»Fräulein Rosy hat mir ein Lied vorgesungen, Sie haben doch nichts dagegen, nicht wahr, Doctor?« sagte Herr Featherstone »Ich mag das lieber als Ihre Medizin.«
»Das hat mich ganz vergessen gemacht, wie rasch die Zeit hingeht,« sagte Rosamunde, nachdem sie aufgestanden war, um ihren Hut zu holen, den sie vor dem Singen bei Seite gelegt hatte, so daß ihr Kopf, welcher einer Blume auf einem weißen Stengel glich, von allen Seiten sichtbar über ihrem Reitkleide hervorragte. »Fred, wir müssen wirklich fort.«
»Ja wohl,« sagte Fred, der seine guten Gründe hatte, nicht in der besten Laune zu sein, und gern fort wollte.
»Ist Fräulein Vincy musikalisch?« fragte Lydgate, indem er ihr mit den Augen folgte. Jeder Nerv und jede Muskel Rosamunden's war dem Bewusstsein, daß sie beobachtet werde, angepaßt. Sie war von Natur so sehr darauf angelegt bestimmte Rollen zu spielen, daß sich diese Disposition selbst ihrem Körper mitteilte, – sie spielte sich selbst und zwar so gut, daß sie gar nicht mehr genau wußte, ob sie sich selbst oder eine andere Rolle spiele.
»Die beste Sängerin in Middlemarch, darauf gebe ich Ihnen mein Wort,« sagte Herr Featherstone. »He, Fred, leg' einmal Zeugnis ab für Deine Schwester.«
»Ich fürchte, Onkel, das Gericht würde mich nicht zulassen. Mein Zeugnis würde keinen Wert haben.«
»Middlemarch steht künstlerisch nicht sehr hoch, lieber Onkel,« sagte Rosamunde, mit anmutiger Leichtigkeit, indem sie nach einer Ecke des Zimmers ging, ihre dortliegende Reitpeitsche zu holen.
Lydgate kam ihr rasch zuvor. Er ergriff die Peitsche, noch ehe sie dieselbe erreicht hatte, und wandte sich um, ihr dieselbe zu geben. Sie verneigte sich und sah ihn an; er seinerseits sah natürlich auch sie an und ihre Augen begegneten sich in der eigentümlichen Weise, welche sich nie absichtlich erreichen läßt, sondern dem plötzlichen Hervortreten der Sonne aus einer Wolke gleicht. Lydgate wurde, glaube ich, noch etwas blasser als gewöhnlich, aber Rosamunde errötete tief und empfand eine gewisse Überraschung.
Danach wünschte sie wirklich fortzugehen und hörte das Geschwätz ihres Onkels, als sie ihm die Hand zum Abschiede reichte, gar nicht mehr. Und doch war das eben Geschehene, welches sie für das Ergebnis des Eindrucks hielt, den zwei Personen auf einander machen, und welchen man »Sich verlieben« nennt, genau das, worauf Rosamunde es im Voraus abgesehen hatte. Von dem Moment des bedeutsamen Erscheinens Lydgate's in Middlemarch an hatte ihre Einbildungskraft an dem kleinen Gewebe einer Zukunft gearbeitet, welche notwendigerweise mit etwas dieser Szene Ähnlichem beginnen müßte.
Fremdlinge übten, gleichviel ob sie Schiffbruch gelitten und sich durch Anklammern an einen Balken gerettet hatten, oder ob sie in gebührender Begleitung von Reisekoffern auftraten, von jeher auf jungfräuliche Gemüter einen wunderbaren Zauber, gegen welchen heimisches Verdienst immer vergebens aufzukommen suchte. Und ein Fremdling war auch der Held in Rosamunden's Lebensroman, welcher sich immer um einen nicht aus Middlemarch gebürtigen Geliebten und Gatten gedreht hatte, der durchaus keine den ihrigen ähnliche verwandtschaftliche Beziehungen hätte; neuerdings hatte sich der Plan des Romans derartig gestaltet, daß die Verwandtschaft des Helden mit einem Baronet erforderlich schien.
Jetzt, wo sie und der Fremde sich begegnet waren, erwies sich die Wirklichkeit viel fügsamer als die Phantasie, und Rosamunde konnte nicht zweifeln, daß die große Epoche ihres Lebens gekommen sei. Sie hielt die an sich selbst beobachteten Symptome für die Anzeichen einer erwachenden Liebe und fand es selbstverständlich, daß Herr Lydgate sich bei ihrem ersten Anblicke in sie verliebt habe. So etwas kam ja so oft auf Bällen vor, warum also nicht auch einmal bei Tageslicht, in dessen Beleuchtung die Schönheit des Teints noch besser hervortrat.
