Kleine politische Schriften. Walter Brendel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Walter Brendel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783966511858
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Gutsherren sind richtige Hechte im Karpfenteich. Die armen Karpfen, das heißt die Kleinbauern, sind bloß dazu da, um die vornehmen Hechte zu mästen. Fürsten brauchen dies nicht zu sein, nicht einmal Adlige; ein guter Bürgerlicher, der sich für »sein« aus dem Mark des arbeitenden Volkes geschlagenes Geld ein »Rittergut«, oder was sonst die Bezeichnung sei, kauft, wird ein ebenso guter Hecht wie ein reichsunmittelbarer Fürst oder Landjunker mit ellenlangem Stammbaum. Wenn man Hechtszähne und einen Hechtsmagen hat und Karpfen in der Nähe, so lernt sich der Karpfenfang und das Karpfenfressen gar rasch. Mitunter hat der Hecht philanthropische Anwandlungen; er sucht das Bäuerchen, welches zu den verspeisten Äckern gehörte, wenigstens vor unmittelbarem Verderben zu retten. So ist es im Odenwald vorgekommen, daß ein ganzes Dorf von dem Grafen von Erbach gekauft und die Einwohnerschaft samt dem Bürgermeister und Dorfpolizeidiener dann hübsch fürsorglich nach Amerika geschickt wurde, wo die Leute nun die Segnungen republikanischer Freiheit genießen. Das war gewiß »liberal«, in doppelter Beziehung, und – der Herr Graf hat unzweifelhaft seine Rechnung dabei gefunden.

      Man kann zugeben, daß die Lage unserer Landbevölkerung in manchen Gegenden Deutschlands nicht so schlimm ist wie in England und Frankreich; auch unsere industriellen Zustände, für welche die gleichen ökonomischen Gesetze gelten, sind noch nicht so auf die Spitze getrieben wie in den beiden genannten Ländern, was aber nicht hindert, daß sie, und zwar mit wachsender Geschwindigkeit, genau in der nämlichen Richtung vorwärts drängen. Mag hier und da auf dem Lande der Bauer und Landarbeiter sich noch vergleichungsweise eines idyllischen Daseins erfreuen – nach den ehernen Gesetzen der heutigen Gesellschaftsorganisation eilen wir unaufhaltsam im Norden und Osten englischen, im Süden und Westen zunächst französischen, schließlich aber, wenn nicht beizeiten die Entwicklung in andere, heilsame Bahnen geleitet wird, ebenfalls durch die notwendige Aufsaugung der kleinen Bauerngüter englischen Zuständen zu. Der mecklenburgische und ostpreußische Bauernknecht ist schon jetzt nicht besser dran als der englische agricultural labourer (Landarbeiter); ja in mancher Beziehung noch schlimmer, denn er vereinigt in seiner Person das Elend des modernen Lohnsklaven und die Rechtlosigkeit des mittelalterlichen Leibeigenen. Der deutsche Ackerknecht steht unter dem Stock, kann von seinem Gutsherrn zum Krüppel, ja totgeschlagen, wenn er sich muckst, niedergeschossen werden, ohne daß ein Hahn danach kräht. Das wenigstens kann dem englischen Landarbeiter nicht geschehen. Aushungern darf ihn der Pächter oder Gutsherr, ihm das Mark aussaugen, ihn ins Armenhaus werfen, nachdem er den letzten Rest von Arbeitskraft aus ihm herausgepreßt hat, aber ihn schlagen! Nimmermehr. Abgesehen davon, daß kein englischer Landarbeiter es sich ungestraft gefallen ließe, würden auch die eigentumstollsten englischen Friedensrichter und Geschwornen dem Pächter oder Gutsherrn, der einen Arbeiter, ohne von ihm angegriffen zu sein, körperlich mißhandelte, zu einer empfindlichen Strafe verurteilen.

      Es fehlt uns für Deutschland jene Fülle des statistischen Materials, die für die ländlichen Verhältnisse Englands vorhanden ist; hat man doch vor einer die sozialen Zustände beleuchtenden Statistik bis jetzt in unserem Vaterlande eine heilige Scheu. Wenn Kinder vor etwas Unangenehmem die Augen zukneifen, vermeinend, daß das nicht Gesehene auch nicht existiere, so können wir ob solch kindlicher Naivität lachen. Wenn aber Staatsmänner, wenn Regierungen dasselbe tun, so ist das sicherlich nicht zum Lachen und verrät jedenfalls, abgesehen von der törichten Handlungsweise, ein sehr schlechtes Gewissen. Indes ermangeln wir doch nicht aller statistischen Anhaltspunkte. Nach einer Berechnung in den »Landwirtschaftlichen Annalen« des Mecklenburger patriotischen Vereins betrug 1865 die jährliche Gesamteinnahme einer wohlsituierten Landarbeiterfamilie, einer Familie von Dienst- oder Instleuten 283 Taler, wovon jedoch 100 Taler für sogenannte »Scharwerker« abzuziehen sind, so daß sich die Einnahme auf 183 Taler, das ganze Jahr hindurch, für die Arbeit von Mann, Frau und Kindern, beläuft. Und wohlgemerkt: diese Berechnung ist von Gutsbesitzern gemacht, die ein Interesse daran haben, die Dinge in rosigem Licht erscheinen zu lassen. Mit den »Scharwerkern« aber hat es folgende Bewandtnis: Unter den ländlichen Arbeitern gibt es verschiedene Abstufungen; die höchste und relativ am günstigsten gestellte Klasse sind die eben erwähnten »Dienstleute« oder »Instleute«, ehemalige Leibeigene oder Abkömmlinge von Leibeigenen. Dieselben stehen zu dem Gutsherrn in einem dauernden Dienstverhältnis, welches sich von der Leibeigenschaft nur durch den Namen unterscheidet; sie sind verpflichtet, das ganze Jahr hindurch mit Frau und Kind gegen Tagelohn und Naturalemolumente [Naturaleinkommen] zu arbeiten. Der Tagelohn bewegt sich zwischen 2 und 5 Silbergroschen, und die Naturalemolumente sind: eine Wohnung, die der des englischen Landarbeiters an Komfort ungefähr gleich ist, die Nutznießung von œ bis 3 Morgen Landes, welches für den Gutsherrn den mindesten Wert hat, Futter für eine Ziege, wenn's hoch kommt für eine Kuh. Dafür haben die »Dienstleute« jahraus, jahrein an allen Werkeltagen, im Sommer auch am Sonntag, im Winter durchschnittlich elf, im Sommer sechzehn Stunden den Tag zu arbeiten. Der Drescherlohn wird meistens in Getreide verabfolgt und beträgt »in guten Jahren« für die Familie 30 bis 36 Scheffel. Wie wir gesehen haben, wird der Gesamtwert dieser Vergütungen in Geld und Naturalemolumenten von den Gutsherren auf zirka 283 Taler pro Familie veranschlagt. Um die geheischte Arbeit verrichten zu können, ist nun aber jede Familie kontraktlich verpflichtet, auf ihre Kosten einen oder zwei »Scharwerker« zu halten, junge Personen männlichen oder weiblichen Geschlechts, meist des letzteren, die als Untersklaven dieser Sklaven die Arbeit des Gutsherrn zu tun haben.

