Im Fluss – Seele in Bewegung. Brigitte Romer-Schweers. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Brigitte Romer-Schweers
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783991079538
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ohne danach gesucht zu haben. Ja, phasenweise wurde ich so von Einfällen überrollt, dass ich Sorge hatte, ob mein Hirn das noch alles würde fassen können, ohne zu platzen.

      Dadurch ist mit der Zeit so viel Raumenge entstanden, dass nun die Geburt eingeleitet ist.

      Doch diesmal ist es keine Kopfgeburt:

      Bislang sah ich Krisen in meinem Leben als Herausforderung. In der Regel entstanden sie in ganz bestimmten Lebenszusammenhängen: Es gab einen konkreten Anlass und Auslöser dafür. Da konnte ich ansetzen, da konnte ich etwas tun, etwas verändern; sei es die Umstände oder mich selbst, in Form von Kampf oder Anpassung. Ich versuchte, mich irgendwie von der krisenhaften Belastung zu befreien und habe insofern Krise durchaus als Chance begriffen. Ich habe bedacht, was zu bedenken war, und dann gehandelt. Nur hat sich inzwischen herausgestellt, dass es mich nicht weiterbringt. „Das Denken hat das Wissen nicht mehr für sich gepachtet“, sagt Wilfried Nelles (Die Welt in der wir leben, S. 284).

      Diesmal hat sich etwas anders entwickelt als in den Zeiten davor. Einerseits gab es keine greifbare Herausforderung, an der ich mich hätte abarbeiten können. Andererseits spürte ich so deutlich wie nie, dass all mein gesammeltes Wissen, alle Erkenntnisse nicht viel nützten, weil sie meistens nur in meinem Kopf gearbeitet hatten, aber mit meinem Dasein in der Welt sehr viel weniger zu tun hatten, als ich mir gewünscht hätte. Nun aber wurde der Boden bereitet – dadurch, dass ich ganz bewusst ohne Ziel in der Gegenwart von Moment zu Moment gelebt habe und immer noch lebe. Der jeweils nächste fällige Schritt ergab sich ohne mein Dazutun von selbst. Ich musste die Bewegung nur spürend mitvollziehen. Alles in mir hat sich verbunden. Ich habe verstanden mit dem Verstand, mit dem Herzen, mit dem Körper, mit dem Gefühl – sozusagen mit allen Sinnen. Und auf einmal hat alles Sinn gemacht! Sinn ergibt sich offenbar durch das spürbewusste Dasein im Augenblick und im Weitergehen zum nächsten Augenblick.

      Im Folgenden werde ich einige Themen umkreisen, die mich gerade beschäftigen. Ich teile meine Gedanken dazu, Gedanken, die im Augenblick meine Wirklichkeit abbilden. Ich erhebe keinen Anspruch auf Vollständigkeit und auch nicht auf Allgemeingültigkeit. In einem oder in fünf Jahren werde ich vermutlich manches anders sehen. So ist es in der Forschung und Wissenschaft ja auch: Es geht immer um den derzeitigen Erkenntnisstand, auch wenn uns Wissenschaftler manchmal glauben machen wollen, jetzt hätten sie die Wahrheit gefunden.

      Alles was lebt, ist immer vorläufig – es verändert sich von Moment zu Moment; Ewigkeit und Augenblick sind dasselbe. „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen“, heißt es in der Flusslehre Heraklits.

      STUFEN

      Wie jede Blüte welkt und jede Jugend

      dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,

      blüht jede Weisheit auch und jede Tugend

      zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.

      Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe

      bereit zum Abschied sein und Neubeginne,

      um sich in Tapferkeit und ohne Trauern

      in andre, neue Bindungen zu geben.

      Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,

      der uns beschützt und der uns hilft zu leben.

      Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,

      an keinem wie an einer Heimat hängen,

      der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,

      er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.

      Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise

      und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen.

      Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,

      mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

      Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde

      uns neuen Räumen jung entgegensenden,

      des Lebens Ruf an uns wird niemals enden …

      Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

      H. Hesse

      1 FAMILIE

      Die beiden seelischen Grundbedürfnisse des Menschen sind Verbundenheit und Autonomie; er braucht Wurzeln und Flügel.

