»Wenden wir uns wieder dem Gemälde zu: Die Darstellung der Anbetung der Heiligen Drei Könige ist ein traditionelles Sujet der christlichen Malerei. Das Besondere an diesem Bild von Leonardo ist der Aufbau. Vor Da Vinci wurden die Könige und Hirten in horizontaler Aufreihung nebeneinander angeordnet. Leonardo hat die Figuren aber um die Madonna als Mittelpunkt herumgruppiert. Die scheinbare Willkür der Verteilung findet einen Ausgleich in der strengen Dreieckskomposition, in der die Hauptfiguren eingebettet sind.«
Mit einem hörbaren Räuspern versuchte Capitano Dal Fiesco dem Direktor der Uffizien klarzumachen, dass zum gegebenen Zeitpunkt vor allem Fakten, die für die Ermittlungen relevant seien, im Vordergrund stünden. Ferro, der es nicht gewohnt war, sich an den Bedürfnissen anderer zu orientieren, warf Dal Fiesco dafür einen missbilligenden Blick zu.
»Dass die ›Anbetung der Könige‹ unvollendet ist, tut ihrer Bedeutung für die Renaissancekunst und darüber hinaus also keinen Abbruch. Das Bild ist typisch für die frühe Schaffensperiode Da Vincis. Und was hinzukommt: Eine Figur in dem Gemälde, ein junger Hirte, der rechts aus dem Bild blickt, ist das einzige bekannte jugendliche Selbstbildnis von Leonardo da Vinci. Wenn die ›Anbetung der Könige‹ nicht wieder auftaucht, wäre das ein unschätzbarer Verlust für die Uffizien, für Florenz, für Italien, für die abendländische Kultur und die gesamte Kunstwelt.«
Die Versicherungsermittlerin Chiara Frattini war die Erste, die sich nach Ferros Vortrag zu Wort meldete: »Sie haben recht. Der Verlust für die Kunstwelt ist unschätzbar. Sollte das Bild nicht mehr auftauchen, wäre das eine Katastrophe. Nicht nur für die Uffizien, für das OPD, für Florenz und für Italien, sondern auch für die AEIOU. Denn obwohl wir rückversichert sind, bringt uns dieser Diebstahl in eine brenzlige Lage. Noch befinden sich der oder die Täter in einem Umkreis von höchstens 300 Kilometer. Das Window of Opportunity, die ›Anbetung der Könige‹ zurückzubekommen, ist also noch sperrangelweit offen. Aber mit jeder Stunde schließt sich dieses Zeitfenster um ein paar Zentimeter. Da stellt sich mir vor allem eine Frage: Wo sind eigentlich die Kollegen vom Comando Carabiniere Tutela Patrimonio Culturale?«
»Die müssten jeden Augenblick da sein«, versicherte Brigadiere Donati. »Ich habe drei Minuten zuvor eine Textnachricht erhalten. Ein Capitano des Tutela Patrimonio Culturale befindet sich bereits in unmittelbarer Nähe des Opificio delle Pietre Dure.«
»Gut möglich, dass demnächst eine Lösegeldforderung der Täter eingeht. In diesem Fall wissen die Kollegen vom TPC am ehesten, wie man vorzugehen hat«, erklärte Dal Fiesco. »Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass ein gestohlenes Bild durch die Bezahlung eines angemessenen Lösegeldes wiederbeschafft worden ist.«
»Wie recht Sie haben, Capitano Dal Fiesco. Genau dafür sind wir da.«
Alle Augen richteten sich auf den schlanken Mitvierziger in Uniform, der eben in der Tür aufgetaucht war. »Ich darf mich vorstellen: Luca Lezzerini, Capitano des Comando Carabinieri Tutela Patrimonio Culturale, kurz TPC.«
Er schüttelte reihum die Hände. Mit Dal Fiesco und Donati war er ebenso bekannt wie mit Uffizien-Direktor Ferro. Während der Capitano des TPC in Stichworten auf den allgemeinen Stand gebracht wurde, winkte Dal Fiesco Brigadiere Donati zu sich.
»Habt ihr schon mit dem Nachtportier, diesem Giovanni Fiore, gesprochen?«
»Ja, die Kollegen meinen, sie hätten ihn aus dem Tiefschlaf geholt. Es weist nichts darauf hin, dass er mit dem Diebstahl etwas zu tun hat. Kann natürlich sein, dass er der Komplize des Täters ist, aber Sie haben ja gehört: Fiore ist unbescholten und arbeitet schon lange hier«, erwiderte der Brigadiere.
»Hm«, quittierte Dal Fiesco die Ausführungen Donatis. »Und was haben die Videos der Sicherheitskameras ergeben?«, bohrte er gleich weiter.
