Ein ganzes Ja. Luisa Sturm. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Luisa Sturm
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738066098
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      Gott sei Dank ist heute Freitag! Ich liebe Freitage! Zwei freie Tage bis Montag, herrlich! Im Fernsehen kommt dauernd Politik. Das geht schon seit Monaten so. Es geht um den Einigungsvertrag zwischen uns, also der Bundesrepublik Deutschland, und diesen anderen Deutschen, denen aus der DDR. Ich finde es krass, dass die alle 100 DM geschenkt bekommen haben. So viel Geld. Und seltsame Klamotten haben die auch an, sehen irgendwie altmodisch aus. Aber alle Nachbarn sind froh, dass die Mauer weg ist, also beschließe ich auch froh zu sein.

      „Telefon, Becca“, ruft meine Mutter und steckt ihren Kopf in mein Zimmer. Ihre halblangen Locken leuchten in vielen unterschiedlichen Rottönen, als sich die Nachmittagssonne einen Weg durchs Fenster bahnt.

      Wer will denn jetzt noch was von mir? Es ist gleich sieben, und ich stehe mit meiner Schwimmtasche im Gang und warte auf Papa. „Hallo?“, frage ich in den Hörer unseres neuen bordeauxfarbenen Tastentelefons, auf das Mama so stolz ist.

      „Hallo, ich bin’s, Erik.“

      Oh nein, nicht der schon wieder! Ich unterdrücke ein innerliches und äußerliches Stöhnen. „Ja, hallo.“

      „Hey, ich wollte dich fragen, ob du morgen Abend Lust hast, mit mir auf den Michaelimarkt zu gehen. Wir könnten mit dem Rad hinfahren. Laut Wetterbericht soll es morgen schon lau werden.“ Seine Stimme klingt locker und leicht und einladend. Überhaupt nicht so, als ob ich ihn geschlagen hätte.

      Der hat Nerven!

      „Becca, bist du noch dran?“, fragt er und der reine Klang seiner Stimme lässt mich mulmig werden.

      OK, Fakt ist: Er ist ein Idiot. Ein Idiot, der mir völlig gleichgültig ist. Ein Idiot, der viele Mädchen küsst. Ein Idiot, der zwei Jahre älter ist als ich. Ein Idiot, der gerade Jugendmeister im Tennis geworden ist. Ein Idiot, der gleich nebenan wohnt. Ein Idiot, der wahnsinnig toll aussieht. Ein Idiot, der mir liebenswerterweise einen Regenschirm angeboten hat. Ein gut gebauter Idiot, der stundenlang für andere Umzugskisten schleppt. Ein extrem cooler Idiot mit warmen, braunen Augen und einer kleinen Narbe auf der Nase, die …

      „Ja, äh … das müsste klappen. Um wie viel Uhr?“ Ist das etwa meine Stimme? Oh nein, ich habe gerade zugesagt!

      „Super, ich hole dich gegen 18 Uhr ab, wenn es dir recht ist.“

      „Ja, 18 Uhr ist super. Ist meine Lieblingsuhrzeit.“

      „Dann bis morgen“, sagt er souverän und legt auf. Funken zünden in meinem Unterbauch.

      Ich fasse mir an die Stirn. Wie bescheuert! Lieblingsuhrzeit! Was rede ich nur für einen hirnverbrannten Stuss? Wie konnte ich nur zusagen?

      Papa kommt aus dem kleinen Klo. Seiner Raucherhöhle, der einzige Ort, an dem Mama ihm erlaubt hat, seine Pfeife mit Kirschtabak zu schmauchen, zusammen mit der intensiven Lektüre von Donald Duck-Heften. Er legt mir fürsorglich die Hand auf die Schulter. „Was ist mit dir los? Hast du Fieber? Geht’s dir nicht gut? Sollen wir das Training heute ausfallen lassen?“

      Ja, am liebsten schon! Wie soll ich jetzt noch 200 Bahnen schwimmen? Mein Herz klopft rasend gegen meine Rippen, genauso wie am Startblock vor den 200 Meter Schmetterling, meiner Angststrecke. Meine Knie sind geleeweich. „Nein, alles in Ordnung. Wir können los, Papa. Andiamo.“ Gott, nichts ist in Ordnung, überhaupt nichts!

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      „Mama, woher weiß man eigentlich, dass man sich verliebt hat?“

      Meine Mutter schiebt die Zeitung zur Seite und blickt mich schief an. Ihre Locken berühren ihre Schultern, und sie steckt sie hinter ein Ohr. Mama ist wie immer dezent geschminkt, was schön zu ihrem blassen, sommersprossigen Teint passt. Sie ist sehr schlank und sieht viel jünger aus als 36. Oft wird sie für meine große Schwester gehalten. Wie üblich ist der runde Esstisch mit einer rosafarbenen Blümchendecke aus abwischbarer Folie bedeckt, die ich furchtbar kitschig finde. Das würde ich ihr natürlich niemals sagen. Ich fahre die Blütenstiele auf der Tischdecke mit dem Zeigefinger nach.

