»Also, hier läuft das Förderband, das mit Kohle beladen ist. Über Bandberg II und die Hauptstrecke kommt sie dann in den Kohlenbunker 3 auf Sohle fünf, von dort auf das nächste Förderband, das bis zum Warndtschacht auf die vierte Sohle führt«, erklärte Remmark. »Genauso – also über die Bänder – können auch die Kameraden zum Warndt gelangen, was wir aber kaum noch machen, weil die Fahrt unter Tage viel länger dauert als über Tage. Es sei denn, die Seilfahrt in Velsen ist blockiert – so wie jetzt.«
»Aber wir wollen zum Gustavschacht«, stellte die Staatsanwältin klar. »Denn dort ist es passiert.«
»Wir fahren mit dem Zug, weil es ein gutes Stück von hier entfernt ist«, sagte Remmark.
Doch Schnur lehnte ab. Seine Klaustrophobie machte ihm ohnehin zu schaffen. Sein Herz klopfte in seiner Brust. Die Luft wurde knapp. Überall, wo er hinschaute, sah er nur finstere Gänge, die schwach ausgeleuchtet waren. Der Gedanke, wieder in die enge Kabine des Personenzuges zu steigen, machte alles nur noch schlimmer.
»Ich schlage vor, wir gehen zu Fuß«, sagte er und legte so viel Entschlossenheit in seine Stimme, wie es ihm in dieser Situation möglich war. »Sollte ein Kampf stattgefunden haben, könnte es sein, dass wir auf Spuren stoßen.«
»Wie Sie meinen«, brummte Remmark und marschierte los.
Sie entfernten sich immer weiter von der Abstiegsstelle, bis es still wurde. Nur ihre eigenen Schritte und ihr Schnaufen waren in dem düsteren Gang zu hören.
»Hier ist es verdammt leise«, stellte Schnur nach einer Weile fest. »Und finster.«
»Hier wird an den Stellen an Material und Strom gespart, an denen nicht mehr gearbeitet wird.«
»Heißt das, dass hier sämtliche Kohle bereits abgebaut ist?«, fragte Schnur.
Remmark nestelte an seiner Jackentasche, fischte etwas heraus, was er sich in den Mund schob, und antwortete: »Hier ist kein weiterer Abbau mehr geplant. Aus und vorbei! Kohle ist hier im Erdreich noch mehr als genug zu finden.«
Schnur spürte, dass er das Thema falsch angepackt hatte. Der Abbaustopp war bei den Bergleuten nicht auf große Freude gestoßen.
»Sie ahnen ja gar nicht, wie viele hunderttausend Tonnen Kohle hier unter der Erde noch schlummern. Dafür bräuchte man Tausende von Bergleuten und mehrere Hundert Jahre Zeit, um das alles abzubauen.«
»Das glaube ich Ihnen«, versuchte Schnur umzuschwenken. »Aber deshalb sind wir nicht hier.«
»Was glauben Sie, wie die Stimmung hier unten ist?«, brüllte Remmark weiter, als hätte Schnur nichts gesagt. »Abbaustopp! Wenn es nicht so traurig wäre, würde ich lachen. Die Länder wollen keine Subventionen mehr für den Abbau von Kohle bezahlen und faseln uns etwas von CO²-Ausstoß und Klimawandel. Und warum?«
»Die faseln nicht nur etwas von CO²-Ausstoß, die Umweltbelastung ist eine Tatsache«, mischte sich nun die Staatsanwältin ein. »Das Verbrennen von Steinkohle setzt nun mal CO² frei, sodass es sich in der Atmosphäre anreichern kann und das Klima erwärmt. Viele Millionen Tonnen CO² wurden dadurch schon freigesetzt. Selbst das modernste Kohlekraftwerk stößt im Vergleich zu einem Gaskraftwerk doppelt so viel CO² aus. Klimaschutz ist mit Bergbau unmöglich.«
Remmarks Stimme ging in ein wütendes Brüllen über, als er widersprach: »Das ist doch alles Blödsinn! Wie gewohnt schießt unsere Regierung über das Ziel weit hinaus. Auf nationaler Ebene hat sie bis 2005 bereits eine 25-prozentige Minderung an CO²-Emissionen in Deutschland erreicht. Trotz Bergbau oder besser gesagt mit Bergbau. Glauben Sie mir, es ist ein großer Fehler, alle Gruben zu schließen und absaufen zu lassen. Was würde das ändern? Selbst eine Abschaltung aller deutschen Kohlekraftwerke wird den CO²-Anstieg nur minimal verlangsamen. Man glaubt es nicht, aber der weltweite Anstieg der Energieerzeugung durch Kohle lässt die gewonnene CO²-Reduzierung schnell wieder verschwinden.«
»Ihre Verteidigung des Kohleabbaus kann ich verstehen«, gab Ann-Kathrin zu. »Es ist jedoch eine unbestrittene Tatsache, dass trotz Ihrer Beteuerungen bisher keine Lösung für das Klimaproblem gefunden wurde. Der Versuch, in Kraftwerken das bei der Verbrennung fossiler Energien entstehende CO² aufzufangen und in geologischen Lagerstätten zu speichern, scheitert daran, dass diese Speicherung sehr viel Energie verbraucht, für die wiederum umso mehr Kohle verbrannt werden muss. Damit nimmt die Gesamtbelastung durch den Bergbau zu – und nicht ab. Es nützt alles nichts! Die Ursachen des Klimawandels müssen bekämpft werden.«
