»Signora Frattini ist meines Wissens unten bei den Portieren und schaut sich die Videoaufnahmen der Sicherheitskameras an. Und Signore Bianchi hat das Haus vor rund einer Stunde verlassen. Die Transportkiste von Mondo Animali hat er mitgenommen. Er wollte sie hier in Florenz in einem Labor untersuchen lassen. Und die beiden jungen Herren aus dem Tierheim sind auch schon weg. Sie stimmen sich aber mit Bianchi ab, und eventuell kommen sie heute um 18 Uhr wieder, um gemeinsam mit ihm Ausschau nach der Schlange zu halten. Natürlich ist es in hohem Maße wahrscheinlich, dass es nie eine Schlange gegeben hat – aber ganz ausschließen kann man es nicht, hat auch Bianchi gemeint. Von der Analyse der Transportkiste erwartet er sich weitere Anhaltspunkte.«
»Ok, danke, Cesare«, sagte Collocini, fixierte Poletti und raunte ihm zu: »Und wir zwei müssen jetzt bei Uffizien-Direktor Ferro zu Kreuze kriechen. Sonst bekommen wir von ihm nie wieder einen Auftrag. Sei so gut und schlage ihm vor, dass er sich morgen Mittag um 13 Uhr in der Cantinetta Antinori mit mir treffen möge.«
Zwei Etagen tiefer blätterte Chiara Frattini in der Besucherliste des Vortages und ließ sich von Chefportier Bruzzo erläutern, aus welchen Beweggründen jeder Einzelne in der Liste das Opificio delle Pietre Dure besucht hatte. Frattini lauschte aufmerksam und machte sich zu diesem oder jenem Besucher Notizen. Auf den ersten Blick erschien ihr – und da ging sie mit Bruzzo konform – nichts und niemand auffällig. Sämtliche eingetragene Besucher waren aus der Liste auch wieder ausgetragen worden.
»Gestern war eigentlich ein ganz normaler Tag, wenn man von der Lieferung der Boa constrictor absieht«, zuckte der korpulente Chefportier mit den Schultern. »Ins OPD wird ja alles Mögliche geliefert: Gemälde, Vasen, Möbel, Lampen, Skulpturen, Material für Restauratoren, Bücher, Unterlagen und natürlich auch mal eine Pizza oder Sushi. Aber schauen Sie sich ruhig auch die Besucherlisten vergangener Tage an! Die sehen ganz genau so aus. Ich kann da keine Abweichungen erkennen.«
Frattini dankte Bruzzo, erbat vom Chefportier lediglich eine Kopie der Besucherliste vom Vortag und gesellte sich zu den Carabinieri Gianni De Luca und Enrico Calabrese, die sich seit fast zwei Stunden mit den Überwachungsvideos beschäftigten: Aufzeichnungen vom Eingangsbereich innen und außen sowie Aufzeichnungen von der Etage, auf der sich die Restaurationswerkstätten befanden. Nach einem groben Scan der Videos im Schnelldurchlauf achteten De Luca und Calabrese nun in der Feinanalyse auf jedes Detail und drückten nur an jenen Stellen auf »Fast Forward«, wo offensichtlich gar nichts geschah. Das Hauptaugenmerk der beiden Carabinieri lag – und das war der erklärte Auftrag ihrer Vorgesetzten Dal Fiesco und Donati – auf den Abend- und Nachtstunden. »Findet heraus, ob jemand das Gebäude zwischen 18.00 und 22.40 Uhr über den Haupteingang betreten hat. Denn um 22.40 Uhr ging der erste Alarm beim Nachtportier ein«, lautete ihre Mission.
»Na, wie geht’s euch? Schon etwas gefunden?«, wollte Frattini von den beiden Jungpolizisten wissen, die ihre Uniformjacken und ihre Kappen abgelegt hatten.
»So richtig aufschlussreich war das jetzt noch nicht«, meinte Calabrese. »Aber ein paar Dinge sind doch interessant. Erstens: In der Transportkiste von Mondo Animali war sehr wohl etwas Lebendiges, und die Wahrscheinlichkeit, dass es eine kleine Schlange oder zumindest ein Tier mit einem langen, dünnen Schwanz war, ist sehr groß. In einer Einstellung ist ganz klar zu sehen, dass sich etwas aus der Kiste in Richtung Treppenhaus bewegt. Wenn ich es richtig verstanden habe, kommt der Schlangenexperte aus Rom heute Abend ohnehin noch einmal hierher. Zumindest kennen wir die Richtung, aus der der Gemäldedieb mitten in der Nacht in die Werkstatt gekommen ist. Es ist zwar nur ein undeutlicher Schatten, den man bei genauem Hinsehen erkennen kann, aber wenn man sich dort oben umsieht und dann noch einmal den Nachtportier interviewt, dann sollte man eruieren können, wo sich der Dieb versteckt hat. Und wenn man erst einmal sein Versteck gefunden hat, dann stößt man im Idealfall auch auf Spuren«, ereiferte sich Calabrese.
Dass er und De Luca vergleichsweise offen mit Chiara Frattini plauderten, hatte seinen Grund: Capitano Dal Fiesco hatte die beiden dahingehend gebrieft, dass man mit der Versicherungsdetektivin eng zusammenarbeiten solle, da sie sich erstaunlich gut in Kunstdiebe hineinversetzen könne.
