Der Bote. Hans-Joachim Rech. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans-Joachim Rech
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783966511759
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in den europäischen Alpen, in denen das sonst vom touristischem Wintersporttrubel quirlende Leben den lebensfrohen Zeittakt vorgab, hinlänglich zur Ruhe gekommen war. Der Auslöser dieser fast schon mystisch-geheimnisvollen Ruhe, die nur gelegentlich durch die donnernden Abgänge der Schneebretter und Lawinen weniger gestört denn mehr bereichert wurde, ließen die Kolkraben in ihrer sich selbst ergebenen Spielfreude im weißen Flockenwirbel, der unaufhaltsam alles und jegliches unter einem dicken geschmeidigen Teppich wie durch Zauberhand verschwinden ließ, wie der nordischen Mythologie nach die Gesandten des Göttervaters Odin - namentlich Hugin und Munin es seit Urzeiten tun, nach Sonnenaufgang auf Geheiß ihres Herrn und Gebieters Odin, auch genannt „Hrafnaess“ - Rabengott - in die Welt hinausfliegen um diese zu erkunden. Waren sie den „höfischen Zwängen“ erst einmal entflogen, gaben sie sich ausgiebig dem virtuosen Spiel ihrer fliegerischen Eleganz hin, die sie zur Winterzeit oftmals bis in den dicken flockigen Mantel des Winters purzeln ließ, in dem sie sich nur zu gerne und nach Herzenslust rollten und in aller Freundschaft balgten und plusterten. Odin wusste um die ausgeprägte Neigung seiner Freunde und Boten und gewährte ihnen großzügig dieses morgendliche Geschenk des brüderlichen Spieles, das ihre eherne Bindung über alle Zeiten hinweg unsterblich werden ließ. Bruder Aramis aus dem fernen „Fjellfräs“, dem Felsenland Norwegens, welches ursächlich an der Eindeutschung auf „Vielfraß“ beteiligt war, gleichwohl die eigentliche Namensgebung für den „Vielfraß“ auf „Felsenmarder“ deutet, da sich selbiges Tier aus der Familie der echten Marder, neben Tundra und Taiga auch im Felsenland Skandinaviens wohl fühlte und dort den zahlreichen Höhlen sein Zuhause fand, waren die Kolkraben aus seiner Heimat ein vertrauter Anblick. Schon als Kind auf dem großväterlichen Hof aufgewachsen, der an den Ausläufern einer sanft abfallenden, mit Kiefern dicht bewaldeten Hangzunge lag, war ihm das Spiel dieser majestätischen, in metallisch schimmerndem dunklem Blau-Schwarz ihres Gefieders gehüllten Vögel so vertraut wie die Gezeiten des Meeres, die zweimal am Tag die Landschaft und Ufer am Auslauf und Ende des Fjordes im Hinterland mit ihren segensreichen Fluten bedeckten und hernach wieder freigaben. Die Erinnerung daran lag lange zurück, sehr lange, aber sie war dennoch so frisch wie in jenen Tagen, als er in unbekümmerter Weise seine Lebenswelt zu erkunden, zu begreifen und zu verstehen begann, die sein Großvater mit einer schon sprichwörtlichen Engelsgeduld behutsam wie ein aufregendes Spiel, akribisch in allen Einzelheiten und Facetten ihres universalen Gefüges vor dem geistigen Auge seines kindlichen Entdeckergeistes erstehen ließ. Einer seiner prägenden Aussagen, an die sich Bruder Aramis oft erinnerte und die er auch selbst wenn es Not tat gebrauchte war jene - Wer die Gegenwart und Zukunft verstehen will, muss um das Vergangene wissen - wie recht er doch hatte, sein Großvater. Wo mag er wohl sein - just in diesem Moment? Schaute er ihm zu bei seinen Bemühungen ein klein wenig mehr an Gerechtigkeit und Toleranz an jene Erdlinge zu heften, ob dass diese sich nicht doch noch in ihrer Unvernunft gegenseitig eliminieren. Sein Großvater war einer der ihren, was er jedoch erst sehr spät von ihm erfuhr zu einer Zeit, als er - Aramis - jene Gabe an sich eigenhändig feststellte, darüber mehr erschrocken als überrascht und schon gar nicht glücklich schien. Sein Großvater nahm ihn danach behutsam „an die Hand“ und führte ihn in die „Liga der Zeitreisenden“ ein, ganz bedächtig, ohne Hast oder Eile, alles und jegliches seinem eigenen Wesen und Gedeihen anheim gelassen - nur beobachten, verstehen, begleiten und wenn wirklich bei allem für und wider nötig, erste - kaum merkliche Korrekturen setzen, die ausschließlich - wobei seine Betonung auf ausschließlich lag - das beobachtete Objekt - ob mineralogisch oder organisch Gegenstand seiner Betrachtung war. Durch seine geistige Einwirkung durfte nur das ausgewählte Objekt - in welcher Hinsicht auch immer - so beeinflusst werden, dass dies nur zu seinem Vorteil und nie zum Schaden anderer geschah. Daran hatten sich alle Zeitreisenden konsequent zu halten - bis in alle Ewigkeiten in allen Galaxien und Universen. In den Ausführungen seines Großvaters nahmen die mystischen Göttergestalten des Nordens ebenso ihren Platz ein wie die christlichen Sendboten, die aus der Mystifizierung des großen Opfergangs eines Jesus von Nazareth hervorgingen, eines Mannes, der das Leiden und die Qualen der Menschen, welche diese ihresgleichen sich selbst und anderen zufügten nicht