Die Vigilantin. Sonja Reineke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sonja Reineke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847641889
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wieder. Das hier war die Stelle; der Grabstein davor war der Richtige und ich sah die Zweige, die ich selbst über ihn gelegt hatte. Sie lagen um eine Stelle in der Mitte herum. Dort hatte er gelegen. Man konnte es noch erkennen, selbst in dem trüben Licht der Funzel. Wo war er hin?

      Man hat ihn doch entdeckt, dachte ich und es wurde eiskalt in mir, man hat ihn entdeckt und hier auf dich gewartet, damit sie dich festnehmen können, wenn du wiederkommst.

      Ich schaltete die Taschenlampe ab und sank auf den kalten Boden. Meine Knie zitterten so sehr, dass ich ohnehin nicht hätte weglaufen können. Schweiß brach mir aus allen Poren, der pure Angstschweiß. Es dauerte, bis ich mich wieder etwas unter Kontrolle hatte. Dann war da die sachliche kleine Stimme der Vernunft. Sie setzte sich neben mich, legte den Arm um meine Schultern und sagte, dass ich mich beruhigen müsste, wenn ich aus der Sache wieder rauskommen wollte. Und dass das Unsinn wäre, was ich glaubte. Wenn die Polizei die Leiche gefunden hätte, wäre hier alles abgesperrt gewesen. Niemand lauerte mir hier auf. Die Antwort war einfach: Er war nicht tot. Ich hatte ihn nicht richtig erwischt. Er war erst bewusstlos, dann wachte er auf und ging wahrscheinlich – ja, wohin wohl? Doch nur schnurstracks zur Polizei. Egal, welches Szenario ich wählte, es lief immer auf die Polizei hinaus.

      Ich stand auf und wankte den Weg zum Spielplatz hinauf. Ich dachte mir, ich sollte den Park oben verlassen, in der Nähe des Supermarkts. Falls hier doch Polizisten mit Nachtsichtgeräten im Gebüsch hockten und mich beobachteten, wollte ich ihnen zumindest keinen Hinweis darauf hinterlassen, wo ich wohne. Vielleicht konnte ich ihnen oben an der Straße entkommen.

      All das waren keine logischen Gedanken. Aber ich war zu keinem vernünftigen Gedanken mehr fähig. Die Stimme der Vernunft, die ich inzwischen Steve getauft hatte, schwieg sich auch aus. Die Panik überlagerte sowieso alles.

      Ich kam am Spielplatz vorbei und da hatte ich so eine Ahnung … eine Art Eingebung. Ich ging hoch zu der Parkbank, auf der er sich einen von der Palme gewedelt hatte. Und da saß er.“

       9

      Sie wischt sich nervös mit der Hand über die Stirn. Ihre Finger zittern. Die Erinnerung nimmt sie ganz schön mit.

      „Er saß auf der Bank … ich machte die Taschenlampe an, um sicherzugehen, dass er es wirklich war. Er war es. Er starrte an mir vorbei in die Dunkelheit. Dort, wo ich ihn mit der Hantel getroffen hatte, klebte getrocknetes Blut an seinem Kopf und an seiner Wange. Dort war es herunter gelaufen und in dunklen Bächen erstarrt. Ein stinkender, feuchter Fleck hatte sich auf seinem T-Shirt gebildet. Er hatte sich übergeben. Hätte er das getan, als er noch lag, dann wäre es entweder in den Boden des Gebüschs gesickert, oder er wäre daran erstickt. Dass es dort auf der Brust seines Shirts klebte, bewies, dass er dabei entweder gestanden oder wie jetzt dagesessen hatte. Er war in einem Schockzustand. Und er hatte eine mächtige Gehirnerschütterung. Vielleicht auch eine Schädelverletzung. Wer wusste das schon? Ich jedenfalls nicht. Ich bin kein Arzt.

      Ich sank neben ihm auf die Bank. Er nahm mich gar nicht wahr. Er saß nur dort und starrte vor sich hin. Jetzt war das Dilemma groß. Wenn er einen Gehirnschaden erlitten hatte, wusste er vielleicht nichts mehr von mir. Aber es konnte gut sein, dass man ihn morgens fand und er gerettet wurde. Und dass er sich dann an die Frau mit der Hantel erinnerte, die ihm hinter dem Gebüsch aufgelauert hatte. Tja, sagte Steve, du kannst nur eins tun, Miriam: Mach ihn platt. Wenn er lebt, kriegt man dich. Außerdem hat er den Tod verdient. Bring ihn um.

      Ich hatte nichts bei mir, um ihn umzubringen. Ich nahm sanft seine Hand und stand auf. Er ließ sich hochziehen und kam mit. Wie ein kleines Kind. Noch heute gruselt es mich, wenn ich daran denke. Wie es ausgesehen haben muss, wie wir beide, Hand in Hand, zum Friedhof marschierten.

