Sie wurde aus ihren Träumereien aufgeschreckt und der Schwierigkeit eines Entschlusses überhoben, als Celia sie mit ihrer kleinen, etwas schnurrenden Stimme, im Tone einer beiläufigen Bemerkung fragte:
»Kommt noch außer Herrn Casaubon Jemand zu Tisch?«
»Nicht daß ich wüßte.«
»Ach, wenn doch nur noch Jemand käme! Dann brauchte ich es doch nicht so deutlich zu hören, wie Herr Casaubon seine Suppe schlürft.«
»Wieso, tut er das auf besondere Weise?«
»Beste Dora, hörst Du denn nicht, wie er seinen Löffel aussaugt? – Und wenn er etwas sagen will, blinzelt er immer vorher mit den Augen. Ich weiß nicht, ob Locke auch geblinzelt hat, aber wenn er es getan hat, bedaure ich die, welche ihm gegenüber sitzen mußten.«
»Ich bitte Dich, Celia,« sagte Dorothea mit emphatischem Ernst, »mache solche Bemerkungen nicht mehr!«
»Warum denn nicht? Sie sind doch ganz richtig,« erwiderte Celia, welche ihre Gründe hatte, in dieser Weise fortzufahren, obgleich es ihr dabei ein wenig schwül zu werden anfing.
»Es gibt viele richtige Bemerkungen, welche aber doch nur von Menschen niedriger Sinnesart gemacht werden.«
»Wenn das der Fall ist, scheint es mir doch, daß die Menschen von niedriger Sinnesart auch ihr Gutes haben. Ich finde es bedauerlich, daß Herrn Casaubon's Mutter nicht eine niedrigere Sinnesart hatte, dann würde sie ihn vielleicht besser erzogen haben.«
Kaum hatte Celia diesen Wurfspieß geschleudert, als sie, eine innere Angst überkam und sie gern davon gelaufen wäre.
Dorothea's verletzte Empfindlichkeit war nachgerade so lawinenartig angeschwollen, daß von einer vorbereitenden Mitteilung jetzt nicht mehr die Rede sein konnte.
»Ich darf Dir wohl nicht länger verschweigen, Celia, daß ich mit Herrn Casaubon verlobt bin.«
Celia erbleichte, wie sie vielleicht noch nie in ihrem Leben erbleicht war. Der papierne Hampelmann, an dem sie gerade arbeitete, würde unfehlbar einen Schnitt ins Bein bekommen haben, wenn nicht Celien eine ganz besondere Sorgfalt für Alles, was sie unter Händen hatte, eigen gewesen wäre. Sie legte den Hampelmann sofort bei Seite und saß eine Weile unbeweglich da. Als sie wieder zu sprechen anfing, geschah es mit einer von Tränen erstickten Stimme.
»O Dora, ich hoffe, Du wirst glücklich werden.«
Alle übrigen Gefühle wurden bei ihr in diesem Augenblick durch schwesterliche Zärtlichkeit zurückgedrängt und ihre Besorgnisse waren nur von ihrer Liebe zu Dorotheen eingegeben.
Diese war noch gekränkt und aufgeregt.
»Die Sache ist also schon ganz abgemacht?« fragte Celia in einem ängstlich leisen Tone. »Und Onkel weiß es?«
»Ich habe Herrn Casaubon's Antrag angenommen. Onkel brachte mir den Brief, welcher den Antrag enthielt, wußte aber schon vorher von der Sache.«
»Ich bitte Dich um Verzeihung, Dora, wenn ich Dich durch irgend eine Bemerkung verletzt habe,« sagte Celia, leise schluchzend.
Was in ihr vorging, war ihr selbst ganz neu. Es war ihr, als handele es sich um ein Leichenbegängnis, bei welchem Casaubon als Geistlicher fungiere, so daß es unschicklich sein würde, Bemerkungen über ihn zu machen.
»Laß es gut sein, Kitty, gräme Dich nicht; wir würden nie in unserem Urteile über einen Menschen übereinstimmen. Es begegnet mir oft, in derselben Weise anzustoßen. Auch ich bin sehr geneigt, über Leute, die mir nicht gefallen, ein hartes Urteil zu fällen.«
Trotz dieser großherzigen Erklärung litt Dorothea noch immer, vielleicht eben so sehr von Celien's resignierter Verwunderung wie von ihren kleinen kritischen Bemerkungen. Sie mußte sich sagen, daß die ganze Gesellschaft in und um Tipton diese Heirat nicht beifällig aufnehmen werde. Dorothea kannte Niemanden, der so wie sie über das Leben und seine besten Zwecke dachte.
