Blut für Gold. Billy Remie. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Billy Remie
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752923964
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den verriegelten Türen zu vernehmen. Nebenan gab es Ausstellungen und tatsächlich hingen dort noch einige Bilder an den Wänden oder lagen rahmenlos auf dem Boden. Das Einzige, was die Plünderer interessiert hatte, war Brennholz. Die anderen Läden waren leer, keine einzige Flasche Scotch, kein einziger verfaulter Apfel, keine Konserven und kein Fetzen Stoff, selbst die Vorhänge der Bühnen in den Theatersälen waren abgerissen worden. Darcar fand rein gar nichts Nützliches mehr. Auch kein Öl für ihre Lampe.

      Er wusste nicht, was schlimmer war. Die Angst, der Durst oder die Kälte. Alles nagte grässlich an ihm, wie eine unsichtbare Krähe, die ein Loch in seine Brust pickte und ihn bei lebendigem Leibe auffraß.

      Das Viertel besaß auch einen Marktplatz. Der runde Hof erstreckte sich mehrere hundert Fuß weit vor einem wichtig aussehenden Gebäude, dessen Säulen eingestürzt waren. Eine der großen Banken, ihre Türen waren verrammelt, ein Skelett lag auf den Stufen, eine Hand flehend ausgestreckt. Der Unglückliche war auf der Flucht gewesen, ermordet und dann bis auf die Knochen ausgeraubt worden.

      Darcar überkam ein beklemmendes Gefühl, er zog den Mantel enger und ging weiter.

      Unweit des Marktplatzes vernahm er Stimmen. Dunkles Gelächter. Instinktiv versteckte er sich in einem Hauseingang, der in einer engen Sackgasse lag, und lauschte. Er konnte kein Wort verstehen, die Geräuschverursacher waren zu weit entfernt, schienen aber auch nicht näher zu kommen. Sie bewegten sich nicht.

      Vorsichtig schälte er sich aus dem Schatten und schlich nahe an der Wand entlang zur Straße. Er folgte den Lauten. Es waren Jungen. Vielleicht in seinem Alter, einer war im Stimmbruch, sein dreckiges Lachen klang sehr kratzig, heiser. Als hätte er eine Angina. Die anderen klangen heller, fast mädchenhaft.

      Je näher er kam, je deutlicher konnte er sie verstehen. Er lauschte, während er unter einem schiefhängenden Wellblech stehen blieb und der eisige Wind ihm unter den Mantel zog.

      »Der Kleine hat so geheult, sag ich euch, aber noch mehr, als Henning fertig war.«

      »Geschieht ihm recht«, meinte ein anderer mit so heller Stimmer, dass Darcar ihn beinahe für ein Mädchen gehalten hätte. »Er hätte Henning eben nicht bestehlen dürfen.«

      »Dafür hat er eine schöne, warme Mahlzeit direkt in den Arsch bekommen«, sagte eine dritte Stimme hämisch.

      Sie lachten widerwärtig.

      Darcar wusste nicht, worüber sie sprachen, es war ihm auch vollkommen gleich. Er wollte es gar nicht so genau wissen. Aber als er um die Ecke spähte, entdeckte er einen kleinen Brunnen, auf dessen Rand Karten gespielt wurde. Auch ein Eimer stand dort. Die drei Jungen waren nicht viel älter als er, siebzehn vielleicht, fettige Haare, löchrige Lumpen, die aussahen, als hätten sie sie aus Stofffetzen selbst genäht. Ihre Schuhe waren derart zerflattert, dass blaue Zehen zu sehen waren. Sie rauchten selbstgedrehte Zigaretten, der Tabakgeruch hing trotz des Windes schwer in der Luft, und eine durchsichtige Flasche mit eindeutig Selbstgebranntem stand bei ihnen. In der Flüssigkeit schwammen sogar noch Obststücke.

      Es gab also Obst, frische Lebensmittel. Und es gab Wasser.

      Woher hatten sie das?

      Darcars Herz raste angesichts seiner Entdeckung, Hoffnung keimte auf. Es gab hier Essen und es gab zu Trinken, die Frage war nur, wo es all das gab und wie er daran kommen würde.

      Er war nicht dumm, er sah auf den ersten Blick, dass die drei nicht nur dort saßen, um sich nett zu unterhalten. Sie bewachten den Brunnen. Und sie hatten selbstgebaute Knüppel aus Holzlatten und rostigen Nägeln bei sich. Griffbereit.

      Es waren drei. Selbst wenn Darcar bewaffnet gewesen wäre und sie überrascht hätte, wäre es Selbstmord. Sein Vater hatte ihm auf dem Schießstand das Zielen mit Schusswaffen beigebracht, aber er hatte keinen Revolver bei sich, nicht einmal sein Messer. Das hatte er bei Veland gelassen.

      Darcar fiel es schwer, aber am Ende siegte die Vernunft, und er wandte sich ab, um zu gehen. Dabei knirschten kleine Steinchen im Frost unter seinen Stiefeln. Er hielt inne und biss innerlich fluchend die Zähne zusammen.