Rosamunde war, obgleich nicht älter als Mary, schon so ziemlich daran gewöhnt, daß die Männer sich in sie verliebten; aber bisher hatte sie ihresteils sich gleichgültig und streng kritisch sowohl gegen junge Sprösslinge als gegen verlebte Junggesellen verhalten. Nun aber war in Herrn Lydgate plötzlich ein Mann vor ihr erschienen, welcher ihrem Ideale entsprach, ein Mann, der in Middlemarch ganz fremd war, der in seinem Wesen etwas einer guten Familie entsprechend Distinguiertes und verwandtschaftliche Beziehungen hatte, welche die Aussicht auf den Himmel der Mittelklassen, eine vornehme gesellschaftliche Stellung eröffneten, ein Mann von Talent, ein Mann, den zum Sklaven zu machen besonders reizend sein würde, – in der Tat ein Mann, dessen Erscheinung ganz neue Saiten bei ihr angeschlagen und ihrem Leben ein neues lebhaftes Interesse gegeben hatte, welches intensiver war, als es irgend eines der Phantasiegebilde sein konnte, die sie der Wirklichkeit entgegenzustellen pflegte.
So waren beide, Bruder und Schwester, beim Nachhausereiten präokkupiert und in sich gekehrt. Rosamunde, deren Grundlage für ihren Zukunftsbau wie gewöhnlich nur leicht und luftig war, erging sich, sobald diese Grundlage ihr einmal hinreichend fest erschien, in sehr realistischen und ins Einzelne gehenden Vorstellungen und noch ehe sie eine Meile weit geritten waren, steckte sie schon tief in den Toiletten und neuen Bekanntschaften ihres ehelichen Lebens, nachdem sie zuvor ihr Haus in Middlemarch ausgesucht und die Besuche in Aussicht genommen hatte, welche sie den entfernten vornehmen Verwandten ihres Mannes machen würde, – diesen vornehmen Verwandten, deren vollendete Manieren sie sich so vollständig aneignen würde, wie sie sich auf der Schule in Voraussicht einer möglichen künftigen Standeserhöhung Talente und Fertigkeiten angeeignet hatte.
In diese Ausmalung ihrer Zukunft mischte sich kein Element eines pekuniären oder gar schmutzigen Interesses; sie hatte ein lebhaftes Verlangen nach dem, was ihr für einen feinen Lebensgenuss galt, kümmerte sich aber nicht um das Geld, das dieser Lebensgenuss kostete.
Fred's Gemüt dagegen, war von einer ängstlichen Besorgnis in Anspruch genommen, welche selbst sein sanguinischer Sinn nicht ohne Weiteres zu beseitigen vermochte. Er sah kein Mittel, Featherstone's albernem Verlangen zu entgehen, als indem er sich Folgen aussetzte, welche ihm noch unangenehmer waren, als selbst die Notwendigkeit jenem Verlangen zu entsprechen. Sein Vater war bereits gegen ihn verstimmt, und würde es nur noch mehr werden, wenn er zu einer noch größeren Erkaltung der Beziehungen seiner eigenen Familie zu den Bulstrode's Anlass geben sollte. Auch war es ihm selbst ein schrecklicher Gedanke, zu seinem Onkel Bulstrode gehen und mit ihm reden zu müssen, und vielleicht hatte er beim Glase Wein manches unüberlegte Wort über Featherstone's Vermögen gesprochen, das vom Gerücht noch vergrößert worden war. Fred fühlte, daß er eine sehr traurige Figur spielen müßte, wenn er, nachdem er zuvor mit seinen Aussichten auf die Erbschaft eines wunderlichen, alten Geizhalses geprahlt habe, jetzt auf dessen Geheiß um eine Bescheinigung des Gegenteils betteln müsse.
Aber diese Aussichten! Er rechnete doch wirklich auf sie, und fand die, welche sich ihm eröffneten, wenn er jene aufgab, durchaus nicht angenehm; überdies hatte er erst kürzlich eine Schuld kontrahiert, welche ihn sehr drückte, und welche der alte Featherstone für ihn zu bezahlen beinahe fest versprochen hatte. Und dabei handelte es sich bei der ganzen Geschichte nur um erbärmlich kleine Summen: seine Schulden waren klein und auch seine vermeintlichen Aussichten waren in der Tat nichts weniger als glänzend! Fred hatte Leute gekannt, denen er sich geschämt haben würde, die Geringfügigkeit seiner Verlegenheiten zu bekennen. Solche Betrachtungen erzeugten in ihm, sehr natürlich, eine etwas misanthropisch verbitterte Stimmung.
Geboren zu sein als der Sohn eines Middlemarcher Fabrikanten und von Haus aus nur sehr mäßige Aussichten zu haben, während solche Menschen wie Mainwaring und Vyan – wahrhaftig, das Leben war doch ein erbärmliches Ding, wenn ein lebenslustiger junger Kerl, der von Allem das Beste zu genießen bereit war, so jämmerliche Aussichten