Kullmann unter Tage. Elke Schwab. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Elke Schwab
Издательство: Bookwire
Серия: Kullmann-Reihe
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750237308
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hustete und krächzte weiter: »Der Abstand zwischen dem Toten und dem Fahrstuhl …«

      »… Korb …«

      »… war dafür viel zu groß.«

      »Wie groß?«, hakte Remmark nach.

      »Nach den Messungen der Spusi beträgt der Abstand zweihundertfünfzig Meter.«

      Remmark zog seinen Helm aus und kratzte sich am Kopf. Seine grauen Haare lagen wie ein lockiger Kranz um die kahle Stelle an seinem Hinterkopf. Er schwieg eine Weile. Nur die Geräusche einiger entfernter Maschinen und der starke Luftzug der Bewetterung waren zu hören. Dann meinte er: »Okay! Ich habe eine Idee, wie es passiert sein könnte.«

      »Wie?«

      »Pitt hatte mir schon gleich morgens im Zechensaal kurz vor der Anfahrt zu verstehen gegeben, dass er sich nicht wohlfühlt. Ich wollte ihn heimschicken, aber er meinte, es sei nicht so schlimm. Vermutlich wurde es dann doch zu einer ernsten Sache und er ist über Bandberg II zur fünften Sohle hochgefahren.«

      »Vermutlich? Sie wissen also nicht, was Ihre Leute so während der Schicht treiben?«, hakte Schnur nach.

      »Doch! Auf die Jungs ist Verlass«, beharrte Remmark. »Wenn Pitt wirklich zur fünften Sohle gefahren ist, ohne sich bei mir abzumelden, dann hat er einem seiner Kameraden Bescheid gesagt.«

      »Aber der Kollege müsste diese Mitteilung doch an Sie weitergeben!« Schnur spürte, dass hier etwas nicht stimmte.

      »Kann sein, dass derjenige es vergessen hat. Ich habe mich schon umgehört, aber bis jetzt hat mir keiner bestätigt, dass Pitt sich bei ihm abgemeldet hätte.«

      »Okay.« Schnur winkte ab. »Und mit welchem Gerät ist Dempler auf die fünfte Sohle gekommen? Das Wort habe ich eben nicht richtig verstanden.«

      »Bandberg II.«

      »Was ist das?«

      »Damit meine ich einen schräg nach oben führenden Stollen mit einem Förderband, das die Kohle von der sechsten Sohle zur fünften Sohle fährt, weil sie nur von dort weiter bis zum Warndtschacht transportiert werden kann.«

      »Wie kommen wir dorthin?«

      Remmark ging die Hälfte der Strecke zurück, die sie gerade gekommen waren. Dort sahen sie, wie die Kohle, die eben noch im Streb abgebaut worden war, auf Förderbändern durch einen engen Tunnel nach oben transportiert wurde.

      »Hier beginnt der Bandberg II. Er führt zur fünften Sohle in Richtung Warndtschacht.«

      »Aber der Mann kam aus dem Schacht in Velsen.«

      »Entweder wir nehmen jetzt den Weg, den Pitt aller Wahrscheinlichkeit nach genommen hat, oder wir fahren wieder über Tage«, brummte Remmark genervt.

      Der Anblick des düsteren Tunnels, dessen Beleuchtung mehr als spärlich ausfiel, löste Atemnot bei dem Kommissar aus. In dieser Enge lief das Band in zügiger Geschwindigkeit und war mit schwarzem Gestein beladen.

      »Wie weit ist es bis zur fünften Sohle?«, fragte Schnur weiter.

      »Etwa 1200 Meter. Ein Katzensprung.«

      »Ich habe wohl keine andere Wahl.« Schnur rieb sich nervös über sein Kinn. »Schließlich müssen wir herausfinden, was hier unten passiert ist.«

      Über eine Leiter gelangten sie zur Aufstiegsstelle des Bandes, sprangen auf und eine rasante Fahrt nach oben begann. Schnur spürte, wie ihm die Luft wegblieb. Die Seiten schienen immer näher zu rücken. Er warf einen fragenden Blick auf die Staatsanwältin, doch Ann-Kathrin Kramer wirkte eher amüsiert als beängstigt.

      »Alles ok?«, fragte Remmark.

      »Und wie!«, gab die Staatsanwältin zurück.

