Die Schreibenden fahren fort: «Die Strukturelle Lerntherapie ist allerdings nicht einfach. Neben einer gründlichen psychotherapeutischen Ausbildung, Selbsterfahrung und Erfahrung insbesondere in der Arbeit mit Schülern ist auch viel ‹pädagogisches› Know-how bezüglich der Indikation und Durchführung von Funktionstrainings, Erstlese- und Schreibunterricht nötig. Der Berufsanfänger ist mit der Strukturellen Lerntherapie weit überfordert». Sie meinen allerdings, dass das konventionelle Training der Rechtschreibung – als einziges Teilprogramm – auch an Personen ohne fachpsychologische Ausbildung delegiert werden könne, da es im Therapiepaket der einfachste Teil sei (a.a.O., S. 266f.).
Das Projekt ist am Beispiel der defizitären Lernstörung Legasthenie entwickelt worden. Es gibt aber keinen Grund, die Strukturelle Lerntherapie nicht auch auf andere Indikationen anzuwenden – es sei denn, dass man nicht mehr so bequem Hilfsmittel und Unterlagen einfach kopieren kann, sondern eigene Anpassungen erarbeiten muss.
Als Motto vor der eigentlichen Einführung setzen Betz und Breuninger wenige Sätze – darunter: «Das Leben ist nicht gerecht. Der Leistungsgesellschaft und ihren inhumanen Schulen fallen tausende von Schülern zum Opfer. […] Ihnen möchten wir helfen, mit sich, mit dem Leben und ihrer Schule besser zurecht zu kommen» (1987, S. 1).
1.4.3 Zwischenbilanz
Bei unserer Suche nach ältesten Nennungen des Begriffs Lerntherapie stehen wir bei 1987. Wir wissen allerdings immer noch nicht, wer den Begriff der Lerntherapie ursprünglich eingeführt hat. Grund genug, eine zweite Sondiergrabung vorzunehmen, um die Sprache der Archäologie noch einmal zu bemühen.
Ich erspare den Lesenden einen Erfahrungsbericht zur tagelangen Beschäftigung mit Abfragen verschiedener Suchmaschinen und Katalogen von Bibliotheken. Hingewiesen sei lediglich darauf, dass ich irgendwann entnervt das tat, was uns im Zusammenhang mit seriöser Arbeit aus Anflügen von Scham zögern lässt: ich fragte Wikipedia.[9] Und sieh an: ich fand den entscheidenden Hinweis auf Brigitte Rollett, die den Begriff Lerntherapie bereits in den frühen 70er-Jahren nicht nur verwendet, sondern konzeptuell auch begründet hat. In einem der (teilweise nicht mehr leicht zugänglichen) Berichte stosse ich auf den Satz:
Obwohl Ansätze zu einer gezielten Beeinflussung von Lernstörungen auch im Rahmen der Psychotherapie entwickelt wurden […], hat sich die systematische Therapie von Lernausfällen vor allem auf der Grundlage von Forschungen im Bereich der pädagogischen Psychologie und der empirischen Unterrichtsforschung als eigenständige therapeutische Richtung entwickelt. Zur Abhebung von anderen therapeutischen Zielsetzungen haben wir dafür die Bezeichnung ‹Lerntherapie› vorgeschlagen (Rollett & Bartram, 1975, S. 81f.).
1.4.4 Brigitte Rollett – die ‹Doyenne der Lerntherapie›
Bevor Brigitte Rollett 1979 als Leiterin der Abteilung für Entwicklungspsychologie und pädagogische Psychologie des Instituts für Psychologie an die Universität Wien berufen wurde, hatte sie ab 1964 Professuren für pädagogische Psychologie an der Pädagogischen Hochschule Osnabrück, der Gesamthochschule Kassel und der Ruhr-Universität Bochum inne.[10] Heute ist sie emeritiert – und immer noch aktiv.
Sie hat zusammen mit Mathias Bartram ab den 70er-Jahren das Langzeitprojekt der Lerndiagnose und Lerntherapie entwickelt und wissenschaftlich evaluiert. Die frühen Publikationen dazu erfolgten in Kooperation mit Bartram.[11] Dies ist von Bedeutung: das Konzept ist somit in Deutschland entstanden – die wissenschaftliche Forschung dazu ging ab 1979 in Wien weiter.
