Der Bote. Hans-Joachim Rech. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans-Joachim Rech
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783966511759
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über die aufgepeitschte See, in denen die Schiffbrüchigen in wenigen Minuten den Tod finden würden, um hernach in der endlosen Tiefe zu versinken. Ich verspürte eine Kraft, einen Sog, der mich unaufhaltsam in diese quirlende, tobende Masse nackter Leiber hineinzog, wie ein gefräßiger Riesenkalmar, ein Architeuthis dux von gigantischem Ausmaß, der bereits mehr als die Hälfte des sinkenden Schiffes mit seinen alles zerpressenden Greifarmen umfasst hielt, und aus dessen Innerem die nackten Menschen wie eine teigige, fettige Masse heraus quollen, um hernach im weit geöffneten Schnabelmaul des Kalmaren kreischend und schreiend zu verschwinden. Meine Augen tanzten willenlos in den Höhlen meines Schädels, sie suchten von wahnsinniger Angst getrieben einen Fixpunkt, an dem ich meine irrwitzigen Visionen festmachen konnte - und dann sah ich sie, eine Frau, eine junge Frau, ebenso nackt und weiß wie alle anderen, doch diese Frau wurde nicht von der Masse überquellenden Menschenfleisches in den grässlichen Schlund der Vernichtung gerissen, sondern stand erhaben auf dem Oberdeck des untergehenden Schiffes und drehte nur ihren Kopf von links nach rechts - von rechts nach links, wobei sie die Hand ihres rechten Armes mit erhobenem Zeigefinger vor ihrem Gesicht vorbei bewegte, wie ein knöcherner Scheibenwischer - NEIN - nicht dieses Schiff - es ist das Totenschiff… trug mir der heulende Winterwind ihre warnenden Worte ans Ohr, die leise, kaum hörbar in der Wildheit der Elemente verklangen. Ich kannte diese Frau, war ihr schon begegnet vor langer Zeit. Sie erzählte mir eine Geschichte, so glaubte ich mich zu erinnern, die Geschichte ihrer Jugend von der verlorenen Heimat fern im Osten eines ehemals großen und stolzen deutschen Reiches…. das war - ist - meine Großtante als junge Frau - unmöglich, alles Wahnsinn, ein Albtraum, dennoch konnte ich meinen Blick nicht lösen von diesem Inferno des Untergangs, diesem Dante Inferno, das ich leibhaftig Fleisch geworden vor mir sah, zum Greifen nah. Aber da war noch eine andere Frau, die plötzlich, wie von Zauberhand aus dem eisernen Gewand der Brückenaufbauten erschien, eine Frau in Schwarz, von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt. Ihre glühenden roten Augen fesselten mich mit ihren Blicken, ihr bleiches, knochiges Antlitz überzog für Augenblicke ein flüchtiges Lächeln, derweil ihre fleischlose Hand mir aus ihrem dunklen Umhang leicht zuwinkte und mir bedeutete an Bord zu kommen, die letzte ewige Reise anzutreten in die Refugien der Anderswelt, in das Reich der Göttin Hel nach Helheim…

      Sibirien brennt - von einem Ende zum Anderen… die Wälder - das Klima… alles vernichtet - es ist heiß - sehr heiß in Sibirien; aber nicht jetzt, erst in vier Jahren - Jakutsien - Wrangel - Ljachow. Australien ein Flammenmeer - Amazonien - die Erde brennt - verbrennt - mein Kopf, was ist in meinem Kopf - er will platzen, einfach zerplatzen. Der Schlaganfall - ja, dieser Schlaganfall an meinem Geburtstag im Februar zweitausendzwanzig - ich bin wahnwankend - in vier Jahren - Grönland - Gletscherschmelze - Hunderte Milliarden Tonnen Eis - einfach weg - die Fische fliehen nach Norden - das Meerwasser zu warm - Erhitzung - Nordsee - Ostsee - der Golfstrom - das Ende der tropischen Warmwasserpumpe - was wird aus Nordeuropa - aus der Welt - Covid Neunzehn hat alles im Griff - Infektionen zählen jetzt wöchentlich nach Millionen - die Todeszahlen überfordern die Bestatter - in Bolivien liegen die Toten an den Straßen - wie im Warschauer Getto - die Hunde haben genug zu fressen - alles passiert in vier Jahren - ich sehe alles jetzt und hier… warum ich - Großtante - was hast du mir aufgeladen… ich bin der Bote…. der Bote…. der Bote…. der Gott des Todes…. ich bin Baal…. der Gott des Todes…. wir alle sind verdammt…. Loki wartet auf uns…. das Festmahl ist angerichtet…. im Herz der Finsternis…. das Virus - die Reinform - wo ist es…

      „Hallo - Herr von Bergerdamm - Kollege - ist ihnen nicht gut - kann ich ihnen helfen - sie müssen achtgeben, um ein Haar wären sie in das Hafenbecken gestürzt… Herr von Bergerdamm… Maximilian - ich bin es - Sarah Rosenstrauch - kommen sie - ich hake mich bei ihnen unter - wir gehen jetzt zum Einstieg des Aufzugs…“

