. Sie meint das todernst. Eine steile Falte erscheint zwischen ihren Augenbrauen und ihre Mundwinkel zeigen einen grimmigen Zug nach unten.

      „Es tut mir leid“, sage ich, „mein Name ist Ruth Welter, Guten Tag!“

      „Ach, am Arsch“, schnaubt sie, „Sie können sich Ihr herablassendes Getue sparen. Wenn Sie meinen, Sie können über mich urteilen, mich analysieren und sich aufs hohe Ross setzen, vergessen Sie die Sache. Packen Sie ihren Scheiß zusammen und verpissen Sie sich.“ Sie sagt es ganz sachlich, und auch das meint sie todernst. Sie bricht das Interview ab, bevor es überhaupt angefangen hat, und ignoriert meine schriftlichen Entschuldigungen und Bitten um einen neuen Termin – für volle sechs Wochen.

      Als ich das nächste Mal wieder vor ihr sitze – diesmal nach einem freundlichen „Guten Tag“ und einer artigen Vorstellung – fragt sich mich schlicht: „Wissen Sie jetzt, wer hier am längeren Hebel sitzt?“

      Ich weiß es.

      Der Rekorder läuft, und sie scheint es kaum abwarten zu können. Denn noch, bevor ich die erste Frage stellen kann, legt sie schon los: „Sie wollen doch bestimmt wissen, wie und warum ich meine Morde geplant habe, oder?“

      Ich winke ab. „Lassen Sie uns lieber mit Ihrer Kindheit anfangen.“ Sie schnaubt verächtlich. „Wir sind nicht hier, um über meine Kindheit zu palavern, und Ihre Leser interessiert das einen Scheißdreck.“ Am liebsten möchte ich ihr sagen, dass sie das mir überlassen soll, aber sie sitzt ja am längeren Hebel. Also schweige ich. Aber auch das passt ihr nicht.

      „Meine Kindheit … klar, die war scheiße. Muss sie ja auch, oder? Mein Stiefvater war ein Arsch. Reicht das nicht?“ Ich ziehe die Schultern hoch. „Arsch, inwiefern?“, frage ich. Sie rutscht auf dem Stuhl herum. „Es gibt Fotos von mir und ihm“, sagt sie schließlich. „Fotos, wo ich mit ihm in der Badewanne sitze. Es gibt eigentlich keinen Grund dafür, ein neunjähriges Kind zu zwingen, mit einem zu baden, oder? Außer dem einen Grund natürlich. Und dabei wollen wir’s belassen.“ Sie sieht finster auf den Tisch und zündet sich eine weitere Zigarette an, obwohl die andere Kippe noch im Aschenbecher vor sich hin schmort.

      Ich belasse es also dabei. Nur eine Frage habe ich noch.

      „War das … also das Baden … der Grund, ihn umzubringen?“

      „Na, was denn sonst? Aber Sie haben Ihre Hausaufgaben nicht richtig gemacht. Er ist nicht tot.“

      „Doch“, erwidere ich trocken, „das ist er. Sie haben ihn zwar ins Koma geprügelt, aber dann ist er gestorben. Vor drei Wochen wurde er beerdigt.“

      Überrascht sehe ich, dass diese Nachricht sie nervös macht. Sie hat wohl doch Schuldgefühle, obwohl sie bisher bei keiner ihrer Taten Reue gezeigt hat. Ich frage sie danach. Sie lacht kurz auf, ein bellender, heiserer Laut.

      „Nein, ich hatte nur gehofft,