      *

      Andrea Westrich unterdrückte ein Fluchen, als sie sich Paolo Tremantes Bemühungen ausgesetzt sah, sich bei ihr einzuschmeicheln. Seine schwarzen Haare lagen ordentlich gekämmt. Graumelierte Schläfen verliehen ihm etwas Seriöses. Den ersten Eindruck, den sie von ihm gewonnen hatte, musste sie jedoch schnell korrigieren. Seine Sprüche waren mehr als trivial, seine Selbstsicherheit wirkte lächerlich.

      Sie schüttelte energisch ihren Kopf. »Ich bin Polizeibeamtin und bitte Sie, auf Distanz zu bleiben.«

      »Schöne Frau«, sprach er mit einer Betonung, die Andrea auf die Palme brachte. »Warum haben Sie so einen unschönen Beruf?«

      »Das geht Sie nichts an!« Andrea setzte einen Blick auf, der den kleinen, drahtigen Mann in seine Schranken wies.

      »Amore!«, riefen einige Kameraden belustigt, die das Schauspiel beobachtet hatten. »Lässt du wieder deinen Charme spielen?«

      Tremante winkte ab und lächelte die Kriminalistin ergeben an.

      »Was macht Sie so sicher, dass der Tote Ihr Kollege Peter Dempler ist?«

      »Guarda, Bella Donna«, begann Tremante, woraufhin Andrea ihn sofort unterbrach und sagte: »Auf Deutsch bitte!«

      »Scusa, bella mia!« Er faltete beide Hände und verbeugte sich leicht vor ihr. »Er ist mit uns runtergefahren, doch dann hat ihn niemand mehr gesehen. Auch als wir nach der Schicht hochgefahren sind – heute im Warndt, Sie wissen schon warum – war er nicht dabei.«

      »Kann es nicht sein, dass er mit einer anderen Gruppe von Männern gefahren ist?« Andrea schaute sich um und sah, dass sich der Platz mehr und mehr mit Bergleuten füllte, das Stimmengewirr wurde immer lauter und die Stimmung aggressiver. »Wie ich sehe, arbeiten hier sehr viele. Da kann sich doch einer schon mal in eine andere Gruppe verlaufen.«

      »Niemals! Wir fahren mit unserer Partie zusammen runter und nach der Schicht wieder rauf.« Tremante schüttelte energisch den Kopf.

      »Partie?«

      »Gruppe, Signora. Das ist Bergmannssprache«, antwortete Tremante mit einem Lächeln. »Partie heißt Gruppe.«

      »Also könnte Peter Dempler auch mit einer anderen Partie über Tage gefahren sein.«

      »No Signora! Glauben Sie mir, es hat unseren Kameraden erwischt. Povero Ragazzo!«, erklärte Tremante mit weinerlicher Stimme. »Seine Lampe und seine Fahrmarke hat er noch nicht zurückgegeben. Fragen Sie doch in der Lampenstube nach!«

      »Hatte Dempler mit jemandem Streit unter Tage?«

      »No no! Sempre il bene. Er wollte immer, dass alle gut miteinander sind. Niemals würde er streiten.«

      Andrea blickte ihn misstrauisch an. Sie überlegte, ob das eine Masche des Italieners war, oder ob er ernsthaft glaubte, was er sagte. Der sentimentale Ausdruck in seinem Gesicht war so plötzlich gekommen, dass sie Schauspielerei dahinter vermutete.

      »Warum hat er sich dann von seiner eigenen Partie getrennt?«

      »Se sapessimo! Wenn wir das wüssten …« Mit beiden Händen wies Tremante zu der Stelle am Förderturm, an der der Tote geborgen worden war, und fügte an: »Wir können ihn nicht mehr fragen.«

      Andrea war sich sicher, dass dieser Mann ihr etwas vorspielte.

      *

      Am oberen Ende des Förderbandes sprangen sie nacheinander vom Band.

      Jürgen Schnur stöhnte, als er sein Gleichgewicht wiederfand. »Warum tu ich mir das an?«

      Ann-Kathrin lachte und meinte: »Sag nur, du hast als Kind keine solchen Sachen gemacht?«

      »Welche Sachen?«

      »Auf fahrende Züge aufspringen und wieder abspringen. Auf ein Fahrstuhldach springen, während die Kabine in die Tiefe geht.«

      Schnur schaute die Staatsanwältin an, als würde er sie zum ersten Mal sehen. Ihr Gesicht war kohleverschmiert. Einzelne Strähnen ihrer roten Haare kamen unter dem Helm zum Vorschein und schimmerten ebenfalls schwarz.

      Sie schauten sich um und erkannten schnell, dass es auf der