Sie erreichten den Schacht, doch von Peter Dempler keine Spur.
Plötzlich ertönte das Signal für die Seilfahrt.
Wie aus dem Nichts tauchten von allen Seiten die Männer auf und schrien: »Was ist hier los?« – »Fährt der Korb wieder?« – »Wollen die da oben uns verarschen? Wir sollten doch im Warndt ausfahren, oder?«
Bonhoff gesellte sich unauffällig dazu und brüllte mit. Erleichtert stellte er fest, dass weder Remmark noch Tremante bemerkt hatten, dass er ihr Gespräch mitgehört hatte.
*
Langsam wurde die Arbeitsbühne angehoben. Schnur wechselte einen Blick mit dem Gerichtsmediziner, der sich ebenfalls verkrampft am Geländer festhielt, während sie immer höher und höher fuhren. Nebel stand in der Luft, sodass ihre Sicht lediglich über das Grubengelände reichte, auf dem alles in trostlosem Grau, Braun und Schwarz schimmerte.
Endlich gelangten sie an die Seilscheibe am oberen Ende des Förderturms, zu der Stelle, an der der Tote unter dem Stahlseil eingeklemmt war.
Zunächst konnte Schnur nichts einordnen. Dunkelrot, Dunkelgrün und Dunkelbraun vermischt mit Weiß und Gelb, verschlungen mit rostigem Metall und Stahl offenbarten sich vor seinen Augen. Bis er endlich verstand. Der Tote war regelrecht zerquetscht worden, sodass Haut, Knochen, Organe und Fettgewebe an beiden Seiten des Stahlseils auf der Seilscheibe herausquollen.
Dr. Wolbert gab einige Anweisungen, woraufhin die Mitarbeiter des Labors begannen, die Einzelteile behutsam in Säcke zu verstauen. Währenddessen suchten die beiden Kollegen der Spusi den Teil des Stahlseils ab, den sie von ihrem Standort aus erreichen konnten.
Schnur fühlte sich deplatziert. Schon das zweite Mal in dieser kurzen Zeit. Warum stand er in vierzig Metern Höhe – mit Höhenangst – bei einem Toten, der nicht mehr als solcher zu erkennen war? Mit Mühe überwand er sich und stellte Wolbert seine erste Frage: »Kannst du herausfinden, ob das Opfer noch gelebt hat, bevor es zwischen Stahlseil und Seilscheibe geraten ist?«
»Ich denke schon«, antwortete der Gerichtsmediziner. »Das Opfer ist nicht total zerstückelt. Es gibt unversehrte Teile, an denen ich verwertbare Spuren finden kann. Nur …«
»Nur was?«
»Ich finde den Kopf nicht.«
Gleichzeitig mit Wolbert richtete er seinen Blick nach unten. Dort sahen sie die Plane, die von anderen Mitarbeitern der Spurensicherung und dem Labor schon vor einer Weile aufgespannt worden war, um herabfallende Körperteile des Opfers aufzufangen.
»Kann es sein, dass der Kopf des Opfers heruntergefallen ist?«, rief Wolbert gegen den starken Wind an.
Die Männer in ihren Schutzanzügen nickten. Einer hob einen viereckigen Behälter hoch. Wolbert zeigte ihnen den erhobenen Daumen und sagte zu Schnur: »Damit besteht eine gute Chance, herauszufinden, was kurz vor dem Tod des Opfers passiert ist.«
»Wenigstens etwas.«
»Außerdem sind beide Hände unversehrt«, sprach Wolbert weiter und drehte sich zu den Resten um, die gerade sicher verwahrt wurden. »Eine steckt noch im Handschuh. Die andere ist frei. Die werden wir sofort sichern.« Er wollte Schnur die besagten Teile zeigen, doch der Kommissariatsleiter winkte hastig ab und sagte: »Das ist gut. Dann können wir vielleicht feststellen, ob es sich um einen Unfall oder um Mord handelt.«
»Unfall halte ich fast für unmöglich«, gab Wolbert zu bedenken. »Es sei denn, er hat sich in dem Seil verfangen und wurde sofort bewusstlos.«
»Kann man sich unter Tage einfach so in einem Seil verfangen, das einen Aufzug zieht?«
»Keine Ahnung«, gestand Wolbert. »Ich bin Gerichtsmediziner. Kein Bergmann.«
»Problem Nummer eins, das wir hier haben«, knurrte Schnur mürrisch, »denn ich bin Kriminalkommissar und auch kein Bergmann. Mal sehen, wie viele Probleme in diesem Fall noch auftauchen.«
Eine laute Sirene ertönte. Vor Schreck wäre Schnur fast aus dem Korb gefallen. Erst als er wieder aufsah, erkannte er den Grund für den Lärm. Das Stahlseil wurde weiter angezogen.