länger hinnehmen wollte, und so beschloss dieser Jesus ein Zeichen zu setzen, - sein unsterbliches Leben als Opfer in der Körperlichkeit eines Menschen am Kreuze hingeben, um dadurch das Seelenheil aller Menschen für alle Zukunft zu bewahren. Dieser Jesus schloss einen Pakt mit den Urkräften, die alles und jegliches in allen Galaxien und Universen gestalten und fügen, und so geschah es dann, was wir heuer als das Wunder der Auferstehung - als österliche Mission anerkennen und feierlich begehen. Zuweilen sehnte er sich zurück an jene Zeiten der mystischen Mittsommernachtfeuer, wenn die Nächte des Nordens von der ewig leuchtenden Himmelsfackel wie ein einziger Tag erhellt wurden und das knisternde Flackern der Flammen zahlloser Feuer in ihrem feurigen Tanz die Geister der Ahnen und die magische Anwesenheit der Götter der Alten Zeit beschworen, die zu später Stunde aus ihrem Göttersitz in Walhall herabstiegen zu den Menschen und sich mit ihnen bei Met, Ochsenbraten und duftenden Bratäpfeln an ihren Lagefeuern wärmten und die alten, ewig jungen Geschichten erzählten, aus denen die Äonen der Zeit jene Legenden zauberten, die damals wie heute und in alle Zeit die Menschen in ihren Bann ziehen. Die Mittsommernachtfeuer und Feiern wurden nur noch von einem Tag im Laufe eines Jahres übertroffen - dies war die Zeit des Samhain - jener Tag und jene Nacht, wo die Zeiten aufhörten zu existieren, wo Tag und Nacht eins waren und es den Menschen gestattet war mit den Ahnen zu verkehren, in gleich welcher Art und Weise auch immer. Das Samhain gehörte neben dem Tag der Wintersonnenwende zu den höchsten „Feiertagen“ im Leben der Vorfahren, und beide mussten in aller Ernsthaftigkeit und Bereitschaft zur Erneuerung des Lebensbundes mit der ewig Licht und Wärme spendenden Sonne zelebriert und gefeiert werden. Er durfte bereits als Kind diesen Ereignissen beiwohnen und Dinge erleben, die viele Menschen ob ihres ungeübten Geistes schier in Verzweiflung gestürzt hätten. Die Götter des Nordens - Mystik - Legende - ein Fünkchen Wahrheit - Bruder Aramis war durchaus in der Lage auf diese Fragen eine plausible Antwort zu geben, aber er dachte nicht im Traum daran dieses wunderschöne Gebilde aus Träumen, Wünschen, Dichtung und Wahrheit irgendwelchen seelenlosen wissenschaftlichen Abstrakten preiszugeben. Sollten sie doch auf ihren eigenen Füßen diesen Weg der Erkenntnis gehen.

      „Guten Morgen Hugin - guten Morgen Munin - einen schönen Tag wünsche ich euch und entbiete meinen Gruß den Boten des großen Odin. Für mich ist es Zeit das Tagwerk zu beginnen - genießt die frühe Stunde die nur euch gehört - denn auch ihr habt die ganze Welt zu besuchen. Alles Gute auf eurem Flug - lebt wohl.“

      Bruder Aramis schloss das schmale Fenster seiner Klausur, öffnete die Feuerklappe des kleinen Ofens und schob noch einen Buchenscheit in das hungrige Maul des feurigen Wärmespenders, aus dem die Flämmchen einen tanzenden Ring aus feurigen Zacken bildeten - „Corona Borealis - der Feuerring“. Genüsslich verschloss Bruder Aramis die Klappe des Ofens, nahm seine Unterlagen zur Hand, ging die wenigen Schritte zur Tür der Klausur und blickte sich noch einmal um, bevor er selbige hinter sich schloss. Auf seinem wenig langen Weg in die Bibliotheka begegnete ihm keiner seiner Brüder oder Schwestern, wenngleich durch die angelehnte Tür zum Refektorium die um diese Zeit üblichen Küchengeräusche zu vernehmen waren - gedämpft aber dennoch hörbar, was sich jedoch in keiner Weise auf das Befinden der Zwölf Apostel auswirkte, die noch in ihren Klausuren beim Morgengebet weilten. Tatsächlich waren es nur noch elf an der Zahl, denn der Zwölfte war er - Bruder Aramis selbst, auf dem Weg in die Bibliotheka, wo er die Vorbereitungen für die Zusammenkunft treffen musste, wenn die Brüder und Schwestern nach dem Prandium, dem Frühstück, sich zur Zusammenkunft und zum Disput in der Bibliotheka einfinden würden. Entgegen der altehrwürdigen Mauern und der Abgelegenheit des Klosters würde niemand auf die Idee kommen in seinem Inneren Kommunikationseinrichtungen der neuesten Hightech Generation von Übermorgen zu vermuten, was im Gegensatz zur Bestückung der Klausuren oder der Cocain - Küche mit technischen Geräten im krassen Kontrast stand, was Bruder Aramis bei jedem Besuch des Refektoriums ein genügsames Schmunzeln entlockte, waren ihm die Küchengerätschaften aus seiner Kindheit nur zu gut vertraut. „Wenigstens diese Dinge sind der modernen Zeit nicht zum Opfer gefallen“ - so seine gedankliche Feststellung bei der kurzweiligen Betrachtung des Küchenpersonals - Laienbrüder und Laienschwestern, die ihren Dienst auch während ihrer Abwesenheit für Pilger und Wanderer versahen, die praktisch zu jeder Jahreszeit den Weg in die Abgeschiedenheit dieses Klosters fanden, ohne jedoch mit den Zwölf Aposteln in keiner Weise in Sicht- oder Sprachkontakt zu treten,