Gleichwohl fühlte sie sich, noch ehe der Tag zu Ende ging, wieder sehr glücklich. In einer einstündigen, vertraulichen Unterhaltung mit Casaubon sprach sie sich unbefangener gegen ihn aus, als es ihr zuvor möglich gewesen war, und hielt auch nicht mit dem Ausdruck ihrer Freude über die Aussicht zurück, sich ihm ganz widmen und lernen zu dürfen, wie sie sich am Besten an seinen großen Aufgaben werde beteiligen und dieselben fördern können. Casaubon empfand ein nie gekanntes Entzücken – und welcher Mann würde nicht so empfunden haben! – über diesen kindlichen, rückhaltlosen Feuereifer. Es überraschte ihn nicht, – und welchen Verliebten würde es überrascht haben? – sich zum Gegenstande dieses Feuereifers auserkoren zu sehen.
»Mein liebes Fräulein, liebe Dorothea,« sagte er, indem er ihre Hände in die seinigen nahm, »nie hätte ich zu hoffen gewagt, daß mir noch ein solches Glück aufgespart sei; nie habe ich geahnt, daß es mir noch einmal beschieden sein würde, einer Persönlichkeit und einem Geiste zu begegnen, die so reich mit den mannigfachen Reizen ausgestattet wären, welche ein Ehebündnis wünschenswert erscheinen lassen. Sie besitzen alle, ja mehr als alle die Eigenschaften, welche ich stets als die charakteristischen Vorzüge des weiblichen Wesens betrachtet habe. Der große Reiz Ihres Geschlechtes besteht in seiner selbstlos hingebenden Aufopferungsfähigkeit, und darum erkennen wir dasselbe als so ganz dazu gemacht, unser Leben zu verschönern und zu ergänzen. Bisher habe ich wenig andere Freuden gekannt, als die Befriedigung, welche ein einsamer Gelehrter in seinem geistigen Schaffen findet; ich fühlte mich wenig ausgelegt, Blumen zu sammeln, die in meinen Händen verwelkt sein würden; jetzt aber werde ich sie eifrig pflücken, um sie an Ihren Busen zu stecken.«
Nie hatte ein Mensch es mit seinen Worten redlicher gemeint; selbst die frostige Rhetorik des Schlusses war ein ganz so natürlicher Ausdruck der Gefühle Casaubon's, wie es für einen Hund das Bellen oder für eine verliebte Krähe das Krächzen ist. Würde es nicht voreilig sein, zu schließen, daß jenen Sonetten an Delia, welche uns anmuten wie die dünnen Klänge einer Mandoline, keine ächte Leidenschaft zu Grunde liege?
Dorotheen's glaubensvolles Gemüt ergänzte alles das, was Casaubon's Worte ungesagt zu lassen schienen; welcher Gläubige hat je ein Auge für eine störende Auslassung oder für einen schlechtgewählten Ausdruck gehabt? Ein uns ehrwürdiger Text, rühre er nun von einem Propheten oder von einem Dichter her, erweitert sich für uns zu Allem, was wir in ihn hineinzulegen vermögen, und selbst seine schlechte Orthographie scheint uns erhaben.
»Ich bin sehr unwissend, Sie werden über meine Unwissenheit erstaunt sein,« sagte Dorothea. »Ich habe so viele Ideen, die vielleicht ganz falsch sind; und nun werde ich Ihnen alle diese Ideen mitteilen und Sie über dieselben befragen können. Aber,« fügte sie mit einer raschen Würdigung der wahrscheinlichen Empfindungen Casaubon's hinzu, »ich werde Sie nicht zu viel stören, – nur dann, wenn Sie geneigt sein werden, mir zuzuhören. Die anhaltende Beschäftigung mit den Gegenständen Ihres Werks muß Sie ermüden; es wird schon ein reicher Gewinn für mich sein, wenn Sie mich in diese Arbeiten einweihen wollen.«
»Wie sollte ich es wohl von nun an auf irgend einem Gebiete ohne Ihre Gesellschaft aushalten,« erwiderte Herr Casaubon, indem er ihre jungfräulichen Brauen küßte und es empfand, daß der Himmel ihm ein Glück gewährt habe, welches seinen besonderen Bedürfnissen durchaus entsprach. Unbewußt wirkten auf ihn die Reize einer Natur, welcher jede versteckte, sei es auf einen augenblicklichen Effekt, sei es auf entferntere Zwecke abzielende Berechnung völlig fremd war. Das machte Dorothea so kindlich und, nach dem Urteil Einiger, trotz all ihrer viel gerühmten Begabung so beschränkt, wie zum Beispiel in dem vorliegenden Fall, wo sie sich, bildlich gesprochen, Casaubon zu Füßen warf und ihm wie einem protestantischen Papst seine altmodischen Schuhschleifen