      Ist die Ernte gut auf den Äckerchen, welche der gnädige Gutsherr den »Dienstleuten« überlassen hat, so halten diese mit Ach und Krach Leib und Seele zusammen; ist die Ernte jedoch schlecht – und das ist nichts Seltenes, da in der Regel das Land von der miserabelsten Qualität ist –, so tritt ein entsetzlicher Notstand ein.

      Ich stellte die Wohnungen der »Dienstleute« mit denen der englischen Landproletarier auf eine Stufe. Man höre: Nach zuverlässigen Schilderungen sind drei, vier, oft noch mehr Familien in eine Wohnung zusammengepfercht, die kaum für eine einzige Familie ausreicht; die Betten sind schmutzige Lappen, die zerbrochenen Fensterscheiben mit Papier verklebt oder mit Lumpen zugestopft, die halbnackten Kinder im Schmutz fast verkommend.

      Natürlich kann in solchen verpesteten Räumen kein gesundes Geschlecht aufwachsen; die Sterblichkeit der Kinder ist außerordentlich groß, woran insbesondere die erzwungene Abwesenheit der Mütter, die wenige Tage nach dem Wochenbett wieder zur Arbeit gehen müssen, wesentlichen Anteil hat. Die Weiber altern sehr früh, junge Mütter von vierundzwanzig, fünfundzwanzig Jahren sind runzlig und verblüht, als wären sie fünfzig, wie denn überhaupt die Weiber auf dem Lande, im Widerspruch mit der gewöhnlichen Ansicht, weit rascher altern als in der Stadt, wo die Frauen wenigstens nicht so allgemein zu schweren, die Leistungsfähigkeit des weiblichen Organismus übersteigenden Arbeiten angehalten werden. Der Gutsherr hat seinen »Kontrakt«, seinen »Schein«, und er besteht auf seinem Schein wie Shylock. Die ganze Arbeitskraft der ganzen Familie gehört ihm – da darf die Frau sich nicht schonen, wenn sie das Kind unter ihrem Herzen trägt –, sie muß schanzen für den Gutsherrn, dem ihre Arbeitskraft gehört, laut »Schein«; und ist das Kind zur Welt gekommen, so darf sie ihm ihre Muttersorge nicht widmen, nicht an die eigene Stärkung denken – sie muß hinaus, das arme Würmchen daheim lassen im Schmutz, mit dem vergiftenden Lutschbeutel im Mund, in der Pflege von kleinen, unverständigen Kindern, die noch zu schwach und unverständig sind, um mit Nutzen ins Joch des Kapitals gespannt zu werden – sie muß hinaus auf den Hof, für den Gutsherrn schanzen, dem ihre Arbeitskraft gehört, laut »Schein« – ihre ganze Arbeitskraft, ihr ganzes Mark bis auf den letzten Tropfen. Bricht sie zusammen, wird sie infolge der Überanstrengung durch eine akute Krankheit schnell weggerafft oder durch ein chronisches Leiden auf das Siechbett geworfen, arbeitsunfähig, sich selbst und den Ihrigen zur Last – nun, »es ist die erste nicht«, der Gutsherr hat nur getan, was »Recht« war, er hat nur auf seinem »Schein« bestanden. Wer will ihn anklagen? Er ist unschuldig wie das neugeborene Kind, dessen Mutter der »Schein« so schlecht bekommen ist, und das vermutlich so klug sein wird, der besten der Welten wieder Valet zu sagen, ehe es zur Vermehrung der Konkurrenz und zur Verschärfung der sozialen Gegensätze beitragen kann. Und verloren hat er auch nichts. Ja, wäre es ein Pferd, ein Ochse, ein Schaf, eine Ziege – das repräsentiert einen Wert, der sich in Geld ausdrücken läßt und der auf das Verlustkonto geschrieben werden muß, falls das betreffende Stück Vieh krepiert oder verunglückt; aber dieses unbefiederte zweibeinige Stück Vieh, das von unvorsichtigen Gefühlsduselern unter die Menschen