»Es gibt inzwischen schon neue Kraftwerkstechnologien, die eine deutlich reduzierte CO²-Belastung möglich machen. Man sollte uns einfach nur die Zeit geben, weiter an dieser Entwicklung zu arbeiten. Aber nein, die Regierung beschließt, diese Gruben zuzuschütten – also werden sie zugeschüttet. Dann ist es aus und vorbei mit dem Kohleabbau im Saarland.« Remmark schnaubte wie ein Pferd. »Was glauben Sie, was die uns mit dem endgültigen Abbaustopp antun? Woher bekommen wir in Zukunft unsere Energie? Es ist doch jetzt schon so, dass wir alles teuer von den Scheichs und Russen kaufen, damit wir heizen können. Dabei haben wir das beste Material für Wärme und Energie zu Hause im eigenen Boden.«
»Hinzu kommen die Bergsenkungen …«, setzte die Staatsanwältin erneut mit Gegenargumenten an. Aber auch dagegen schien der Steiger immun zu sein. Er sprach einfach weiter: »Andere Länder bauen doch auch Kohle ab. Und nicht nur ein bisschen, sondern gehen in die Vollen, damit wir denen hinterher die Kohle wieder teuer abkaufen. Hinzu kommt, dass ein Verzicht auf Steinkohle aus dem eigenen Land keinen Nutzen fürs Klima bringt. Die Importkohle kommt nämlich aus weniger umweltschonender Produktion, womit wir die Gesamtbelastung letztendlich doch nur weiter in die Höhe treiben. Ein erheblicher Gewinn für die Umwelt wäre, alle Kohlekraftwerke der Welt mit deutscher Spitzentechnik für Kraftwerke auszustatten. Aber nein! Wir begraben unsere Technik und unseren Fortschritt.« Remmark schob sich ein neues Stück Kautabak in den Mund. »Und was tun wir, wenn die Preise für Gas und Öl unbezahlbar geworden sind? Neue Gruben schaufeln?«
»Die Deutsche Kohle hat sich doch in den letzten Jahren nur noch durch Subventionen halten können. Sogar der Import von Kohle ist für uns billiger als der Abbau im eigenen Land«, argumentierte die Staatsanwältin nun, doch auch damit war Remmark nicht zu überzeugen. Er tippte sich an die Stirn. »Ach was! Irgendwann stehen wir da, können die explodierenden Kosten für die Energie aus dem Ausland nicht mehr tragen und erinnern uns, dass wir doch eigentlich einen eigenen Energieträger haben. Nur wo? Dann ist alles zugeschüttet und begraben worden. Es würde zwanzig Jahre dauern, um wieder an den Stand heranzukommen, den wir jetzt haben. Und wie schwer es wäre, dann wieder von vorne anzufangen! Diese Arbeit können nur Männer machen, die das richtig gelernt haben. Mit dem iPod oder Laptop in der Hand holt keiner die Kohle nach oben. Da sind schwere, körperliche Arbeit und Fachwissen gefragt. Da muss man vom bequemen Stuhl aufstehen, runter unter Tage fahren und ranklotzen.« Remmark schnappte nach Luft. »Alle unsere Fertigkeiten, unsere Technik, unsere Standorte – all das, was in die Entwicklung gesteckt wurde, um den heutigen Standard zu erreichen. Das alles zerstören wir innerhalb von wenigen Wochen, weil die Politiker das so entschieden haben. Mal sehen, wie lange es dauert, bis die merken, dass Atomkraftwerke viel gefährlicher sind.«
Remmark spuckte eine braune Masse direkt neben Ann-Kathrins Füßen auf den Boden.
Die Staatsanwältin beachtete diese Geste nicht. Sie wusste, dass die Bergmänner anstatt zu rauchen Kautabak zerkauten und wieder ausspuckten. Sie hatte außerdem keine Lust mehr, mit diesem Mann über politische Entscheidungen zu diskutieren, weil Remmark resistent gegen ihre Argumente war. Sie ging weiter und schaute sich um. Die Verschachtelungen unter Tage, die Löcher, in denen alles im schwarzen Nichts verschwand, all das erregte ihr Interesse weitaus mehr als ein querköpfiger Hitzkopf. Höhlen waren schon immer ihre Leidenschaft gewesen. Und wenn sie es sich genau anschaute, hatte eine Grube einen gewissen Höhlencharakter.
Plötzlich stieß sie auf eine Stahltür. Sie trat darauf zu und fragte: »Was ist hinter dieser Tür?«
»Eine alte Gezähekammer.«
»Was ist eine Gezähekammer?« Ann-Kathrin stutzte.
»Eine