      Am Tor schob ich ihn über das Gitter. Er half nicht mit. Er war wie ein Zombie. Ich zerrte, ich schwitzte, ich schob, ich hatte beide Hände an seinem Hintern und drückte. Ich fasste ihn nicht gerne an. Schon die Hand, mit der ich vorher seine Hand gehalten hatte, fühlte sich besudelt an. Endlich kippte er vornüber und fiel. Das Tor ist ja nicht hoch, es ging mir nur bis zur Hüfte. Er fiel jedenfalls wie ein nasser Sack und blieb liegen. Ich überstieg das Tor selbst und trat dabei noch auf ihn. Er rührte sich nicht. Nur ein jämmerliches Stöhnen kam aus seinem Mund, und das war irgendwie das Schlimmste. Mich überläuft es heute noch kalt, wenn ich daran denke. Das sind die beiden Dinge, die sich mir ins Gedächtnis gebrannt haben: die Großaufnahme seines Gesichts, als er mich überrascht ansah, nachdem ich ihm die Hantel an den Kopf geknallt hatte, die leicht gebleckten Zähne, die erschrockenen Augen … und das entsetzliche Stöhnen, als ich versehentlich auf ihn trat.

      Ich zog ihn zum Grab. Aufstehen konnte oder wollte er nicht mehr. Er lag dann da und rührte sich nicht. Aber das Licht der Sterne und des halbvollen Mondes spiegelte sich in seinen Augen. Sie sahen wie schwarze Murmeln aus.

      Ich leuchtete mit der Taschenlampe in das Grab und wollte schon mit der Schaufel hineinspringen – ich bin immer so voreilig, das war schon immer mein Problem – da sah ich, wie verdammt tief das war. Wie sollte ich wieder herauskommen? Ich sank wieder geschlagen zu Boden, neben ihn. Es gab nur eine Möglichkeit: Eine Leiter besorgen. Zu Hause hatten wir so etwas, aber oben, in der Wohnung. Auf keinen Fall hätte ich sie holen können, ohne Felix zu wecken. Sie steht nämlich ausgerechnet im Schlafzimmer.

      Tränen liefen mir übers Gesicht. Damals dachte ich: Du bist eben nicht zum Mörder geboren, Miriam. Ich war schon so weit, aufgeben zu wollen. Ihn wieder auf die Bank setzen und darauf hoffen zu wollen, dass er sich nicht an mich erinnern konnte. Da fiel mir der Blick des kleinen Mädchens ein. Und dass man sich im Krankenhaus um dieses Schwein hier bemühen und ihm das Leben retten würde, nur damit er der Kleinen wieder nachstellen und ihr dabei etwas antun konnte. Das konnte ich nicht zulassen.“

      Ego

       10

      Eine gute Hausfrau bin ich nie gewesen. Ich lasse meine Klamotten überall herumliegen, hasse staubsaugen und abwaschen, und gerate schier in Verzweiflung, wenn ich etwas anderes als Kaffee kochen soll. Deswegen hat mich Ingo auch in das „Rezepte aus aller Welt“ Ressort verbannen lassen. Das ist seine Art von Humor. Aber wenigstens verdiene ich ganz gut. Daher habe ich eine Putzfrau.

      Iris kommt dreimal pro Woche und verwandelt meine chaotische Wohnung in ein Schmuckstück. Ich habe Glück, dass ich hoch oben wohne und von meinem Balkon aus fast die gesamte Innenstadt überblicken kann.

      Auch wenn sich Bielefeld mit dem steten Lärm von Autohupen und Polizeisirenen, wie sie in New York dazugehören, nicht messen kann, genieße ich doch die Energie dieser Stadt. Auch jetzt stehe ich mit meinem Cappuccino auf dem Balkon und sehe dabei zu, wie sich die Autos zum Ostwestfalendamm heraufschlängeln. Auf mich wirkt das viel beruhigender als Natur und Vogelgezwitscher.

      Ich klappe meinen Laptop auf dem Tisch auf und schreibe hier auf dem Balkon die ersten Kapitel nieder, den Kopfhörer vom Rekorder auf den Ohren und meinen Notizblock neben mir. Zwar muss ich wegen der Kälte eine dicke Jacke und ein zweites Paar Hosen tragen, aber trotzdem ist es angenehm. Was für ein Winter. Mein Thermometer zeigt acht Grad an, ein sehr frischer Wind weht. EGO. Diese Buchstaben stehen auf dem Block, groß und unterstrichen. Darlan hat zwei Gesichter. Das eine, das sie jetzt der Welt zeigt, mag ich nicht, auch wenn es zugegebenermaßen gleichzeitig fasziniert und verstört. Das Zweite erschüttert mich eher. Der Mensch Darlan, der beinahe zufällig in einen Sog aus Totschlag, Mord und Gewalt gezogen wurde. Der Mensch Darlan ist so dermaßen menschlich, dass ich mich in ihm wiedererkenne. Ich würde aber nie jemanden ermorden. Etwas in ihr muss in ihrem Leben einen derartig großen Schaden erlitten haben, dass sie keine Hemmungen mehr kannte. Trotzdem lässt mich ihre Miene nicht los, als sie ihre Geschichte erzählte. Sie wirkte beinahe hilflos, entsetzt über all das, was geschehen ist, auch wenn es ihr nicht leidtut. Eine Menge widersprüchliche Empfindungen habe ich in ihrem Gesicht gesehen. Es ist beinahe tragisch, dass ich von Psychologie keine Ahnung habe.

      Es tröstet mich nur, dass oben an der Decke, hinter mir, eine winzige Kamera und ein ebenso winziges Mikrofon angebracht worden sind, und die Anstaltsärzte sowie einige ausgesuchte Psychiater und Profiler unsere Gespräche verfolgen.

      Natürlich