      Diese Erkenntnis ist nicht neu. Neu für mich ist, dass ich seit einiger Zeit die Gelegenheit habe, genau das bei meinem jüngsten, jetzt 18 Monate alten Enkel, der zu unserer großen Freude ganz in der Nähe wohnt, fast täglich zu beobachten. Mit diesem Bewusstsein und der Zeit und Muße dazu war das bei meinen eigenen Kindern, und auch bei den älteren Enkeln auf Grund der Entfernung, in dieser Form nicht möglich. Ein wunderbares Geschenk für uns Großeltern!

      Es berührt mich, zu erleben, wie er die Welt und seine eigenen Fähigkeiten mehr und mehr entdeckt und entwickelt, während er sich gleichzeitig immer wieder vergewissert, dass die für ihn wichtigsten Menschen da sind. Unermüdlich probiert er aus, übt mit Beharrlichkeit und Konzentration, bis er sein Nahziel erreicht hat. Die Freude, die ihn dann erfüllt, ist dem ganzen kleinen Körper anzusehen. All das geschieht von allein. Er braucht dazu keine Ermunterung, keine Aufforderung, geschweige denn „Training“ oder irgendeine andere Form von Anstoß. Er braucht nicht einmal Spielzeug. Alles, was sich gerade in seiner Umgebung befindet, weiß er zu nutzen.

      In der Sicherheit der Bindung geschieht Entwicklung ganz von selbst. Er ist noch ganz bei sich, nimmt keinen Abstand durch Überlegung, was sein könnte, wenn … So ist er auch völlig angstfrei. Angst entsteht ja erst dann, wenn unser Kopf, gespeist von den Erfahrungen der Vergangenheit, irgendwelche möglichen und unmöglichen Szenarien für Gegenwart und Zukunft ersinnt.

      Das, was da passiert, ist Ent-wicklung, im ursprünglichen Wortsinn, nämlich etwas, was in der Anlage bereits da ist, wird ausgewickelt. Von außen wird instinktsicher nur Selbstgewähltes einbezogen, das als Anregung genau zu dem jetzt anstehenden Entwicklungsschritt passt.

      Wir wissen alle, dass diese kindliche Freiheit, das Eigene zu entdecken und zu leben, endlich ist. Nicht lange, und wir bringen unseren Kindern alles bei, was wir für angemessen halten. Wir finden das vollkommen selbstverständlich und notwendig, um sie darauf vorzubereiten, irgendwann eigenständig in dieser Welt zurechtzukommen. Vielleicht ist es das ja auch. Je nach eigenem Bewusstseinsstand entdecken und würdigen wir dabei mehr oder weniger sensibel das Eigene in unseren Kindern. Dennoch machen wir sie unbeabsichtigt gleichzeitig zu Objekten unserer Vorstellungen und blockieren damit die Möglichkeit einer Entfaltung in die ganz eigene Richtung, die nur das Kind selber herausfinden kann; die wir Erwachsenen gar nicht kennen können.

      Ist das nicht eine riesige Potentialblockierung und Verschwendung?

      Aber dazu später mehr.

      Doch auch in der bestmöglichen aller Kindheiten werden wir nicht vermeiden können, unseren Kindern Päckchen mit auf den Weg zu geben, die sie tragen müssen. Unsere Hoffnung kann nur sein, dass sie irgendwann zu unterscheiden lernen, was zu ihnen gehört und was nicht.

      Lebenslange Aufgabe eines jeden Menschen, die immer wieder aufs Neue zu lösen ist. Es bedeutet, Spürbewusstsein zu entwickeln für das, was verabschiedet werden kann, für das, was bleiben darf, und für den Handlungsschritt, der jetzt gerade ansteht. Poetischer als Hesse das in seinem Gedicht „Stufen“ beschreibt, kann man es nicht ausdrücken.

      Das Stichwort „Bestmögliche aller Kindheiten“ führt mich zurück in mein eigenes Leben.

      Ich selber bin ganz sicher in einer – nach landläufiger Meinung – intakten Familie aufgewachsen. Ich habe keine Not gelitten, auch wenn in einer Familie mit vier Kindern und einem alleinverdienenden Lehrer-Vater in den 1950er-, 1960er-Jahren nicht viel Geld da war. Dennoch hat es oft für bescheidene, aber spannend gestaltete Urlaube, immer für Musikunterricht und auch für ein eigenes Haus gereicht.

      Mein Vater war ein liberal denkender Mensch, der selber aus einem freigeistigen Elternhaus stammte. Seine Leidenschaft