Der Bote. Hans-Joachim Rech. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans-Joachim Rech
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783966511759
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aus Köln führte. Nach der Überfahrt von Travemünde nach Helsinki bemühten wir uns inniglich, verloren uns jedoch nach der Ankunft im Hafen aus den Augen. Sieben Wochen später begegneten wir uns fernab jeglicher Zivilisation in einem unbedeutenden und auf keiner Karte verzeichneten Lappendorf und ließen es richtig krachen. Wir wohnten einige Tage bei einer Lappenfamilie und genossen die gemeinsamen Saunagänge mit anschließenden Schwimmübungen im angrenzenden See, dessen Wasser trotz der sommerlichen Wärme von fast dreißig Grad kaum über zwölf Grad hinaus kam - das Erbe der Eiszeit. Danach verschwanden wir für den Rest des Tages oder der Nacht, was von der Helligkeit her kaum einen Unterschied machte, unter der Bettdecke oder in unseren Schlafsäcken. Ab und an steigen diese Altmännerfantasien aus den Grüften der Erinnerung empor und lassen mich wenigstens in Gedanken die Freuden der Vergangenheit ein letztes Mal kosten, bevor die Lichter für immer verlöschen. Unser Herz ist ein lebendiges Wesen aus Feuer - wenn man es verletzt verbrennt es zu Asche, so ein Sprichwort aus dem Sanskrit, der Altindischen Literatur- und Gelehrtensprache. Eine abstrakte Vorstellung zu wissen, dass mir und allen anderen Menschen auf diesem Planeten irgendwann der Docht ausgeht. Dabei gehöre ich zu den „Auserwählten - den Zeitreisenden - Ewiglebenden. Kann sein heute - kann sein morgen - aber sein wird, so Rabbi Haussteiner aus Bonn, den ich vor Jahrzehnten kennenlernte und als Mensch wie Gelehrten sehr schätzte. Seine Weltoffenheit und Toleranz beeindruckten mich sehr, wenn ihn auch das Ho-Chi-Minh Geschrei der 1968er im Poppelsdorfer Schlosspark und vor dem Residenzschloss nahe des Rheins zuweilen an seine Toleranzschwelle führte. „Der Herr wird es richten - die Jugend ist ungestüm - ein Privileg - Geduld ist noch nicht ihr Weg zur Erkenntnis - es wird sich alles fügen…“

      Wie recht er doch hatte, Rabbi Haussteiner, wie recht er doch hatte. Einer der wenigen Menschen von denen ich aufrichtig sagen konnte, dieser Rabbi war ein wirklicher Freund. Seine Lebensgeschichte und die seiner Familie, seine fürchterlichen Erlebnisse während des Holocausts, habe ich neben anderen Personenerinnerungen in meinem Roman „Der Hausfreund“ erzählt. Möge er in Frieden ruhen und sein Seelenglück gefunden haben. Werde ich jemals mein Seelenglück finden? Und wenn ja - wo wird das sein? An Bord eines Tauchbootes auf dem Grund des Ozeans, einfach dort verweilen, für immer und ewig. Stille, absolute Stille und ewige Dunkelheit. Nur ab und an erhellt von den Irrlichtern der Unendlichkeit. Das langsame abgleiten in die Sphären der Anderswelt, nach Helheim, wo die Göttin Hel über ihre dunkle Welt herrscht, so der Name des Totenreiches in der keltisch-nordischen Mythologie. Die Anderswelt - in wenigen Tagen - so Gott und die Georgi Schukow will, werden wir dem ewigen Eis und den Göttern des Nordens und der Tiefsee näher sein als uns allen vielleicht lieb ist. Mag die Technik vorzüglich funktionieren und sicher sein, letztlich hängt alles auch vom Wetter ab. Der Nordatlantik in jenen Breitengraden ist unberechenbar; das Wettergeschehen kann sich in wenigen Stunden grundlegend ändern; Schiffe wie die Georgi Schukow sind so konzipiert, um damit umgehen zu können, aber die Teammitglieder außenbords in ihren Tauchbooten sind da wesentlich angreifbarer und müssen dann „rasch“ gesichert, an Bord des Eisbrechers geholt werden. Auf den Meteorologen an Bord der Georgi Schukow lastet eine große Verantwortung - die kleinste Kleinigkeit im Wettergeschehen müssen sie in ihre Vorschau für die nächsten acht plus vier Stunden Sicherheitspuffer einrechnen, so lange dauert das Ablassen der Tauchboote bis zum Erreichen des Ozeanbodens, das Abarbeiten der Experimente und das Aufholen des Teams an Bord der Georgi Schukow. Nun stand ich einen Steinwurf weit entfernt auf der Pier im Hafen von Murmansk vor der Bordwand der Georgi Schukow, die sich wie ein riesiger, unüberwindlicher Stahlberg vor mir und allen anderen Expeditionsteilnehmern aus dem Wasser erhob, in dem sie nahezu unbeweglich wie ein Wal ruhte und alle Maßnahmen an Bord und außerhalb ihres mächtigen Leibes in Gleichmut und Geduld, ja man konnte geneigt sein zu sagen in Gutmütigkeit ertrug wobei sie ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit an die zusteigenden Gäste auf Zeit aussandte, das ihrem Namen und der Erfahrung ihrer Besatzung mehr als alle Ehre machte. Das Hafenwasser quatschte und gurgelte verhalten zwischen der Bordwand der Georgi Schukow und der Betonwand der Kaimauer, wo der Eisbrecher über dicke Trossen an den Pollern festgemacht war. Das Schiff rührte sich keinen Fingerbreit, als würden die leichten Bewegungen des Nordmeerwassers, das ohne Unterlass in die Kola Bucht und den Hafen von Murmansk mit der Flut einströmte, um beim nächsten Gezeitenwechsel, der Tide, ebenso ohne Unterlass abzufließen, keinerlei Einfluss auf den gewaltigen Leib des Schiffes nehmen, welches in stoischer Ruhe auf die Anweisungen des Kapitäns und seiner Mannschaft harrte. Schiffe dieser Größenordnung verlassen einen Hafen niemals ohne Steuerschlepper, dazu ist der Bewegungsspielraum für einen solchen Koloss in einem Hafenbecken zum einen zu gering, zum anderen dient diese Maßnahme primär der Sicherheit der Georgi Schukow sowie der anderen Schiffe und der Sicherheit der Hafeneinrichtungen. Hinter der Hafenzufahrt, die einige Meilen weiter Nordwestlich lag, würden die Bugsierer, die Steuerschlepper, die Trossen von der Georgi Schukow lösen und selbige dann aus eigener Kraft ihrem fernen Ziel entgegenfahren. Der Reaktor war bereits von der Maschinenraum Besatzung auf Viertelkraft angefahren; das reichte vollkommen aus, um alle Systeme an Bord in Betriebsbereitschaft zu nehmen. Zu erkennen war dieser Vorgang an den hellen Dampffahnen, die aus dem hinteren Teil des Brückenbereiches nahe dem Sanitär- und Küchenbereich aufstiegen. Sobald die Besatzung ihr Schiff für die Hafenausfahrt bereit macht, werden die Maschine für die Grundversorgung in den Arbeitsmodus versetzt. Kein Schiff der Welt könnte die Massen an Batterien aufnehmen, um tagein - tagaus die Grundversorgung der schwimmenden Einheit über Tage oder Wochen aufrecht zu erhalten. Bei den traditionell motorisierten Schiffen dienen Batterien der Notversorgung, falls alle Strom erzeugenden Geräte - sprich Generatoren ausfallen sollten. Darüber hinaus dem Funkverkehr bei gleichem Problemfall. Bei den Selbstzündern leitet die Energie aus den Batterien den Startvorgang ein, alternativ die Druckluft aus den Pressluftflaschen. Hat mir mein alter Herr erklärt, der als U-Bootfahrer für Karl Dönitz Schiffe versenkte, bis er selbst zwei Mal versenkt wurde. Aber das nur am Rande. Das alles brauchte die Georgi Schukow nicht, wenngleich die Sicherheit an Bord eines Nuklear betriebenen Eisbrechers in keiner Weise mit den Sicherungsmaßnahmen an Bord eines normalen Schiffes, sei es Fracht- oder Passagierschiff zu vergleichen ist. Die schwimmenden Einheiten der Marine - sprich Militärschiffe, unterliegen wiederum ganz eigenen Sicherheits- und Abschottungsvorgaben, die kaum Bestandteil öffentlicher Fragestellungen geschweige denn Diskussionen sind.

