Glen vermutete eher, dass der Laird den einen Mann oder die höchstens zwei Männer, die die Drecksarbeit für ihn erledigt hatten, nicht aus den Augen gelassen hatte, bis ihre Arbeit vollendet war, und sie hinterher ebenfalls umgebracht hatte. Zwei Leichen in der Nacht im Forth verschwinden zu lassen, wäre nicht schwer gewesen. Und wenn die beiden nicht zum Stammpersonal der Burg gehört hatten, konnte man sie nicht mit Angus de Monncrefe in Verbindung bringen, falls sie irgendwo flussabwärts gefunden worden waren. Idealerweise waren sie ins Meer gespült worden, sodass man ihre Leichen nie gefunden hatte.
Craig seufzte. »Für die Polizei war das erst mal ein Tatort, weil man ja nicht wusste, wie lange die Leichen dort gelegen haben. Hätte ja sein können, dass ich jemanden umgebracht und die Leichen dort unten eingemauert habe.« Er lachte und schüttelte den Kopf. »Aber wer ist denn heutzutage schon so blöd und mauert eine Leiche im eigenen Haus ein.«
»Überraschend viele Leute, Sir, weil sie wie Ihr Vorfahre davon ausgehen, dass man bei ihnen zu Hause zuletzt sucht, wenn sie das Gerücht in die Welt setzen, die Betreffenden wären verreist, durchgebrannt, abgehauen oder etwas in der Art.«
Craig blickte ihn beinahe schockiert an. Vermutlich konnte er nicht glauben, dass so viel Dummheit existierte.
»Ich würde jetzt gerne das Collier sehen und vor allem den Ort inspizieren, an dem Sie es aufbewahren. Wie ich verstanden habe, wollen Sie es nicht in einem Banksafe deponieren.«
»So ist es.« Craig stand auf und deutete zur Tür. »Wenn Sie den Safe gesehen haben, werden Sie mir zustimmen, dass es dort am sichersten ist.«
Er verließ das Büro, und Glen folgte ihm. Shade trabte neben ihm her.
»Ich habe mir schon überlegt, ob ich das Ganze nicht als Touristenattraktion ausschlachten soll und statt der einfachen Renovierung des Kellers, die ich ursprünglich geplant hatte, ein Plastikskelett in die Mauernische setze, ihm eine Nachbildung des Colliers umhänge und weitere Nachbildungen aus Strasssteinen als Souvenirs verkaufe.«
»Die finden bestimmt reißenden Absatz, wenn Sie die Legende richtig vermarkten«, stimmte Glen ihm zu.
Pro forma. Er hielt nichts davon, den Tod von Menschen zur Touristenattraktion zu machen. Auch nicht, wenn sie seit Jahrhunderten tot und auf spektakuläre Weise ermordet worden waren. In seinen Augen war das pietätlos. Aber man hatte ihn schon öfter als Dinosaurier bezeichnet, der an überkommenen Moralbegriffen festhielt. Vermutlich hatten diese Leute Recht und Glens Einstellung war nicht mehr zeitgemäß. Aber er konnte sich gerade deswegen immer noch jeden Tag im Spiegel in die Augen sehen, ohne vor Scham im Boden zu versinken, weil er seine Ideale verraten oder missachtet hatte, nur weil fremde Menschen der Meinung waren, sie seien nicht mehr »zeitgemäß«. Als ob Moral und Anstand ein Verfalldatum hätten.
»Ich mache ja schon Führungen durch das Haus«, fuhr Craig fort, »aber die bringen nicht viel Geld ein. Zu wenig, um jemanden als Guide dafür anzustellen. Und ich kann die auch nur am Wochenende anbieten, weil ich mich um meinen Job kümmern muss. Ich bin Ingenieur und arbeite im IT-Bereich. Mikroprozessoren, künstliche Intelligenz und so.«
»Das stelle ich mir sehr interessant vor.«
Craig nickte. »Das ist es. Besonders die Forschungsarbeit.« Er lächelte; es wirkte gequält. »Wird zwar sehr gut bezahlt, aber das Manor frisst fast alles auf.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber es ist das Familienerbe seit Jahrhunderten. So was verkauft man doch nicht einfach.«
Er blieb in einem Bücherzimmer stehen, in dem fast jeder Quadratmeter Wand mit Regalen und Schränken verstellt und behängt war. Alle waren dicht an dicht mit Büchern gefüllt, von denen etliche sichtbar antiquarisch waren und bestimmt auch ein kleines Vermögen darstellten. Neben dem gemauerten Kamin stand eine mindestens zwei Meter große Standuhr mit Pendeln in einem geschnitzten Holzkasten, deren Ticken den Raum erfüllte. Auf der anderen Seite des Kamins thronte eine lebensgroße, halb nackte Frauenstatue aus poliertem weißen Stein, die in der einen Hand eine Schreibtafel und in der anderen einen Griffel hielt und demnach wohl Kalliope, die Muse der epischen Dichtung, darstellen sollte. Unter einem Fenster mit Blick auf den ausgedehnten Garten stand ein Schreibtisch. In der Mitte des Zimmers verteilten sich vier Ohrensessel um einen massiven Holztisch mit geschnitzten Beinen. Neben jedem Sessel standen eine Leselampe und ein Beistelltischchen.