»Wenn wir mit ihr kooperieren, wird sie auch mit uns kooperieren, und vor allem wissen wir dann immer, wo sie gerade ist und welche Spur sie gerade verfolgt«, hatte Dal Fiesco mit einem Augenzwinkern angemerkt.
EIN PERFEKTER ARBEITSPLATZ
Seit rund zehn Minuten starrten die beiden nun auf das 246 x 243 Zentimeter große Bild. Weder der Mann, der sich Francesco nannte, noch Gabriele Schillaci machten Anstalten, die feierliche Stille an diesem April-Abend zu stören. Bevor die beiden das Bild vorsichtig aus der Transportkiste genommen und auf die vorbereitete Staffelei gestellt hatten, hatte Francesco einen Chianti Classico Riserva aus Lamole geöffnet, zwei Gläser eingeschenkt, und die beiden hatten sich zugeprostet. Die unterschiedlichsten Gedanken schossen Schillaci durch den Kopf. Vor allem aber stellte er sich die Frage, was wohl seine Aufgabe in Zusammenhang mit dem weltbekannten Gemälde sein werde.
»So könnte die ›Anbetung der Könige‹ tatsächlich einmal ausgesehen haben«, meinte Schillaci schließlich. »Wer immer diese Kopie angefertigt hat, versteht etwas von seinem Handwerk, vor allem, weil er die längst fällige Restaurierung des Gemäldes vorweggenommen hat.«
»In der Tat«, erwiderte Francesco, dessen Blick sich noch immer nicht von Leondardo da Vincis Meisterwerk gelöst hatte. Er strahlte über das ganze Gesicht. Jeden Quadratmillimeter des Gemäldes schien er mit seinen glänzenden Augen abzutasten.
Seit zwei Stunden war Schillaci nun bereits vor Ort, wobei der schlacksige Kunststudent keine Ahnung hatte, wohin ihn Franceso denn nun eigentlich gebracht hatte. Ein paar Tage zuvor hatte dieser ihn mit unterdrückter Telefonnummer angerufen und erklärt, dass er ihn am 5. April pünktlich um neun Uhr Vormittag am Flughafen in Bologna abholen werde, dass er sich auf einen Aufenthalt von zumindest drei Monaten einstellen und sein Umfeld entsprechend von einem Forschungsaufenthalt in Südamerika informieren solle.
Als Schillaci dann zum vereinbarten Zeitpunkt mit seinem Koffer vor dem Ankunftsbereich des Flughafens von Bologna wartete, fuhr ein fensterloser weißer Lieferwagen vor. Francesco saß am Steuer des Vans, wies ihn an, vorne einzusteigen und sich anzuschnallen, und reichte ihm, nachdem sie losgefahren waren, eine Flasche Wasser zur Erfrischung. Wenige Minuten später hatte ihn die Müdigkeit übermannt. Das Nächste, woran er sich erinnern konnte, war Francesco, der vor der geöffneten Beifahrertür stand, ihn anstupste und sagte: »Signore, wachen Sie auf! Wir sind da.«
Instinktiv blickte Schillaci auf seine Armbanduhr und sah, dass fast zwei Stunden vergangen waren, seit er in Bologna in den Van gestiegen war. Er griff in seine Jackentasche nach dem Smartphone. Es war nicht mehr an seinem Platz.
»Keine Sorge, ich habe es Ihnen vorsorglich abgenommen. Sie bekommen es wieder«, beschwichtigte Francesco, der Schillaci beobachtet hatte, und half ihm gleich darauf mit dem Gepäck. Schillaci war zu müde, um zu protestieren. Seine Augen gewöhnten sich nur langsam an das Tageslicht. Und schließlich hatte er noch ein zweites Mobiltelefon im Koffer.
Der Van parkte vor einem inmitten einer Gartenlandschaft gelegenen Haus, das – so erklärte ihm Francesco – in den nächsten Wochen seine Heim- und Arbeitsstätte sein würde. Schillacis Schlafzimmer lag im ersten Stock, gleich daneben befand sich das Badezimmer, und wenn er es richtig verstanden hatte, durfte er es sich auch in den unteren Räumen bequem machen, schließlich würde er das Haus für die Zeit seines Aufenthalts ganz alleine bewohnen.
»Richten Sie sich ein, verstauen Sie Ihre Sachen. In einer halben Stunde essen wir zu Mittag.« Und schon hatte Francesco die Fahrertür des Lieferwagens – eines Fiat Talento mit Hochdach – geschlossen, sich ans Steuer gesetzt und war davongebraust. Von dem Mittel, das man ihm offensichtlich verabreicht hatte, noch leicht benommen, blickte Schillaci dem weißen Van hinterher. Rund 20 Meter vom Haus entfernt, fuhr das Auto in eine Kurve und war wenige Sekunden später zwischen einigen Zypressen verschwunden. Exakt 30 Minuten danach stand hinter dem Haus auf einem hölzernen Gartentisch das Mittagessen bereit. Wie es dorthin gekommen war, wusste Schillaci