      »Was war das?«, fragte der im Stimmbruch sogleich.

      Darcar wartete gar nicht erst solange ab, bis sie nachsehen kamen, er huschte auf Zehenspitzen in die nächste enge Gasse und sprang über eine niedrige Mauer, um schleunigst zu verschwinden. Auch, wenn er nun nicht mehr wusste, wie er zurück zur Bibliothek gelangte.

      *~*~*

      Er fand die Hauptstraße wieder, aber er wollte sie nicht entlang gehen und riskieren, entdeckt zu werden. Es wurde dunkler, die graue Dämmerung wich einem langen Schatten, der sich wie ein Monster immer schneller über den Boden bewegte und alles verschlang. Und mit der Dunkelheit, kam Leben in die Stadt. Darcar hörte überall Stimmen und Poltern, als die Ratten aus ihren Löchern krochen. Die geisterhafte Stille wurde von dreckigem Gelächter und wütendem Gebrüll vertrieben.

      Warum sie erst nachts herauskamen, wusste er nicht. Aber er bereute es bereits, Veland allein zurückgelassen zu haben. So irrsinnig es klang, die gespenstische Ruhe in den Straßen hatte ihm Sicherheit vorgegaukelt. Nun konnte er förmlich zusehen, wie sich Lichter und Leben aus dem Untergrund erhob.

      Er musste ihnen ausweichen, um nicht entdeckt zu werden. Darcar war kein Dieb, kein Straßenjunge, er hatte sich nie verstecken oder vor irgendetwas davonlaufen müssen, außer vor seinem kleinen Bruder, wenn sie im Haus gespielt hatten. Doch das war etwas anderes als dieser Spießrutenlauf durch die fremden Häuserblöcke, während ihm das Herz bis zum Hals schlug und die Kälte ihm langsam Zehen und Fingerspitzen abfraß. Er kam sich blind vor, obwohl er bestens sehen konnte, seine Augen hatten sich sogar an die Dunkelheit gewöhnt, doch er kannte dieses Viertel nicht. Immer wieder musste er umdrehen, in eine Gasse einbiegen, wieder umdrehen, sich in engen Ritzen oder Trümmern verstecken, bis die Fremden vorbeigelaufen waren, oder über Gitter klettern, ohne zu wissen, wohin ihn sein Weg führte und auf was er als Nächstes treffen würde.

      Natürlich hatte er überlegt, sich ihnen zu zeigen, doch er war nicht so dumm zu glauben, dass ihm jemand aus reiner Nächstenliebe helfen würde. Niemand landete hier, weil er ein guter Mensch gewesen wäre. Auch wenn die Verbannten in diesem Loch nicht viel älter waren als er, sie kamen im Pulk, und der Wächter hatte sie gewarnt, dass man sie ausrauben würde. Hinzu kamen die gruseligen Geschichten, die man sich über diesen Ort erzählte. Banden von Mördern, die sich gegenseitig jagten wie Vieh. Selbst wenn auch ein Funken Wahrheit in diesen Gruselmärchen steckte, er wollte nichts riskieren. Hier lebten Gesetzlose, Kinder von Verrätern, Dieben und Mördern.

      Mehr musste er nicht wissen, er versuchte, sich fernzuhalten.

      Nur wusste er nicht, wie er unter diesen Umständen zu Veland zurückfinden sollte. Und auch wenn er kein Wasser gefunden hatte, wollte er nichts mehr, als zurück zu seinem kleinen Bruder, um sich zu vergewissern, dass niemand ihn entdeckt hatte. Er schalt sich einen Dummkopf, ihn allein gelassen zu haben. Die Angst um ihn war wie ein heißes Messer, das sich langsam immer tiefer in seine Brust bohrte und sein Herz aufschnitt.

      Er musste zurück. Sofort.

      Doch statt sich der Bibliothek zu nähern, hatte er das Gefühl, von ihr weggetrieben zu werden, bis er schließlich an den Rand eines Kanals stolperte. Das stillstehende Wasser war zugefroren, die Oberfläche splitterte wie dünnes Glas, als Darcar aus Versehen darauf trat. Sofort sank sein Fuß ein und es war, als würde er in tausend Nadeln eintauchen. Mit einem erschrockenen Laut zog er den Stiefel wieder hervor. Er wollte gar nicht wissen, wie kalt das Wasser war, wenn es sogar durch seine Schuhe schmerzte.

      Aber es gab Wasser! Am Rande des Viertels.

      Gegenüber dem Kanal lag die hohe Mauer, die das Rattenloch vom Rest der Welt abschottete. Als Darcar das Ungetüm von dieser Seite aus betrachtete, bekam er Heimweh. Ihm wurde in diesem Moment erstmals richtig bewusst, was es bedeutete, verbannt zu sein. Außerhalb dieser Mauer befand sich alles, was er kannte und geliebt hatte, aber all das kannte ihn nicht mehr, wollte ihn nicht mehr. Für den Rest der Stadt existierte er nicht mehr. Er wusste plötzlich, was es bedeutete, vergessen zu sein.

      Er wandte sich von dem