Im Fluss – Seele in Bewegung. Brigitte Romer-Schweers. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Brigitte Romer-Schweers
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783991079538
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Er konnte wunderbar Gedichte rezitieren; vor allem Morgenstern, Ringelnatz und Eugen Roth sind mir in lebhafter Erinnerung. Er liebte das Arbeiten mit Holz und dabei nicht zuletzt die vorausgehende Planung.

      Im Gegensatz zu vielen Männern seiner Generation, hatte er keine Altlasten aus dem Krieg, in dem er zum Piloten ausgebildet wurde. Mit sehr viel Glück – das war ihm immer bewusst – und auf Grund einer Verletzung blieben ihm Ostfront und andere Kampfeinsätze erspart. Im Sommer 1946 konnte er aus französischer Kriegsgefangenschaft fliehen. Aus finanziellen Gründen war es ihm nicht möglich, seiner Leidenschaft für die Fliegerei nach dem Krieg weiter nachzugehen, was er sehr gern getan hätte.

      Meiner Mutter zuliebe konvertierte er, der auf dem Papier katholisch war, zum evangelischen Bekenntnis.

      Sie nämlich stammte aus einem streng protestantischen Elternhaus; die Heirat mit einem „Katholen“ wäre undenkbar gewesen. Die tiefschwarzen Haare meines Vaters nahmen die Schwiegereltern gerade so hin: Der Rassenwahn des Dritten Reiches warf seine Schatten noch bis in die Anfänge der 50er-Jahre.

      Mutter war ein überwiegend positiv gestimmter Mensch, mit viel Liebe zu allem, was lebt, insbesondere zu Kindern. Unerschütterlich in ihrem Glauben verankert, galt es, das Gebot der Nächstenliebe unbedingt zu leben, auch wenn sie den zweiten Teil des Gebotes – „wie dich selbst“ – nicht so wichtig fand. Die Liebe zu alten Kirchenliedern, insbesondere denen von Paul Gerhardt, habe ich sicher von ihr übernommen, und aus meiner frühen Kindheit ist sie mir unentwegt singend in Erinnerung. Sie verfügte außerdem über einen unerschöpflichen Vorrat an humoristischen Sprüchen und Lebensweisheiten, und mit bemerkenswerter Liebe widmete sie sich auch den aus meiner Sicht langweiligsten Tätigkeiten. Als ich sie hingebungsvoll bügeln sah, fragte ich, ob sie das eigentlich gerne mache. (Ich fand Bügeln überflüssig und öde.) „Ach, weißt du“ – so begannen viele ihrer Antworten –, sagte sie: „Ich habe gelernt, dass mir alles viel leichter fällt, wenn ich mich dafür entscheide, es gern zu tun.“

      Sie hat sich die Nöte der ihr vertrauten und anvertrauten Menschen immer ausgesprochen empathisch zu Herzen genommen und ich bin sicher, dass sie – kurz vor ihrem 80. Geburtstag – am Broken-Heart-Syndrom starb. Einer ihrer letzten Sätze zu mir, zwei Wochen vor ihrem Tod, war, bezogen auf einen ihr sehr vertrauten Menschen, um den sie sich sorgte: „Ich bin froh, dass R. dich hat und du musst mir versprechen, immer für sie da zu sein.“ Zwischen den Zeilen schwang ein „Ich kann es nämlich (bald) nicht mehr“ mit. Dieses Versprechen hat mir übrigens lange viel Druck gemacht, bis ich irgendwann die Verantwortung an R. selbst zurückgeben konnte.

      Diese beiden Menschen, meine Eltern, hatten ihre ganz eigenen Vorstellungen von Kindererziehung – anders, als ich das bei den Eltern Gleichaltriger erlebte. Ich kann mich nur an wenige ausgesprochene Ge- oder Verbote erinnern. Genauso wenig an Drohungen, Strafen, Drängen in eine schulische oder berufliche Richtung usw. Selten wurden Grenzen mit Worten benannt; ausgesprochen wurde allenfalls, dass uns nicht interessieren, im Sinne von beeinflussen, sollte, was andere machen oder denken.

      Gewalt war kein Thema. Auch nicht getarnt als Erpressung, Bestechung oder Verführung. Es herrschte eine freundliche, wohlwollende Atmosphäre, und es gab durchaus den Raum dafür, sich auszuprobieren, eigene Lösungsmöglichkeiten zu finden und damit Selbstwirksamkeit zu erfahren, zumindest innerhalb bestimmter, wenn auch nie benannter Grenzen; es wurde viel (vor-)gelesen, gesungen, gespielt, musiziert, und wir waren immer im Gespräch. Genau das war es, was mir in der ersten Zeit nach meinem Umzug, zwecks Ausbildung, in das 500 Kilometer entfernte Berlin am meisten fehlte: die Gespräche am Mittagstisch, bei denen auch mein Vater auf Grund seines Lehrerberufs anwesend sein konnte.