»Warum warten die nicht, bis wir wieder unten sind?«, brüllte er wütend.
»Weil wir alles von dem Toten mitnehmen müssen. Auch das, was unter dem Seil eingeklemmt ist.«
Fröstelnd schaute Schnur weg und beobachtete, wie die Kollegen in luftiger Höhe an dem Stahlseil nach Spuren suchten. Es sah an dieser Stelle beschädigt aus. Aber er konnte sich keine Gedanken darum machen, weil er spürte, wie ihm schwindelig wurde. Hastig richtete er seinen Blick nach unten. Sofort verging das Schwindelgefühl wieder. Aus dieser Höhe sahen die Häuser und die Menschen unter ihm klein aus. Deutlich konnte er die Anordnung der verschiedenen Gebäude erkennen, die alle zur Grube Velsen gehören – oder mal gehört haben. Ein freier Platz hob sich deutlich vom Rest der Umgebung ab. Dort stand früher eine riesige Halle für die Kohlenwäsche, die nach der teilweisen Stilllegung der Anlage abgerissen worden war. Von oben sah es wie eine klaffende Wunde aus. Er drehte sich von dem schwarzen, trostlos aussehenden Stück Land weg und schaute in die Richtung, in der sich die vielen Hallen aneinanderreihten. Hinter der leer stehenden Maschinenhalle befand sich inzwischen eine Müllverbrennungsanlage, deren Bau lange umstritten war. Jetzt nahm sie hier den größten Platz des ehemaligen Grubengeländes ein. Große Müllwagen fuhren ständig auf das Gelände und wieder herunter. Sein Blick wanderte weiter über das ehemalige Zechenhaus und die Waschkaue bis hin zu dem Berg, in dem inzwischen ein Besucherbergwerk untergebracht war. In diesen Berg waren Stollen und Schächte getrieben worden, um junge, angehende Bergleute auf die Arbeit unter Tage vorzubereiten. Schnur bedauerte, dass er dieses Bergwerk nicht schon längst besucht hatte. Ein bisschen Fachwissen über die Arbeit unter Tage würde seinen Ermittlungen in dem Fall bestimmt nicht schaden. Was sich über Tage befand, wusste er in etwa, weil er oft genug an der Grube Velsen vorbeigefahren war. Doch die Welt darunter war ihm fremd. Er sah die sogenannte Kaffeeküche, wo die Bergleute mit deftigem Essen verköstigt wurden. Dort wäre er jetzt lieber – anstatt in vierzig Metern Höhe.
Er beobachtete, wie mehrere Autos in hohem Tempo auf das Grubengelände einbogen.
Das sah nicht gut aus.
Hastig rief er: »Hat jemand ein Fernglas?«
Der Mann direkt neben ihm reichte ihm eins. Aus den Wagen stiegen Bergmänner. Aufgrund des gesperrten Gustavschachts hatten sie über den Warndtschacht über Tage fahren müssen. Eigentlich kein besonderer Aufwand, weil dort ihre Autos parkten. Doch die Neugier trieb sie zurück nach Velsen. Das hektische Treiben machte Schnur nervös.
»Ich muss sofort da runter«, rief er.
»Keine Panik«, versuchte Wolbert zu beruhigen, doch Schnur erklärte ihm: »Dort unten gibt es jetzt Ärger. Und ich bin dafür verantwortlich zu entscheiden, ob wir es hier mit einem Unfall oder einem Verbrechen zu tun haben.«
»Und was willst du ihnen sagen?«
»Das, was du mir jetzt sagst«, entgegnete Schnur. »Was ist das hier? Unfall, Selbstmord oder gar Mord?«
»Ich kann es wirklich erst sagen, wenn ich die Einzelteile seziert habe«, antwortete Wolbert ausweichend.
»Aber einen Eindruck hast du doch schon. Oder?«
Wolbert zögerte, während die Bühne langsam nach unten fuhr. Erst als sie auf dem sicheren Boden aufsetzten, sagte er: »Die Überreste des Toten sagen etwas darüber aus, in welcher Position er am Seil hing: mit herunterhängenden Armen.«
»Was sagt dir das?«
»Dass ihn irgendjemand an diesem Seil fixiert hat, als er bewegungsunfähig war.«
»Das schließt Selbstmord also aus?«
»Ja. Für mich deutet das, was wir bisher wissen, auf Mord hin.«
*
Je näher Schnur den Menschen kam, umso lauter hörte er das Geschrei. Es klang