Der Bote. Hans-Joachim Rech. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans-Joachim Rech
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783966511759
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Nuklearbasis tief unter dem grönländischen Eis schmackhaft machte, von wo aus im Ernstfall Atomraketen auf die Sowjetunion abgeschossen werden könnten. Menachem Rosenstrauch sammelte Doktoren und Professoren Titel wie andere Menschen Briefmarken, und niemand wusste wirklich genau, womit er sich tatsächlich beschäftigte. Selbst die engsten Mitarbeiter seiner Labore bekamen nur so viel an Information, wie sie für die Abarbeitung der gestellten Aufgaben in ihrem Ressort benötigten. Es wurde sogar gemunkelt, dass Rosenstrauch am Thermonuklearprogramm der Sowjets, unter anderem an jener berüchtigten Zarenbombe im Team um Sacharow mitgetan hatte, und als Sacharow ob der berechneten Wirkung dieses Wasserstoffmonstrums Albträume und im wahrsten Sinne des Wortes Kalte Füße bekam, änderte er die notwendigen Parameter und zähmte das Projekt zu einem weniger „gehaltvollen“ Knallbonbon. Rosenstrauch blieb das nicht verborgen, und listig wie verschlagen er war, hintertrug er das Vorgehen Sacharows dem zuständigen Projektleiter im Militärministerium für Nuklearforschung. Was folgte ist bekannt - Sacharow landete in der Verbannung und Rosenstrauch wurde Teamleiter des Entwicklungsprogramms der Zarenbombe - kurz Projekt Peter der Große genannt. Was die Nuklearstation der USA auf Grönland betraf, so haben die US-Militärs tatsächlich angebissen und dieses Vorhaben mit immensen Mitteln voran getrieben. Bekannt wurde dieses als mineralogisches Forschungsprojekt getarnte Militärvorhaben über den Aktionfilm „Eisstation Caribou“. Nach einigen Jahren gaben die Amerikaner den weiteren Ausbau der Anlage tief unter dem Eis auf, da sie die Beweglichkeit und Drift der Eismassen nicht oder ungenügend bedacht hatten. Hals über Kopf verließen sie das Century Camp, welches nun angefüllt mit radioaktivem Abfall, Dieseltreibstoff und anderen chemischen Abfällen, eingehüllt wie ein übergroßer dicker Schneeball in Richtung Gletscherzunge unterwegs ist, wo es dann, wenn zuvor nichts an der Sicherung oder Entfernung dieses Sondermülls getan wird, vom Gletschereis in den arktischen Ozean geschoben und dort zu einer Umweltkatastrophe ungeahnten Ausmaßes führen wird. Die Grönländer versuchen seit Jahren die Regierung in Kopenhagen zu ersten Schritten gegen die USA zu bewegen, um diese hochgefährliche Hinterlassenschaft zu beseitigen. Bislang ohne Ergebnis, alles sieht nach Vertuschung aus, und so sahen die Grönländer keine andere Möglichkeit, als die komplexe Sachlage an die internationalen TV- und Printmedien weiterzuleiten. Der Effekt war überwältigend, und die Verantwortlichen in Kopenhagen und Washington beginnen sich zu bewegen. Überdies tat sich Rosenstrauch auch als Paläontologe und Eugeniker hervor, wobei es ihm in fragwürdigen Experimenten gelang, Hunden und Kälbern je einen weiteren Kopf anzupflanzen, der eigenständig fressen und trinken konnte und sogar mehrere Tage mitsamt Kalb überlebte. Filmdokumente belegen die Echtheit dieser schrecklichen Geschehnisse. Von da an hieß er im Kollegenkreis nur noch Dr. Frankenstein. Sein Sohn Yoshua Rosenstrauch war hernach der Leiter jener Expedition, die das teuflische Virus H1N1 im Jahre 1995 erneut in diese Welt brachte. Derzeitiger Aufenthaltsort des Virus H1N1 ist ebenso unbekannt wie die Adresse seines Gottvaters Yoshua Rosenstrauch. Seine Tochter Sarah Rosenstrauch machte nun als Virologin und Ozeanografin bei den Niederländern Karriere. Was es doch für Zufälle im Leben und auf dieser Welt gibt. Angeblich hat dieser Menachem Rosenstrauch alias Valentin Roskastowitsch Anfang der 2000er Jahre den Löffel weggelegt, aber sicher bestätigt ist diese Information bis heute nicht. Gut möglich, dass er in einem Ultra geheimen Labor irgendwo im Eiskeller Alaskas, in Sibirien oder der Negev Wüste weiterhin seinen bizarren Experimenten und Eugenikversuchen frönt, von der Entwicklung neuer, noch gefährlicherer Viren ganz zu schweigen.