      Ich habe mich oft gefragt, wie meine Eltern es geschafft haben, dass ich in der Spur geblieben bin, die sie gelegt haben. Meine Mutter erzählte manchmal, dass sie für mich, ca. vier Jahre alt, mit Kreide einen Strich auf die Straße gemalt habe, bis zu dem ich gehen durfte. Sie war ziemlich stolz darauf, dass ich diese Grenze wohl immer respektiert habe. Ich selber kann mich nicht erinnern, aber meine späteren Erfahrungen mit mir selber lassen mich nicht an ihrer Aussage zweifeln. Als ich das irgendwann meinen eigenen Kindern erzählte, schüttelten sie jedes Mal fassungslos den Kopf und wollten nicht glauben, dass ich nie ausprobiert habe, wie es hinter dem Kreidestrich aussah, und was passiert wäre, wenn ich das Gebot im wahrsten Sinne des Wortes übertreten hätte.

      Wie also hielten sie mich auch später in der Spur? Ich sage „mich“ und nicht „uns“, denn meine drei Brüder hatten andere Eltern. Nicht biologisch natürlich, das war und ist unübersehbar, aber aus ihren Erzählungen weiß ich schon lange, dass dieses gemeinsame Elternhaus mit jedem von uns etwas anderes gemacht hat. Das ging z. T. so weit auseinander, dass ich mehr als einmal dachte, einer der Brüder redet gerade über eine andere Frau, aber doch nicht über meine Mutter. Früher haben mich solche Gespräche stets in eine Verteidigungsposition gebracht. Damals habe ich nicht begriffen, dass diese unterschiedlichen Wahrnehmungen völlig normal sind. Ich hoffte, den Bruder von meiner Wahrheit überzeugen zu können, wenn er sich denn nur anstrengen und richtig hinschauen würde und habe dabei übersehen, dass es nicht um die Wahrheit geht, ja, gehen kann, wenn etwas verteidigt, erklärt, bewiesen werden muss. Nicht einmal dann, wenn es um meine Ansicht zu einem Thema geht, kann ich diese beweisen, denn es ist eben nur meine Sicht auf Dinge, die andere von anderen Warten aus betrachten. Im Übrigen gibt es diese Unterschiede in der Wahrnehmung natürlich auch auf Seiten meiner Brüder: sie wissen nicht immer, von was ich eigentlich rede, wenn ich aus „meiner“ Kindheit erzähle …

      Aber wieder zurück zu der Ausgangsfrage: Wie haben sie mich in der Spur gehalten?

      Der Groschen fiel bei mir mal wieder lireweise (ja, Groschen und Lire gab es zu der Zeit noch!), wie einer meiner Brüder in seiner unnachahmlichen Art zu bemerken pflegte, wenn ich etwas länger für eine Einsicht brauchte.

      Ich will damit sagen, dass es viele Lebensthemen gibt, denen ich immer wieder mal begegne. Es kommt vielleicht zu einer Einsicht, die sich für den Moment vollständig anfühlt, um wenig oder auch viel später verworfen oder erweitert zu werden. So lebe ich mein Leben „in wachsenden Ringen“ oder – wie ich es manchmal empfinde – spiralförmig. Wie auch immer: Leben verläuft eben nicht linear, sondern zirkulär. Das ist zumindest meine Erfahrung. Dazu gehören zum Beispiel auch wohlbekannte, längst überwunden geglaubte Fallen, in die ich von Zeit zu Zeit wieder hineintappe. Wir, mein Mann und ich, zitieren dann gerne ein afrikanisches Sprichwort: „Ich kann nicht verhindern, dass die Vögel um meinen Kopf kreisen, aber ich kann verhindern, dass sie dort Nester bauen.“

      Also: wie viele Lire und welche sind inzwischen gefallen – genug für einen Groschen?

      Die Antwort ist: ich weiß es nicht, auch wenn es sich jetzt, wie immer in solchen Momenten, so anfühlt, als sei der Groschen voll. Es spielt auch keine Rolle.

      Im Blick auf meine Kindheit wird mir die eigenartige Präsenz des Themas der nicht benannten Grenzen deutlich, sieht man mal von dem Kreidestrich auf der Straße ab.

      Wenn ich als Jugendliche wissen wollte, wann ich abends zu Hause zu sein habe, war die Antwort: „Was findest du denn angemessen?“

      Klingt im ersten Moment ganz gut, so nach: Ich darf es selber entscheiden. Ist aber nicht gut, denn was schlägt die gehorsame Tochter auf diese Frage hin vor? Natürlich einen Zeitpunkt, der möglichst knapp unter der Zeit liegt, von der sie vermutet, dass ihr Vater sie für angemessen hält.

      Schließlich ist sie, wie alle Kinder, auf die Liebe und Zuwendung der Eltern angewiesen. Kinder verbiegen sich lieber, als dass sie diese Liebe aufs Spiel setzen.

      Voraussetzung auf Seiten des Kindes ist, dass es gelernt hat, zu erspüren, was die Eltern wollen. Bösartig könnte man sagen, die Eltern haben die Verantwortung, die eigentlich sie für das Aufzeigen von Grenzen haben, auf die Kinder abgewälzt. Das haben meine Eltern ganz sicher nicht gewollt – dennoch habe ich es so empfunden. Ich spekuliere: Vermutlich war es eine Gegenreaktion meiner Eltern auf als zu hart empfundene Grenzsetzung in der eigenen Kindheit …

      Wie sehr hätte ich mir als Kind gewünscht, mal einen Grund zum offenen Protest zu bekommen! Aber es blieb bei heimlichem Grummeln. Einzig gegen den Großvater habe ich mich als junge