Ausgangspunkt bildet die Erfahrung, dass «in der Praxis der Erziehungsberatung und der Kinderpsychotherapie» zwar eine «Mehrzahl der Kinder wegen Schulschwierigkeiten vorgestellt wird», Lernprobleme aber häufig nur als «Symptom anderer emotionaler Störungen» verstanden werden. Eine Lerntherapie im engeren Sinne bleibt in der Regel dem «Geschick» und der «natürlichen Begabung» des Nachhilfelehrers überlassen (Rollett & Bartram, 1975, S. 81). «Charakteristisch für den lerntherapeutischen Ansatz ist, dass Lernstörungen nicht als bloßes Symptom angesehen werden, sondern als Teil der Ursachenmatrix für das gestörte Verhalten des Kindes. Die therapeutische Beeinflussung der Lernstörung wird daher systematisch in den Behandlungsplan miteinbezogen» (a.a.O., S. 82). Voraussetzung dazu ist eine differenzierte Lerndiagnose, die den schulischen Leistungsstand erfasst und mögliche Störbedingungen des Aneignungsprozesses im Persönlichkeitsbereich oder in sozialen Beziehungen der Klienten identifiziert.
Und weiter: «Um Chancengleichheit zu gewährleisten, ist es notwendig, die Techniken der Lerndiagnose und -therapie auf erfahrungswissenschaftlicher Grundlage aufzubauen und sie in der Schule zu institutionalisieren», wie dies mit dem Beispiel der «Implementation der Legasthenikerförderung im Bildungsplan des heutigen Schulsystems» gelungen ist (a.a.O., S. 82). Das Projekt verfolgt also das ambitionierte Ziel einer ins Schulsystem integrierten Lerntherapie – was auch impliziert, dass sie allen ihrer Bedürftigen offenstehen sollte.
Die Autorin und der Autor definieren die Lerntherapie sehr allgemein: Sie «beschäftigt sich mit jenen Verfahren, die die Herstellung eines bestimmten ‹sachstrukturellen Entwicklungsstandes› ermöglichen» (a.a.O., S. 82). Da muss man genau hin-lesen: Die Lerntherapie wird hier nicht als die Tätigkeit der Lerntherapeutin oder des Lerntherapeuten verstanden, sondern als Sammlung verschiedener Verfahren verschiedener Fachleute.[12] Diese reichen von heilpädagogischen Programmen zur Behebung spezifischer Lernstörungen, von pädagogisch-psychologischer Beratung von Klienten, Eltern und Lehrkräften bis hin zu psychotherapeutischen Einzel-, Gruppen- oder Familientherapien. Im Terminus des sachstrukturellen Entwicklungsstandes steckt einerseits Normatives, welches durch die schulstufenspezifischen Curricula des Bildungssystems vorgegeben ist. Anderseits muss der Begriff für die Lerntherapie weiter gefasst werden, damit im Prozess der Klärung der Ziele der therapeutischen Intervention «die Wünsche und Bedürfnisse des Klienten und der unmittelbar betroffenen Sozialpartner» ebenso einbezogen werden können, «wie die lerndiagnostischen Befunde» (a.a.O., S. 83).
Wo lerntherapeutische Interventionen geplant und wissenschaftlich evaluiert werden sollen, sind Verfahren aus der Kinderpsychotherapie, aus der Heilpädagogik und der empirischen Unterrichtsforschung zu integrieren – was methodische Fragen türmt, deren «Problematik in der Regel hinsichtlich ihrer Komplexität unterschätzt wird» (a.a.O., S. 115). Die jeder Behandlung notwendigerweise vorangehende Entwicklung einer Zielmatrix muss zunächst mit einer individueller Lerndiagnose (die aktuell gegebene Verhaltensmatrix) abgeglichen werden. Aus diesem Vergleich erfolgt in einem dritten Schritt eine Bestimmung konkreter Behandlungsziele bezüglich der zu erlernenden Sachbereiche und der Beseitigung von – innerpsychischen oder sozialen – Störbedingungen des Lernvorgangs. Erst jetzt können Prioritäten lerntherapeutischer Ziele in einen Zeitplan umgesetzt und die geeigneten lerntherapeutischen Methoden ausgewählt werden (siehe auch Rollett, 1981).
Die Autorin und der Autor beschreiben die methodischen Probleme eingehend und diskutieren Lösungsansätze und -möglichkeiten (Rollett & Bartram, 1975, S. 94ff.). Ohne diese hier eingehend referieren zu wollen, seien beispielhaft einige Punkte genannt. Sie scheinen auch 45 Jahre später für lerntherapeutische Belange gleichermassen relevant und anregend:
Das wissenschaftliche Grossprojekt steht und fällt mit einer sorgfältigen Diagnostik mit vielfältigen Entscheidungs- und Planungsprozessen – welche «bei möglichst geringen diagnostischen Kosten […] zu möglichst hohem prognostischem Nutzen führen» sollen (a.a.O., S. 94). Sie präsentieren ein Beispiel eines algorithmischen Entscheidungsprozesses: ausgehend vom therapeutischen