      „Wir betreten die Empfangshalle - bitte halten sie ihre Kennkarten gut lesbar in der Hand vor ihre Brust, damit das Einlesen zügig vonstatten geht“ ertönte die glockenhelle Stimme unserer charmanten, russischen Alphawölfin, während meine Augen und Gedanken versuchten, das anmutige Wesen von Sarah Rosenstrauch und den wirklichen Grund ihres Hier seins als Naturwissenschaftlerin, Ozeanographin und Virologin im Dienste der NIOZ auf Texel in den Niederlande zu analysieren. Das übliche Prozedere nahm seinen Gang, das individuelle Small Talk unter den Teammitgliedern an Intensität zu, derweil sich die Akademikerschar wie ein Jugendchor aufgeregter Pennäler schlaksigen Schrittes auf den Kontrollbereich zu bewegte, wo mehrere - in blaue Marinekostüme gekleidete außergewöhnlich hübsche Frauen - ohne Zweifel Murmansker Russinnen, ihre freundlich-dienstlichen Blicke wie Scanner über die Kennkarten der Frauen und Männer gleiten ließen, um sie augenblicklich mit dem lebenden Konterfei und dem Foto auf der vorliegenden Anwesenheits-Bordliste zu vergleichen. Die Qualität der KGB Schule war unverkennbar und ließ mich trotz meiner jahrzehntelangen Erfahrungen im Umgang - nicht nur mit russischen Geheimdienstmitarbeitern - sondern Aufpassern und Aufpasserinnen weltweit immer wieder aufs Neue staunen und dabei doch nicht überrascht sein, denn der Ausbildungs- und Lerneffekt in allen Geheimdiensten und jenen, die sich ausbilden und anlernen lassen, gleicht sich fast wie ein Ei dem anderen, mochten die Systeme in denen sie implantiert sind, noch so verschieden sein, was dem Überwachungswahnsinn auf allen Seiten eine Methode verleiht, die so durchschaubar und transparent ist wie eine frisch geputzte Fensterscheibe. Durch die großflächige Fensterfront auf der anderen Seite der Empfangshalle gewahrten meine Augen im hellen Licht der immer noch hoch stehenden Sonne - es ging gegen immerhin auf 19.30 Uhr zu, und der Auslauftermin für die Georgi Schukow war auf 20.00 Uhr festgemacht. Es würde die ganze Nacht hell bleiben, daran änderten auch die schwarzen Vorhänge vor den Kabinenfenstern nicht das Geringste. Mir kam eine Episode in den Sinn, die ich als junger Mann auf einer Backpacker Safari durch Finnlands Norden - Lappland - erlebte. Ich nächtigte für einige Tage in einem kleinen Dorf der Saami Lappen und erlebte zum ersten Mal hautnah im Hochsommer das Erlebnis der Mittsommernacht, jenes unvergleichlichen Erlebnisses, wenn die Sonne nicht hinter dem Horizont versinkt sondern vierundzwanzig Stunden präsent ist. Schwarze Vorhänge vor den Fenstern sorgten bei mir für ein gehöriges Unwohlsein - vermutete ich doch tatsächlich, dass in diesem Raum kürzlich ein Mensch gestorben ist oder dieses Zimmer im allgemeinen als Aufbahrungs- oder Todeszimmer genutzt wird. Meine Wirtsleute haben sich ausgeschüttet vor lachen und konnten sich kaum beruhigen, bis sie mir dann erklärt haben, was es mit den schwarzen Vorhängen auf sich hat. „Sichtschutz - damit wir schlafen können - Mitsommer - da scheint auch in der Nacht die Sonne.“ So einfach können komplexe physikalische Dinge sein. Und eben durch diese großflächige Fensterfront gewahrten meine Augen eine gewaltige stählerne Masse - versehen mit einem langen roten Band, das irgendwie aus dem Hafenbecken herauswuchs und diesen Stahlkoloss wie eine Schärpe umhüllte, die wiederum in einen mächtigen blauen Leib überging, der von einem weißen, strahlend hellen Aufbau gekrönt wurde und sich wie das Schloss eines Riesen aus diesem Stahlberg erhob - majestätisch, machtvoll, elegant - die Brücke der Georgi Schukow und den darunter befindlichen Decks für die Passagiere und Besatzungsmitglieder. Von Nordwesten hatte die Bewölkung aufgelockert, was nicht nur mir während des Vortrags von Frau Valeria Dernikowa im Saal der Marine aus verständlichen Gründen entgangen war. Die Sonne stand noch hoch im Westlichen Himmel und ließ ihr helles Licht wie einen silbernen Fluss über die Stadt Murmansk, die Kola-Bucht und den Liegeplatz der Georgi Schukow gleiten, was die Konturen der Gebäude, Schiffe und Hafenanlagen in pastellfarbene Gewänder hüllte.

      Pariser Baguette - ein schnarchendes Rhinozeros - die Georgi Schukow

      „Nicht schlecht Monsieur Bergerdamm, die Russen haben an alles gedacht. Pünktlich zum Auslaufen klart das Wetter auf und beschert uns eine waschechte Mittsommernacht - très bien - je suis Bernard Panteneau vom Institut Louis Pasteur an der Sorbonne in Paris…“

      Überrascht von der plötzlichen Ansprache durch Monsieur Panteneau verschlug es mir zunächst eine entsprechende Antwort auf eine derart belanglos-banale Feststellung, und bevor ich mich noch für die Muttersprache meines ungewollten Kabinennachbarn entscheiden konnte, fiel mein Blick eher gewohnheitsmäßig auf das Außenthermometer an der Wand des Empfangssaales, und was ich dort an meteorologischen Daten ablesen konnte, überraschte mich über alle Maßen. Schließlich befanden wir uns hinter dem Polarkreis in der nördlichsten Stadt der Welt, und da waren Temperatursprünge von mehr als zwölf Grad Plus in ein paar Stunden in keiner Weise die Norm. Die Skala signalisierte uns einen Wert zwischen zweiundzwanzig und dreiundzwanzig Grad - etwa 75 Grad Fahrenheit über dem internationalen Nullpunkt. Ich tippte leicht mit dem Mittelfinger auf die Isolierscheibe, aber der Gradmesser bewegte sich keinen Millimeter. Noch ein, zwei Versuche wagte ich, dann gab ich meine Bemühungen auf, eine nach meinem Empfinden passende Temperaturanzeige zu erhalten. Der Luftdruck stieg und näherte sich der 1020 Hekto Pascal Marke, wo normalerweise dieser Wert auf