»Noch nicht viel. De Luca und Calabrese arbeiten sich in einem Aufenthaltsraum für das Personal hinter der Portiersloge durch das Videomaterial. Sie haben mit den Kameras vor und in der Restaurationswerkstatt sowie mit den Kameras im Eingangsbereich innen und außen begonnen. Anscheinend wusste der Täter ganz genau, wo die Kameras postiert sind. Man sieht bloß Schatten vorbeihuschen. Nicht mehr. Nur in dem Moment, als der Mann mit dem Mondo-Animali-Outfit und der vermeintlichen Schlangenfalle vor der Portiersloge auftaucht, ist er etwas länger im Bild. Aber er hat seine Kappe so tief ins Gesicht gezogen, dass man nicht wirklich viel erkennen kann«, schloss Donati. »Der wusste, was er tut …«
Donatis Mobiltelefon vibrierte. Der Brigadiere nahm das Telefongespräch entgegen.
»Guten Morgen, Carabinere Pinardi, was habt ihr?«
Ein Lieferwagen von Mondo Animali sei um 7.55 Uhr mit einer der Verkehrskameras in Höhe der Autobahnabfahrt Firenze Nord in Richtung Bologna erfasst worden, erfuhr Donati.
»Ein erster Anhaltspunkt«, schöpfte Capitano Dal Fiesco Hoffnung und strich sich über den Kopf. »Schreib den Lieferwagen bitte im Umkreis von 300 Kilometer zur Fahndung aus. Und frag bei Mondo Animali nach, ob ihnen ein Lieferwagen abgeht. Unabhängig davon sollen die Kollegen von der Autobahnpolizei jeden Mondo-Animali-Lieferwagen inspizieren, der ihnen unter die Augen kommt. Ich gehe zwar davon aus, dass der Täter längst das Fahrzeug gewechselt hat, aber vielleicht finden wir in dem Wagen Hinweise.«
SPRITZTOUR RICHTUNG MITTELMEER
Marcello, haben die Kollegen von der Spurensicherung ihren Bericht schon geschickt«, erkundigte sich Capitano Dal Fiesco bei Brigadiere Donati, während der gesamte Tross von Collocinis Büro wieder in Richtung Restaurationswerkstätte marschierte.
»Nein, noch nicht«, erklärte Donati. Wie sollten sie denn auch – Carbone und sein Team hatten den Ort des Geschehens doch erst vor 30 Minuten verlassen. Ungeduld bringt uns jetzt auch nicht weiter, dachte Donati bei sich, unterließ es aber, seinen sichtlich angespannten Chef mit dieser Lebensweisheit zu konfrontieren. Just in dem Moment läutete sein Mobiltelefon erneut. Die Kollegen von der Autobahnpolizei wollten wissen, was sie denn in dem Lieferwagen von Mondo Animali, der auf der Autobahn auf der Höhe von Pistoia wenige Autolängen vor ihnen in Richtung Lucca unterwegs sei, erwarte.
Brigadiere Donati beschränkte sich in der Schilderung der Umstände auf das Notwendigste: »Kurz gesagt geht es um einen Kunstraub. Wir vermuten in dem Lieferwagen ein wertvolles Renaissancegemälde, das bei einem etwaigen Einsatz keinesfalls Schaden nehmen darf. Versuchen Sie, den Wagen anzuhalten, ohne dass es zu einem wie auch immer gearteten Unfall kommt. Zwei Kollegen vom Comando Carabinieri Tutela Patrimonio Culturale machen sich in dieser Minute auf den Weg. Und halten Sie uns bitte auf dem Laufenden.«
Luca Lezzerini von der Carabinieri-Dienststelle zum Schutz des italienischen Kulturerbes verließ das Opificio delle Pietre Dure im Laufschritt und deutete dem noch immer telefonierenden Donati per Fingerzeig, dass man per Mobiltelefon in Kontakt bleiben solle. Fünfundzwanzig Minuten – so schätzte Lezzerini – werde er trotz Blaulicht und Sirene bis Pistoia im Nordwesten von Florenz schon benötigen. Wäre doch zu schön, wenn man das Gemälde sofort seinem Besitzer zurückbringen könnte. So ganz wollte Lezzerini aber nicht daran glauben: Zu professionell waren der oder die Täter bisher vorgegangen. Sie würden doch nicht so einfallslos sein und stundenlang mit dem Fluchtauto durch die Gegend fahren? Vielleicht war das zweite Fluchtauto nicht am verabredeten Ort gewesen. Vielleicht hatte es mit dem zweiten Wagen eine Autopanne gegeben. Auch Kriminelle waren schließlich nicht davor gefeit, dass eine Zündkerze den Geist aufgab oder die Batterie ihr Leben aushauchte. Beim Alfa Romeo Giulia Quadrifoglio am Eingang zum Opificio delle Pietre Dure angekommen, schwang sich Lezzerini auf den Beifahrersitz. Neben ihm hatte wenige Sekunden davor Brigadiere Vincenzo Corridori Platz genommen, das Blaulicht am Dach des 150 PS starken Boliden platziert und die Sirene eingeschaltet. Der Alfa brauste los, und da Corridori ein guter und sicherer Fahrer war, rasten die beiden schon nach wenigen Minuten auf der A11 dahin. Noch hatten die Kollegen von der Autobahnpolizei keinen Zugriff vermeldet, schließlich galt es nicht nur, den Lieferwagen und dessen Inhalt zu schützen, sondern auch Unfälle auf der Autobahn