      „Ja - ja, so ein Eisknacker hat schon seine Eigenheiten, und wenn man diese Eigenheiten respektiert, damit gefühlvoll umgeht, ist er der beste und zuverlässigste Freund“.

      Ganz in Gedanken versunken entlockte ein innerer Impuls meinem Langzeitgedächtnis diese Erinnerung an den Ausspruch von Randy Ballin, der mich auf Tauchfahrt zur Titanic einlud, damals, als wir im Nordatlantik mit der Octopus kreuzten und mit dem Tauchboot zur Titanic hinab glitten. Es war in dieser Region, wo im beginnenden Frühling nach aufbrechen der Packeisfelder Eisberge in allen Größen von der Drift nach Süden geschoben werden - mal mehr, mal weniger. Besonders nachts sind diese grauen Riesen von unberechenbarer Gefährlichkeit, wie es die Titanic im April 1912 zu spüren bekam. Wie heißt es doch in einem Lied -man sieht nur die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht. Stammt aus der Dreigroschenoper von Bert Brecht, einem deutschen Theaterdramatiker. Ein schnell fahrendes Schiff, die Wachen im Ausguck unzureichend ausgerüstet - schon ist die Katastrophe vorprogrammiert. Eintausendfünfhundert Menschen fielen diesem Unglück und der Überheblichkeit zahlreicher Verantworlicher zum Opfer, beim Untergang der Gustloff in der Ostsee im Januar 1945 starben sechs Mal so viele - Neuntausend Menschen, Männer, Frauen, Kinder, Matrosen und verwundete Soldaten. Aber daran war kein Eisberg schuld sondern die Torpedos eines russischen U-Bootes, das auf dem Grund der Ostsee in der Fahrrinne auf der Lauer lag, letztlich aber der verbrecherische Krieg eines teuflischen Diktators der es schaffte, die ganze Welt in einen globalen Krieg ungeheuren Ausmaßes zu stürzen. Die Annalen der Seegeschichte sind randvoll mit Katastrophen, und die Verluste am Menschenleben zählen in die Hunderttausende.

      „Weiter - weiter - schnell - schnell - zu den Booten ans Oberdeck“ hallte eine Megaphon Stimme über den Kai und die Hafenanlagen, während auf den Decks eines grauen, düster gestrichenen Schiffes Hunderte - wenn nicht Tausende Menschen wie die Lemminge um und übereinander rannten, trampelten, hetzten, wie entfesselt schrien, nur um zu jenen Booten zu gelangen, die aufgrund der Schräglage des Schiffes gar nicht mehr abgefiert werden konnten. Dieses mir unbekannte Schiff sank, daran gab es keinen Zweifel, und die Menschen auf diesem sinkenden Schiff versuchten sich verzweifelt