      Die visionären Sequenzen in meinem Kopf erloschen so schnell, als wären sie niemals an meinem inneren Auge vorbeigerast. Der schnellste Bildwechsel in einem Videoclip würde schwerlich Mühe haben diesem Tempo zu folgen, dennoch sah ich alles klar und deutlich vor mir - nur den Namen des Schiffes nicht, das vor meinen Augen mit Tausenden Menschen an Bord im aufgewühlten Meer versank. Oder versank dieses Schiff bereits vor vielen Jahrzehnten und wurde nun von den Seelen der zu Tode gekommenen in das verklärende Licht einer Mittsommernacht gespült? Meine Großtante Lina, ich sah sie an der Reling auf dem Oberdeck stehen und mir verneinen an Bord zu gehen, bevor die tobende fleischige Masse nackter Menschen sie mit sich riss - verschwunden für immer. Dieses Schiff folgte den vielen vor ihm gesunkenen, jenen die nach ihm kämen wäre es ein würdiger Quartiermacher. Alle versanken sie in den eisigen Fluten der Ostsee - die Gustloff, die Cap Arkona, die Steuben und auch die Goya, die für Großtante Lina und ihre Freundin Annegret die Rettung bedeutete. Diese in schwarz gekleidete Frau auf der Brücke - war es die Herrscherin der Anderswelt, des Totenreiches? Sollte alles eine Warnung sein vor unserem Tun - keine Expedition - kein abtauchen - einfach abbrechen? Um mich herum bewegte sich alles wie in Zeitlupe - oder noch langsamer. Ich sah die Flügelschläge der Kolibris in einer Ruhe und Harmonie auf und ab schwingen, als hätten diese schillernden gefiederten Winzlinge das Geheimnis um das Gesetz der Schwerkraft längst gelöst, gegen das sich fast alle Lebewesen dieser Welt auf Dauer vergebens stemmen. Ich sage fast, denn mit grenzenloser Bewunderung beobachte ich in jedem Frühling und Sommer den virtuosen Flug der Mauersegler, die vom Beginn der Morgendämmerung bis zum Einsetzen der Abendröte auf dem Atem des Windes in rasantem Flug dahin gleiten, Ausdruck schier überschwänglicher Lebensfreude und Lust am Spiel mit dem unsichtbaren Element Luft. Alles ist in Bewegung - alles steht - wie der Galopp eines Pferdes, welches in einem einzigen Augenblick seines schnellen Laufes mit allen vier Hufen über dem Boden schwebt - frei im Element Luft, ohne Kontakt zum Erdreich. Vor mehr als Hundertvierzig Jahren erbrachte ein englischer Fotograf durch ein Dutzend nacheinander auslösender Fotokameras den Beweis, dass Pferde „schweben - fliegen“ können, das auch Pferde aus dem großen Urstamm der flugfähigen Organismen abstammen. Urstamm - wir tragen alle den T-Rex in uns, angeflanscht an den Cortex, der immer wieder seine archaischen Rechte an jeglichem Leben einfordert - dann werden wir wieder Reptilien.

      „Yoshua - du hier?“ flüsterte ich kaum hörbar.

      „Was sagen sie da? Ich bin es - Sarah Rosenstrauch - eine Kollegin. Wir gehen jetzt an Bord der Georgi Schukow. Sie wären beinahe in das Hafenbecken gefallen - ich konnte sie noch zurückhalten…“

      In dem Antlitz dieses menschlichen Wesens, welches vorgab Sarah Rosenstrauch zu heißen, spiegelte sich zweifellos das Gesicht jenes Mannes wider, dem ich als Yoshua Rosenstrauch vor langer Zeit begegnete. Dann war er doch nicht tot oder für immer verschollen, er lebte als seine Tochter weiter… das perfekte Alibi um geräuschlos zu verschwinden, wenn einem die Geheimdienste der Welt auf den Füßen stehen. Alles nur Spuk, Einbildung, Fantasie, geistiger Dünnschiss, Wirrwarr oder was auch immer, aber vielleicht - vielleicht -…

      „Sie haben mich vor dem Ertrinken gerettet - und das bei schönstem Mittsommernachtwetter - es ist warm geworden…“

      „In der Tat - das Wetter hat sich vollständig gewandelt - einfach zu schön um da in einem Hafenbecken abzutauchen“ lächelte Sarah Rosenstrauch mir zu; sie sah mich direkt an und ich blickte erneut in das Antlitz jenes Mannes, den ich in den 1990er Jahren während seiner Expedition in Alaska traf, als ich eine Reportage über Brewster Ferry schrieb. Ich zweifelte keinen Augenblick an dem was ich sah, allerdings gestand ich mir die Option zu verrückt zu sein, durchgebrannt, Paranoid oder so etwas in der Art. Menschen in anderen Menschen zu sehen, die seit Jahrzehnten wie vom Erdboden verschluckt und dazu noch wesentlich jünger und anderen Geschlechts sind. Möglicherweise ein Vorrecht des Alters, wenn schon nicht dement oder Altersheimer, dann wenigstens handfest verrückt.

      „Entschuldigen sie Sarah - sie können mich Max nennen, ich hatte eben so eine Art Vorschau auf mein Leben - seit meinem Schlaganfall erlebe ich Szenarien die so real sind, dass ich zuweilen glaube ich brenne ab wie eine Silvesterrakete…“ raunte ich Sarah Rosenstrauch hinter vorgehaltener Hand zu, denn ich wollte auf jeden Fall vermeiden, dass irgendwer aus dem Kollegenkreis zu große Ohren macht, wenn ein alter Zossen wie ich und eine knackige Holländerin die Köpfe zusammen stecken und tuscheln. Ich öffnete meine Jacke und zog den Reißverschluss meines Marinepullis bis zum Hosengürtel auf; die angestaute feuchte Körperwärme konnte entweichen und machte der frühsommerlichen Milde der beginnenden Mittsommernacht