      „Bist du etwa verliebt?“

      „Ich? Nein! Niemals! Ich finde alle Jungs ziemlich doof. Ich frage nur wegen … wegen … Bille … die findet einen Jungen aus der Kollegstufe ganz toll.“

      „Aha, Bille. Also, das mit dem Verliebtsein ist so eine Sache.“

      „Wie war das denn bei dir?“ Es ist das erste Mal, dass ich sie etwas Derartiges frage und ich versuche, so beiläufig wie möglich zu klingen.

      Mama schaut aus dem Erkerfenster und überlegt lange. Ihr Blick hängt irgendwo fest. „Das ist so lange her. Man denkt immerzu an den Menschen. Man bekommt Herzklopfen und man möchte gut dastehen. Also sagt man Dinge, um auf sich aufmerksam zu machen, aber gleichzeitig fühlt man sich unwohl und nervös. Ein komisches Gefühl. Auch im Bauch, so als ob tausend Ameisenarmeen hin- und herwandern.“

      „Wie alt warst du, als du dich das erste Mal verliebt hast?“

      „Oh je, vierzehn glaube ich, so alt wie du jetzt.“

      „Ich bin fünfzehn, Mama!“, protestiere ich.

      „Natürlich.“

      Im Radio singen Roxette „It must have been love“ und ich nehme meinen ganzen Mut zusammen. „Ein paar Leute aus meiner Klasse treffen sich heute auf dem Michaelimarkt. Ich würde gern hingehen. Kann ich?“ OK, nicht ganz die Wahrheit. Eigentlich will sich der coole, gut aussehende Nachbarsjunge mit mir treffen. Eine klitzekleine Abwandlung der Realität, nichts weiter.

      „Klar. Willst du nachher mit dem Rad dorthin fahren?“

      Jetzt ganz gelassen bleiben. Kinn raus. „Wir treffen uns erst um halb sieben“. Ich versuche, meine Stimme klar und tief klingen zu lassen. Eine erwachsene Stimme und keine Kleinmädchenstimme. Ich mag meine Stimme nicht. Sie ist hoch und überhaupt nicht cool. Am schlimmsten ist es, wenn wir uns auf dem Kassettenrekorder aufnehmen. Ich finde es schrecklich, wie ich mich anhöre. Das ist eine Gemeinheit. Bei der Verteilung der schönen Stimmen hat Gott mich eindeutig benachteiligt. Und bei der Körpergröße natürlich.

      „Um halb sieben? Das ist aber sehr spät. Da wird es ja schon bald dunkel.“

      Oh Mann, Mama, das ist ja der Sinn der Sache. „Macht doch nichts. Heute ist Samstag.“

      „Ich weiß nicht, das ist doch recht spät.“

      „Ich bin doch kein Kind mehr. Das ist voll peinlich!“ Ich dachte, ich könnte meine Mutter leichter überreden, aber das war wohl ein Irrtum.

      Überraschend lenkt sie ein. „Na gut, aber nur, wenn du nicht alleine gehst. Kennst du jemanden, der mit dir dorthin radelt?“

      War das ein Ja? Sie hat Papa gar nicht nach seiner Meinung gefragt. Ist sie krank? Egal, jetzt nur nicht nervös werden. „Erik könnte mit mir fahren.“

      Mama wendet sich wieder ihrer Zeitung zu und blättert langsam um. „Na gut. Er scheint ganz in Ordnung zu sein. Du findest ihn nicht mehr blöd, weil er anfangs so komisch war?“

      „Er ist nicht so doof, wie ich zuerst dachte.“ Das hoffe ich zumindest stark!

      „In Ordnung.“

      Ich freue mich und könnte durch die Küche hüpfen wie ein Flummi, zwinge mich aber, ruhig und gelassen auszusehen.

      „Um zehn bist du zurück“, sagt Mama.

      Oder fliegen. Ich fliege! Ich fliege in mein Zimmer, direkt vor meinen Kleiderschrank.

      „Viel Spaß! Und kommt pünktlich“, ruft meine Mutter aus dem Hintergrund. Himmel! Es ist schon halb sechs. Nur noch eine halbe Stunde und ich habe meine Wimpern noch nicht getuscht! Und ich habe keine Ahnung, was ich anziehen soll!

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      Es dämmert schon, als Erik und ich gemeinsam mit unseren