Craig machte eine ausholende Handbewegung. »Finden Sie den Safe, Mr Kincaid.«
Glen blickte sich um. Die üblichen Verstecke für Safes hinter Bildern gab es hier nicht, weil nirgends ein Bild hing. Die Tische kamen ebenfalls nicht infrage, weil sie zu unsicher waren, selbst wenn sie gut versteckte Geheimfächer mit ausgeklügelten Öffnungsmechanismen hätten. Wenn man wusste oder vermutete, dass sich Wertsachen darin befanden, scheuten Diebe sich nicht, den ganzen Tisch zu zerschlagen, um das Fach zu öffnen. Die Statue der Kalliope konnte Glen ebenfalls ausschließen; es sei denn, der Safe wäre im Sockel versteckt oder im Boden darunter.
Er ging hinüber und ging leicht in die Knie. Nur leicht, weil er seit dem desaströsen Autounfall vor fünf Jahren ein Knie nur noch eingeschränkt bewegen konnte. Seit fast einem Jahr nahm er mehrmals wöchentlich Kampfkunstunterricht. Die Trainerin, Rowan Lockhart, verstand auch etwas von Akupunktur und hatte ihm entsprechende Sitzungen angeboten, um die Beweglichkeit des Knies zu verbessern, nachdem sie bemerkt hatte, dass er manchmal etwas hinkte und den Grund erfahren hatte. Glen war anfangs skeptisch gewesen, aber die Sache hatte Erfolg.
Der Sockel der Statue und auch die Figur selbst zeigten nirgends eine »Naht«, die darauf hingewiesen hätte, dass irgendwo ein Fach eingearbeitet war oder Sockel und Figur aus zwei Teilen bestanden. Offenbar war die gesamte Figur aus einem einzigen Stück Stein geschnitten und gemeißelt worden. Sie ließ sich auch nicht bewegen, und auf dem Steinboden sah Glen nirgends Kratzspuren, die darauf hindeuteten, dass die Statue irgendwann mal verrückt worden war. Vermutlich stand sie an dieser Stelle, seit sie im Schloss aufgestellt worden war.
Die Standuhr mit gut einem halben Meter Breite käme da schon eher infrage. Sie stand mit dem Rücken an der Wand, so dicht, dass allenfalls ein Blatt Papier dazwischen gepasst hätte. Jedoch war die Nische, in der sie zwischen dem Kamin und einem Bücherregal stand, zu schmal, als dass man sie hätte zur Seite schieben können, um einen Safe dahinter freizulegen. Aber nach vorne?
Glen blickte auf den Boden vor der Uhr. Im ersten Moment sah er nichts. Als er aber einen Schritt zur Seite trat, sodass das Sonnenlicht durch eines der Fenster auf den Boden fiel, erkannte er kaum wahrnehmbare Schleifspuren. Er zog an der Uhr, und sie glitt relativ leicht, aber nicht zu leicht, nach vorn. In der Wand dahinter befand sich die Tür eines eingemauerten Safes.
»Verdammt!«, entfuhr es Craig. »Ich dachte, der wäre dort absolut sicher.«
»Sehen wir davon ab, dass es absolute Sicherheit nicht gibt, Sir: Ich bin Profi. Ich sehe von Berufs wegen Dinge, die anderen nicht auffallen.« Glen deutete auf die Bücherregale und die Schränke. »Jeder Einbrecher vermutet einen Safe erst einmal hinter einem Gemälde oder Wandbehang, weil die Dinger dort am häufigsten versteckt sind, und wird sich deshalb alle Zimmer ansehen, in denen Bilder hängen. Als Erstes aber Ihr Büro und andere Räume, die wie Arbeitszimmer aussehen. Dieser Bibliothek wird man zunächst keine Beachtung schenken. Wie viele Zimmer hat das Manor?«
»Siebenundzwanzig. Plus fünf Badezimmer und drei Gästetoiletten. Und natürlich die Kellerräume und die ehemaligen Stallungen, die heute Lagerräume und Garagen sind.«
Glen nickte. »Wenn Diebe endlich auf die Idee kommen, dass ein Safe in diesem Raum sein könnte, werden sie ihn erst einmal hinter den Bücherregalen oder in einem Geheimfach in irgendeinem der Schränke vermuten, weil das nach den Bildern und Wandbehängen die nächsten üblichen Verdächtigen für Safeverstecke sind. Die Uhr macht einen sehr massiven und schweren Eindruck. Dass sie auf Rollen steht, die so in ihren Boden eingearbeitet sind, dass man sie unter der Zierblende nicht sehen kann, darauf kommt man so schnell nicht. Außerdem ist der Zeitfaktor ein guter Schutz. Diebe haben es eilig. Wenn sie nicht innerhalb von Minuten lohnende Beute gefunden haben, geben sie